Hamburger Flurgespräche sind keine exklusive Angelegenheit: Beim Spiegel spitzt sich die Lage zu, eine mögliche Entscheidung über die Zukunft (von Büchner, dem Magazin) könnte heute fallen. Außerdem: ein Hofgesang auf Gabor Steingart. Und: was sich nicht über deutsches Fernsehen sagen lässt.
Die Spiegel-Mitarbeiter KG hat Wolfgang Büchner als nächsten Kandidaten für die Ice Bucket Challenge nominiert – und der Chefredakteur nahm die Herausforderung an. Auf Facebook postete er ein Video von seiner Eiswasserdusche: Nur im BH bekleidet und mit zwei männlichen Helfern an der Seite ließ sich der 48-Jährige den Eimer Wasser über den Kopf kippen. Büchner hofft nun auf große Namen beim Nachahmen: Er nominierte Martin Doerry und Klaus Brinkbäumer.
Ach, was wären das für Zeiten, wenn man sich beim Spiegel Meldungen erzählen könnte wie die hier von stern.de (in der wir Helene Fischer durch Wolfgang Büchner ersetzt haben).
Tatsächlich sind die Herausforderungen an der sog. Ericusspitze in diesen Tagen andere. Und für Dramatik braucht man kaum zu sorgen, sie schafft sich von selbst ran, wenn man so genau informiert ist wie Michael Hanfeld in der FAZ:
"225 Redakteure des Magazins und eine ganze Reihe von Mitarbeitern aus der Dokumentation und den Sekretariaten fordern die Vertreter der Mitarbeiter KG auf, beim Treffen der Gesellschafter am morgigen Freitag den Plan des Chefredakteurs Wolfgang Büchner für einen 'Spiegel 3.0' abzulehnen. Der Gesamtbetriebsrat fordert dies auch."
Der morgige Freitag ist der heutige (es ist die Online-Variante von Hanfelds Text, die sich ein wenig von der Druckversion unterscheidet). In dieser Wahrnehmung steht alles auf Entscheidung:
"Lehnen die Gesellschafter dieses [Büchners Vorschlag, AP] am Freitag ab, wären damit auch die Tage des Chefredakteurs Büchner gezählt, er müsste gehen. Die Revolte eines Großteils der Print-Redakteure – die 'Spiegel Onliner' denken zumeist ganz anders – hätte Erfolg gehabt."
Die Süddeutsche, die gestern (siehe Altpapier) ausführlich berichtet hatte, begnügt sich heute – allerdings nicht weniger dramatisch:
"Vieles deutet darauf hin, dass bei einer am Freitag anstehenden Gesellschafterversammlung die Entscheidung vertagt werden könnte. Gesellschafter sind die Mitarbeiter KG (50,5 Prozent), Gruner + Jahr (25,5) und die Augstein-Erben (24). Entscheidend dürfte sein, mit welcher Position die KG-Vertreter in die Runde gehen."
Notieren Kristina Läsker und Claudia Tieschky auf Seite 35.
Die Fraktionen in der Belegschaft beschreibt Hanfeld übrigens so:
"Es heißt vielmehr: Redakteure des gedruckten Magazins gegen (finanziell und machtpolitisch sehr viel schlechter gestellte) Redakteure von 'Spiegel Online' und gegen Mitarbeiter des Verlags. Es sind mindestens drei Fraktionen, und die Fraktionsbildung verläuft auch nicht geschlossen."
Die Unentschiedenheit der fünfköpfigen Mitarbeiter KG ist derweil unter den gut durchberichteten Spiegel-Interna common sense. Ulrike Simon in der Berliner:
"Offen ist, wie sich die fünfköpfige KG-Spitze verhalten wird. Zwei sind dagegen, zwei dafür, einer überlegt noch."
Für die Freunde des Kleingedruckten ist vielleicht nicht uninteressant, wie dieses Patt wiederum mit dem Zufall verknüpft ist. Weiter oben schreibt Simon nämlich:
"Mit 'Bildung', 'Zeitgeschichte' und 'Netzwelt' kündigte Büchner neue Ressorts an. Andere sollen zusammengelegt werden: 'Deutschland 2' mit 'Panorama', 'Gesellschaft' mit 'Storytelling', die Kultur mit dem Kultur-Spiegel. Als Chefin von Letzterem soll dem Vernehmen nach Marianne Wellershoff vorgesehen sein. Sie ist Geschäftsführerin der Mitarbeiter KG, der die Hälfte des Verlags gehört, und unterstützt Büchner."
Jene Marianne Wellershoff, die ihre jetzige Geschäftsführerinnenrolle in der Mitarbeiter KG dem Losglück verdankt
"Die beiden amtierenden Geschäftsführer (Wirtschaftsressortleiter Armin Mahler und 'Kultur Spiegel'-Chefin Marianne Wellershoff) haben weniger Stimmen erhalten, und außerdem gleich viel. In diesem Fall sieht die KG-Satzung das Losverfahren vor – das Wellershoff gewonnen hat."
Schrieb Horizonts Roland Pimpl im Februar 2013. Für die Freunde einer kontrafaktischen Geschichtsschreibung (Was wäre geschehen, wenn Hitler den Bürgerbräukeller am 8. November 1939 nicht 21.07 Uhr verlassen hätte?) liegt da einiges an Thrill begraben: Hätte das Los seinerzeit zugunsten von Armin Mahler, dem Wirtschaftsressortleiter (dessen Los nach dem Büchner-Modell zumindest in Frage steht), entschieden, dann wären in der Mitarbeiter KG jetzt vermutlich drei dagegen, eine/r dafür, einer unentschieden und die Sache klarer.
Zu einem noch zu definierenden Subgenre ("Gaga-Irrealis"?) der kontrafaktischen Geschichte ist die Auflistung von möglichen (oder vielmehr eben: unmöglichen) Nachfolgern Büchners als Chefredakteur zu rechnen, die der auf seine Weise einzigartige Stefan Winterbauer, "Autor und Mitglied der Chefredaktion" bei Meedia.de erstellt hat.
Das Lustigste an der Liste ist, wie Gabor Steingart in das Pseudo-Kandidaten-Tableau (Augstein, Anne Will, Wolfgang Blau, Tichy, Müller von Blumencron, Doerry/Brinkbäumer) integriert wird. Der ist, weil Meedia.de zur VHB (Verlagsgruppe Handelsblatt) gehört, ja Winterbauers Oberboss – und jetzt versuchen Sie mal diese Abhängigkeit in so einem locker-flockigen Format zu performen!
Man kann als Subalterner ja schlecht sagen, dass der eigene Chef nicht geeignet ist, weil er – das nur als Beispiel und keineswegs auf Steingart gemünzt – ein asozialer, eitler Fatzke ist, ein fauler Sack, der auf Kriegsfuß mit der deutschen Sprache steht. Wenn Steingart aber gar keine Schwäche hätte, wäre er in so einem Prüf-Check-Name-Drop-Text aber automatisch der am besten geeignete Kandidat, was ja a) wieder total selbstlobend klingt und b) auch hypertroph wäre – dass Winterbauer mal eben den Chef weglobt. Kurz, es ist heiter, deshalb in aller Ausführlichkeit: Angestelltenprosa aka Hofgesang im frühen 21. Jahrhundert:
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"Der Herausgeber des Handelsblatt war früher beim Spiegel Kronprinz unter Stefan Aust. Allerdings galt bei ihm das Motto: 'Viel Feind, viel Ehr’'. In der Mitarbeiter KG und in der Redaktion knirschen heute immer noch einige mit den Zähnen, wenn sie den Namen Steingart hören. Fachlich hätte er es wohl drauf und auch was Digital-Konzepte angeht, hat er bei der VHB einiges ins Rollen gebracht, seinen Mail-Newsletter 'Morning Briefing' etwa oder die Bezahl-App 'Handelsblatt Live'. Mit Widerständen in der Redaktion könnte Steingart vermutlich umgehen, gegen seine Berufung spricht allerdings, dass er bei der Verlagsgruppe Handelsblatt zu Fest im Sattel sitzt. Schon beim letzten Spiegel-Chef-Karussell ließ er ungefragt ausrichten, dass er kein Interesse hat. Als Herausgeber und eine Art Junior-Verleger schwebt er bei der VHB über dem Tagesgeschäft. Dass er dies aufgibt, um in die Schlangengrube Spiegel hinabzusteigen – extrem unwahrscheinlich."
Zurück in die Realität. Dass High Noon in Hamburg schon entschieden wäre, lässt sich nicht sagen. Zwar steht der Auftrieb unter den Mitarbeitern im Mittelpunkt der meisten Berichte, also auch in dem von Tatjana Kerschbaumer im TSP:
"Unter den Redakteuren in Hamburg kursierten am Donnerstag bereits mehrere Unterschriftenlisten, auf denen für einen Streik votiert wurde – falls die KG Büchners Vorhaben zustimmen sollte. 'Ständig werden irgendwelche Konferenzen einberufen und dann wieder verschoben', schilderte ein Mitarbeiter die Situation innerhalb der Redaktion."
Und genauso zwar ist das Urteil über Büchners Defizite schon Legion. Frank Olbert im KSTA:
Als Chefredakteur fehle es ihm an politischer Vision, als Blattmacher an Inspiration, und als Schreiber empfinden ihn viele als unzulänglich."
Es dringen aber auch Urteile nach außen, wie sie Daland Segler in seinem FR-Text zitiert:
"Es werde schon seit Monaten an einem Konzept zur Zukunft von Print und online gewerkelt, heißt es, und die Mehrheitsverhältnisse der fünf KG-Mitarbeiter in der Causa Büchner seien auch nicht klar. Der Chefredakteur habe sich offensichtlich gut überlegt, ob er den Machtkampf gewinnen kann, meint ein Redakteur, der Büchner 'Nervenstärke' bescheinigt: 'Das ist ein Steher.'"
Kurz, wir werden sehen.
+++ Und damit dieses Altpapier online steht, bevor es von ersten Twittermeldungen aus Hamburg auf der nie so genannten Aktualitätsautobahn überholt werden kann, fix der Rest. +++ Die Funkkorrespondenz widmet ihr ganzes Heft dem Thema "Medienevolution", hervorgegangen aus einer Konferenz. Darin Katrin Passig etwa sehr schön über eigene Irrtümer: "2009 habe ich einen Artikel über falsche Vorhersagen geschrieben. Er heißt wie das Buch, in dem er Anfang 2013 abgedruckt wurde: 'Standardsituationen der Technologiekritik'. Es war ein leidlich lustiger Text, der bis heute oft zitiert wird. Leider ist er ganz falsch. Das ist noch ein bisschen ungünstiger, weil das Buch gerade erst erschienen ist. Es ist eine Essaysammlung, und jetzt gehen die Leute davon aus, dass der Text meine aktuelle Meinung wiedergibt, was nicht stimmt. Technikoptimisten mögen den Text, weil er Skeptiker blöd aussehen lässt. Es ist immer schön, wenn irgendwas andere Leute blöd aussehen lässt. Man kann sich ganz leicht über Vorhersagen im Allgemeinen lustig machen und in diese Falle bin ich hineingetappt." +++ So viel Größe ist von Springers heißen Blättern freilich nicht zu erwarten. Immerhin, die Bums-BamS muss sich jetzt entschuldigen für eine "bedauerliche Verwechslung", wie Bildblog unter der haarsträubenden Geschichte von der Jagd auf den "Manga-Killer" nachträgt. +++
+++ Markus Ehrenberg verfolgt im Tagesspiegel den Umgang des Fernsehens mit dem Enthauptungsvideo Foleys. +++ Cigdem Akyol macht sich in der TAZ aus Erbil Gedanken im weiteren Sinne zu diesem Thema: "Sie fliehen in das karge Sindschar-Gebirge, weil sie eigenen Schilderungen zufolge Massenexekution miterlebten, und als sie morgens aufstanden, waren die Köpfe der Opfer am Stadtrand am Zaun aufgespießt. Aber anscheinend brauchte es erst einen ermordeten Fotografen, um wirklich jedem zu verdeutlichen, wie unberechenbar die IS ist. ... es bleibt der bittere Nachgeschmack, dass Leben ausländischer Journalisten mehr wert sind als die der Einheimischen." +++
+++ Die Empörung von Ljuba Naminova in der TAZ über russische Propaganda lässt sich sicherlich verstehen, sie klingt aber ein bisschen schräg ("Russische Fernsehkanäle machen mit ihrer Propaganda jetzt auch vor Kindern nicht mehr halt"), was man schon daran sehen kann, dass der Hitler-Vergleich hier noch als Argument zu taugen scheint: "Der russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow nannte das Kremlfernsehen daraufhin 'schlimmer als die Propaganda Joseph Goebbels' unter Adolf Hitler'". +++ Ein strangen Fall von journalistischer Distanz schildert Boris Rosenkranz im Niggemeier-Blog. +++
+++ Zum Fernsehen: Eine schöne dpa-Meldung über die fasziniernd unverwüstliche Lage bei RTL findet sich im TSP: "Der Start des US-Anbieters Netflix auf dem deutschen Markt im September bereite ihr dennoch keine Sorgen, sagte Schäferkordt weiter. Zumindest nicht, was das Sehverhalten der RTL-Zuschauer angehe. Der US-Markt sei nicht mit Deutschland zu vergleichen... Nach einem Gewinneinbruch im ersten Halbjahr hat der Fernsehkonzern RTL Group seine Prognosen gesenkt." +++ Aus dem gestern gedruckten, heute online veröffentlichten "Mad Men"-Erfinder-Weiner-Interview in der FAZ kann man weiterhin Sätze zitieren, die hierzulande keiner sagen kann: "Ich fing an, intuitiv zu schreiben, und ich verinnerlichte vor allem, dass wir niemals, wirklich niemals unser Publikum unterschätzen sollen. Es für dümmer halten als uns selbst. Mach die Dinge bloß nicht einfacher, weil du die Leute für nicht so clever wie dich hältst!" +++ Noch mehr Unterschiede in Jens Mayers TAZ-Text über Orkun Erteners Roman: "Anders als US-Kollegen wie Nic Pizzolatto, Schöpfer der TV-Serie "True Detective", dessen Roman 'Galveston' gerade auch in Deutschland veröffentlicht wurde, scheinen sich deutsche TV-Autoren ihre künstlerische Anerkennung und Freiheit durch Literaturveröffentlichungen abseits ihrer Fernseharbeit erkämpfen zu müssen." +++ Und noch einen: Thomas Lückerath auf dwdl.de über HBOs Programmchef Mike Lombardo: "Woher kommt dieser Erfolg? Eine Frage, die Lombardo ohne lange Überlegung beantwortet: 'Es geht um die Drehbücher. Niemand schaut einen herausragenden Schauspieler in einer schlechten Rolle in schlechten Geschichten.' Und gerade in Zeiten, in denen das Kino sich scheinbar auf Mainstream, auf Fortsetzungen, Remakes und Event-Charakter konzentriert, unterscheide sich Fernsehen immer deutlicher durch bessere Drehbücher." +++
+++ Constanze Kurz in der FAZ (Seite 9) mit einer gravierenden Kritik an des Innenministers Digital-Agenda: "Wenn man eine Risikobewertung vornimmt und den potentesten Angreifer ausblendet, hat das ohne Zweifel politische Gründe. Da ist es wohl nur logisch, dass im Zuge der IT-Sicherheitsgesetzgebung auch dem hiesigen Geheimdienstapparat ein paar neue Planstellen zugeschustert werden sollen." +++
Neues Altpapier gibt's Montag wieder.