Echtzeitjournalismus als Atombombe

Echtzeitjournalismus als Atombombe

Claus Klebers Strafgericht. Journalistisches Übermenschentum. Die Logik der Onlineökonomie. Die Printzeitungs-Misere. Ein Besuch im Ein-Euro-Shop, ein iTunes für Journalismus. Außerdem: der Urvater des Hoodiejournalismus.

Debatten werden nicht abgeschlossen, sondern verdrängt. Heute schnellt eine frische auf die Tagesordnung, entfacht von einem Großmeister des Debattenentfesselns, und lässt die um den Hoodiejournalismus (ein guter Beitrag findet hier weiter unten noch Erwähnung) nach unten rutschen. "Journalistisches Übermenschentum" dürfte das stärkste Reizwort des initialen Beitrags sein. Genauer schreibt Frank Schirrmacher, der sich u.a. dagegen wendet, immer nur die stärkste Reize aus Kontexten zu isolieren, auf der ersten Seite des FAZ-Feuilletons:

"Diese Inquisition, die auch in ihrem nur dem Remmidemmi verpflichteten Desinteresse daran, was [Joe] Kaeser von [Wladimir] Putin denn gehört haben könnte, alles in den Schatten stellt, was man an Vaterlandsverratsrhetorik aus dem wirklichen Kalten Krieg kannte, ist überhaupt nur als Symptom journalistischen Übermenschentums diskutierbar und wird dadurch allerdings auch über den peinlichen Anlass hinaus interessant."

"Diese Inquisition", das ist dieses "heute-journal"-Interview, das Claus Kleber am Mittwochabend mit dem Vorstandsvorsitzenden der Siemens AG, Joe Kaeser, geführt hat bzw. "wie ein Strafgericht" über diesen hereinbrechen ließ, weil Kaeser gerade in Moskau gewesen war. Schirrmacher hat sich über Klebers Interviewführung geärgert und nennt auch Gründe dafür, doch:

"Es nutzt gar nichts, Klebers High Noon inhaltlich zu debattieren. Der Nachrichtenwert ist gleich null, der formale Wert ungleich höher. ... ... [Es] entsteht eine permanente Echtzeit-Erzählung, in der das Herz gleichsam unablässig im Kriegs- und Erregungsmodus tickt. Formal ist nicht zu unterscheiden, ob es da um Uli Hoeneß, den Konflikt auf der Krim oder den heroischen Verteidigungskampf von Ritter Sport gegen die Sanktionen der Stiftung Warentest geht."

Was debattiert zu werden dagegen nutzen würde: der Echtzeitjournalismus ("ist schneller als die Reaktionszeit für einen Atomangriff", "wird dadurch zur Waffe") und "die neue automatisierte Medienökonomie". Vielleicht nicht nur rhetorisch, sondern auch ernster gemeint fordert Schirrmacher:

"Wer Zeitpuffer für Hochgeschwindkeitsbörsen verlangt, sollte nach den jüngsten Erfahrungen auch über solche für Nachrichtenbörsen nachdenken."

Dass er sozusagen alarmistisch Alarmismus kritisiert, wer möchte das kritisieren? Täte er es unalarmistisch, wer würde drauf eingehen?

"Nach der Logik der Onlineökonomie ist der Inhalt eines Artikels völlig egal, solange er sich im Wettbewerb durchetzen kann. Relevant ist die Reichweite des einzelnen Artikels und nicht mehr, wie früher, etwa die Vertriebserlöse des Gesamtprodukts Zeitung. Das Misstrauen gegen die Massenmedien befördert somit heute vor allem deren schon immer vorhandene Skandalisierungsneigung. Abgewogene Artikel, oder solche, die sich auf Berichterstattung und Einordnung beschränken, werden nicht in gleicher Weise gelesen."

Schreibt nun nicht Schirrmacher, sondern schrieb zuvor schon Frank Lübberding (wiesaussieht.de), der es natürlich nicht gegen Schirrmacher richtet. Sicher schreibt er abgewogener, aber er gibt ja auch keine siebenmal pro Woche erscheinende Kaufzeitung heraus. Diese Logik der Onlineökonomie ist jedenfalls guter Hintergrund, um zu den Tagesgeschäften der Medien überzugehen.

####LINKS####

[+++] Die Tagesgeschäfte sind: Geschäftsstellenschließungen, Geschäftszahlen-Analyse, Geschäftsideen-Kritik.  

Eine weitere Tageszeitung macht diverse Filialen ziemlich dicht. Es ist schon wieder eine nordrhein-westfälische.

"Nach Informationen von Newsroom.de wird die Redaktion halbiert, von 100 Mitarbeitern sollen 50 das Haus verlassen. Darunter werden aber nicht nur Redakteure fallen (...), sondern auch Mitarbeiter, die redaktionsnahe Tätigkeiten ausüben oder die Redaktion unterstützen (Sekretariat, etc.)",

schreibt der in dieser Region und diesen Dingen oft gut informierte Bülend Ürük also bei newsroom.de. Es geht um die Westdeutsche Zeitung aus dem Girardet-Verlag, die in und um Düsseldorf und Wuppertal erscheint. In Regionen also, das ist der Punkt, in denen überwiegend auch noch andere lokale Tageszeitungen erscheinen. Dass Mantelteile künftig eingekauft werden sollen, laut newsroom.de aus Aachen, gehört zum Plan, den das Gewerkschaftsmagazin journalist schon kommen gesehen hatte.

[+++] Geschäftszahlen-Analyse: "Gruner + Jahr schafft Wende" (BLZ/ DPA) bzw. "schreibt wieder schwarze Zahlen" (dwdl.de) bzw.: "Eine Überraschung sind die schlechten Zahlen nicht", und die G+J-Chefin Julia Jäkel "zeigt sich trotz Umsatzrückgangs optimistisch" (horizont.net). Sich pessimistisch zeigenden Unternehmenslenkern begegnet man freilich selten, zumal wenn es um Ausblicke in die Zunkunft der von ihnen geleiteten Unternehmen geht. "Gemessen an den jetzt veröffentlichten Zahlen befindet sich der Medienkonzern im stetigen Sinkflug", leitet bei meedia.de Georg Altrogge, der schon insofern Experte ist, als dass er zeitweise selbst beim Gruner geschafft hat, wenngleich nicht gerade lange, eine empathisch hin und hergerissene Analyse ein. Das Geheimnis der schwarzen Zahlen jedenfalls:

"Mit der Einstellung der dauerdefizitären Financial Times Deutschland, vor der die vorherigen CEOs jahrelang gegen besseres Wissen zurückschreckten, hat sich der Verlag unter Jäkel einen Klotz vom Bein geschafft. "

Wenn Sie dazu eine Prophezeiung lesen möchten, wohin die Reise solcher Verlagskonzerne wohl geht und vor allem nicht geht: Jens Rehländer, einst Redakteur und Online-Redaktionsleiter der G+J-Zeitschrift Geo, inzwischen "verantwortet er die Kommunikation der VolkswagenStiftung", hat für Carta aufgeschrieben, "warum Großverlage keine Innovation können". Rehländers Ratschläge wie "No risk, no fun" sind keine brandheißen Geheimtipps, aber vielleicht mag er so ein Zeitschriftenkonzept ja mal bei G+Js Corporate-Sparte in Auftrag geben ...

Von einer mindestens anfechtbaren Geschäftsidee des Handelsblatts könnten Sie am Mittwoch im Altpapierkorb gelesen haben. Im Blog lead-digital.de schrieb Christian Faltin, "Mitinhaber der PR-Agentur Cocodibu, die u.a. für die deutsche Huffington Post arbeitet", dass Kunden sich in die Zeitungsrubrik "Leser stellen sich vor" "für 5000 Euro ... einkaufen" könnten.

Wie das Handelsblatt (für dessen Onlineauftritt ich gelegentlich Talkshowkritiken schreibe) nun reagiert hat, macht die Sache nicht besser:

"Gegenüber W&V spricht die Verlagsgruppe Handelsblatt vom 'Fehler eines Außendienstmitarbeiters'. Der Mann sei erst seit Anfang des Jahres im Verlag und habe etwas durcheinandergebracht. 5000 Euro nehme die VHB nur, wenn ein porträtierter Leser nach Erscheinen des Artikels für drei Jahre die Nutzungsrechte daran erwerbe."

"Die Ausreden des ertappten Verlags sind erbärmlich", meint turi2.de in ungewohnter Schärfe, die sich freilich auch ein wenig gegen einen von der Verlagsgruppe Handelsblatt besessenen Mitbewerber richtet.

[+++] Damit zurück zur Logik der Onlineökonomie:

"Es gibt im Internet einfach so viele Möglichkeiten, Leute mit deutlich weniger Aufwand auf eine Webseite zu locken als mit Journalismus. Und den Unternehmen, die die Anzeigen schalten, ist es egal, auf was für einer Webseite sie das machen. Wichtig ist für sie, wie viele Leute draufklicken und dann was bei ihnen kaufen",

schreibt im schon angekündigten doch noch instruktiven Beitrag zur Hoodiejournalismus-Debatte Sebastian Heiser. Im TAZ-Hausblog erweist er noch mal dem erfolgreichen Debatten-Entfacher oder wenigstens -Verstärker Harald Staun, auf dessen Rolle ja auch schon der erwähnte Jens Rehländer verwiesen hatte, Re­ve­renz (wobei man Staun womöglich Unrecht tut, wenn man Heisers Satz, dass es "nicht sehr schwierig ist, pro Woche eine Zeitungsseite mit Medienthemen zu betreuen, wenn man dafür vollzeit angestellt ist, lieber Harald Staun" aus dem Kontext isoliert):

"Ein richtiger Journalist ist für Staun offenbar nur, wer beste Qualität produziert und dafür viel Geld verlangt. Ich finde diese Bemerkung fies und unfair. Wenn ich in einen Ein-Euro-Shop gehe, dann sage ich den Leuten dort ja auch nicht, sie seien keine richtigen Verkäufer",

schreibt Heiser und geht dann in einen Ein-Euro-Shop, um der Logik der Ökonomien nachzuspüren.

Dazu passend informiert auf der heutigen TAZ-Medienseite Lan-na Grosse über ein niederländisches Start-up, dessen Idee, zum "iTunes für Journalismus" zu werden, daheim offenbar funktioniert: 

"Die Nutzer können nach der Lektüre entscheiden, ob ein Artikel seinen Preis wert war - und ihn bei Nichtgefallen zurückgeben. Je nach interner Kalkulation werden die meisten Texte voraussichtlich zwischen 10 und 25 Cent kosten. Davon gehen 30 Prozent als Provision an Blendle ..."


Altpapierkorb

+++ Lust auf einen Mega-Grundsatzartikel zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen? Torsten Körner hat für die Funkkorrespondenz bzw. für das jüngste Werkstattgespräch des Grimmepreisfreunde-Vereins einen geschrieben, der über 37.000 Zeichen umfasst, aber gegen Ende auch 22 übersichtlich nummerierte Forderungen enthält, darunter die, das "Aktuelle Sportstudio" abzuschaffen. +++ Chrismon-Leser könnten übrigens wissen, dass Körner sozusagen der Urvater des deutschen Hoodiejournalismus ist. Hier geht's zu seinem Artikel "Mein Kapuzenpullover und ich" von 2012. +++

+++ Zur gestern hier enthaltenen Frage von Schleichwerbung auf Youtube: dwdl.de berichtet, wie Mediakraft, das Unternehmen hinter den der Schleichwerbung bezichtigten Jungs von Y-Titty, "nun gegen die Öffentlich-Rechtlichen" "giftet". +++ "Das geschulte Auge erkennt den Werbecharakter sofort und weiß: Ohne Samsung wären die YouTuber wohl auch nicht auf das Festival gefahren. Doch die große Zuschauerschaft der jungen YouTube-Größen hat keine TV-Erfahrung. Es ist die Generation, für die Portale wie YouTube eine Selbstverständlichkeit geworden sind. Selbstverständlicher als das lineare Fernsehen. Umso mehr größer ist die Glaubwürdigkeit eben dieser YouTube-Stars unter Jugendlichen. Und gerade deswegen braucht es eine Rechtssprechung für einen Markt, in dem es schon lange um mehr als nur Klicks geht und Unternehmen gutes Geld mit ihren jungen Stars verdienen", meint meedia.de.

+++ Das neue Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Themenfeld Netzsperren und kino.to beschäftigt den Tagesspiegel und die TAZ, wo Christian Rath es beschreibt und Markus Beckedahl im Kurzinterview von "einem Einstieg in die Zensur" spricht (oder zumindest die Überschrift so lautet). "Das Urteil birgt das Risiko, als Muster für die Durchsetzung weiterer Sperren zu wirken, die leicht zur Zensur für unliebsame Inhalte werden könnten", heißt's bei netzpolitik.org. +++ "Das Urteil ist sehr viel differenzierter, als es die Warnungen der Internetcommunity vermuten lassen", schreibt Wolfgang Janisch auf der SZ-Medienseite. +++

+++ "Mancher ehemalige und derzeitige ZDF-Kader darf sich selbst fragen, ob er ohne diese grundgesetzwidrige Praxis je an seinen Posten gekommen wäre. So klar und eindeutig diese Bilanz ausfällt, und das markiert die Ambivalenz des Urteils, so kleinteilig und auch fatalistisch fallen die Richtlinien aus, nach denen dem Karlsruher Urteil zufolge zukünftig die Gremien des ZDF zusammengesetzt werden sollen", meint Dietrich Leder in der Funkkorrespondenz zum ZDF-Urteil (siehe Altpapier vom Mittwoch), zu dem er sich auch im Freitag äußert. +++ "Das 14. Rundfunkurteil ist dennoch gelungen, weil es festlegt, was die bisherigen Karlsruher Grundsatzentscheidungen nicht schafften: Eine Staatsquote für die Rundfunkgremien und eine vernünftige Definition, wer als staatsnaher Vertreter gilt. Zudem mahnten die Richter den Gesetzgeber, auch kleinere Gruppen in den Rundfunkräten zu berücksichtigen und nicht nur große, etablierte Verbände. Sie baten den Gesetzgeber, einer 'Versteinerung' der Gremien entgegenzuwirken was könnte dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk besser tun als die Aufweichung verkrusteter Strukturen? Mit dem Urteil sind einige Geburtsfehler des ZDF nach mehr als 50 Jahren beseitigt spät zwar, aber besser als nie...", findet Dominik Speck bei epd medien. +++ Einen Überblick über Berechnungen, ob auch ARD-Gremien zu viele "Staatsnahe" enthalten, um staatsfern zu sein, liefert der Tagesspiegel.

+++ Noch ein Medienthema, das derzeit zirkuliert: wie die Partei namens AfD bzw. deren nordrhein-westfälische Jugendorganisation mit berichtenden Journalisten umgeht. Ursprung dieser Geschichte: ein wiwo.de-Artikel. "Der selbsterklärte Anspruch der AfD als Partei der uneingeschränkten Meinungsfreiheit, des 'Man-wird-ja-wohl-noch-sagen-dürfen', er ist wieder ein Stück weniger glaubhaft geworden", heißt es am Ende. +++

+++ "Zur Wahrheit des Online-Journalismus gehört, dass dem Bedeutungszuwachs oft keine eigene ökonomische Basis entspricht" (Jan Fleischhauer, SPON, auch noch ums Hoodie-Thema). +++ Wo die ökonomische Basis wächst: bei Facebook, wo "Inhalte ohne werbliche, also gekaufte Unterstützung in der Verbreitung hinten an stehen. Bezahlte Posts werden - wie von Google bekannt - höher gerankt und tauchen somit weiter oben im Newsfeed auf. Kurz gesagt: Facebook kappt die Gratisreichweite". Das beklagte eine Nestlé-Vertreterin im Werber-Blatt Horizont. +++

+++ Einen der großen "Selbstvermarkter" unter den freien Journalisten, den umtriebigen Daniel Bröckerhoff, stellt ein schonungslos offenes Interview auf vocer.org vor: "Der Arbeitstag beginnt mit dem Griff zum Handy. Damit verschaffe ich mir einen Überblick: Hat mich irgendjemand gementioned, habe ich irgendwelche Mails, habe ich irgendetwas? Das mache ich tatsächlich alles schon im Bett. ..." +++

+++ Und seltsam voll auf amerikanische Sitcoms setzten heute die Medienseiten von FAZ und SZ. Für die Süddeutsche besuchte Jürgen Schmieder Ed O’Neill ("Eigentlich wollte" er "immer dramatische Rollen spielen, doch das Leben machte ihn zum Komödianten. Als Al Bundy wurde er berühmt, heute gewinnt er mit 'Modern Family' Preise", und davon wird "in der nächsten Woche ... in den USA das Finale der fünften Staffel ausgestrahlt"). +++ Und die FAZ nimmt die letzte Folge von "How I Met Your Mother" ("läuft am Montag in Amerika bei CBS. Pro Sieben zeigt sie im kommenden August") zum Anlass für einen bunten Überblick darüber, "wie ... eigentlich andere große Serien Schluss gemacht" haben. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.

weitere Blogs

In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.
Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?