Unsere Wulffs

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Beinahe wäre Nico Hofmanns Produktion "Der Rücktritt" ein Fall für die Initiative Nachrichtenaufklärung geworden. Aber nur beinahe, puh! Der andere wichtigste deutsche Produzent, Oliver Berben, bekommt auch seinen Share – er will einen Anne-Frank-Film drehen, aber der Anne-Frank-Fonds will das in der geplanten Form nicht ("respektlos"). Und: Warum Sascha Lobos Satz "Das Internet ist kaputt" nicht falsch ist, sondern nur viele Bedeutungsebenen hat.

Schon in 42 Tagen, am 25. Februar, kommt dieses von Nico Hofmann produzierte Sat.1-Dokudrama über Unsere Wulffs ins Fernsehen, "Der Rücktritt". Da ist es ja sonnenklar, dass man Mitte Januar endlich mal begeistert die Aufmacherplätze der Medienseiten darüber vollschreiben muss. Die letzten größeren Texte stammen schließlich aus dem bereits zwei Monate zurückliegenden November; damals wurde ein ausführlicher Filmausschnitt der Öffentlichkeit vorgestellt ("Der rund zweieinhalb Minuten lange Trailer zeigt eine Schlüsselszene"Focus Online).

So wäre das Sat.1-Dokudrama um ein Haar ein Fall für die Initiative Nachrichtenaufklärung geworden, gäbe es nicht heute Textnachschub – gerade noch rechtzeitig für, ja, für was?

"Wenn der Sender dieser Tage zum 'Screening' seines 'TV-Events' in einem Hamburger In-Hotel lädt, zur ersten Pressevorführung also, dann ist man auf das Schlimmste gefasst."

Schreibt die heutige SZ erstmal. Aber wenn man auf das Schlimmste gefasst ist, kann man anschließend umso positiver überrascht werden, das ist ja das Tolle an Stilmitteln:

"So ist es am Ende ein Film geworden, dessen Atmosphäre sich langsam aufbaut, bis sie den Zuschauer irgendwann tatsächlich gepackt hat, ganz ohne Sexszene übrigens."

Michael Hanfeld von der FAZ findet und macht speziell Autor und Regisseur Thomas Schadt dafür verantwortlich (der erstens vom Helmut-Kohl-Kenner Jan Fleischhauer beraten werde und zweitens schon "Der Mann aus der Pfalz" über Helmut Kohl machte, wobei ein möglicher Zusammenhang heute nicht hergestellt wird):

"Zu dem, was davor geschah, liefert dieser Film einen sehr diskussionswürdigen Beitrag."

Womöglich ist der Film also sehenswert. Aber würde der Wind nicht so gut wie immer derart tornadomäßig blasen, wenn Nico Hofmann am Ventilator sitzt, würde sich der Zweifel viel weniger angebracht anfühlen.

+++ Zwei Beispiele für juristischen Ärger gibt es heute, den man zumindest potenziell kriegen kann, wenn man einen Film dreht. Eines der Beispiele ist wiederum "Der Rücktritt". Es sei "ein Film 'mit hohem Risiko'", wurde Hofmann im November vom Tagesspiegel zitiert. "Er habe zuvor noch keinen Film produziert, bei dem sich so viele Menschen über ihre Anwälte bei ihm gemeldet hätten"; er "gibt zu, dass es diverse Schreiben an die Produktionsfirma gab." Die Formulierung ist toll, und heute taucht sie wieder auf, in der SZ:

"Mag sein, dass Wulffs Anwälte klagen werden gegen die privaten Passagen, es gebe da 'drei, vier Einflugschneisen', gibt Produzent Nico Hofmann zu. Andererseits habe man sich ziemlich gut abgesichert".

Das Verb "zugeben" ist ein lustiges Wort in diesem Zusammenhang, hat es hier doch die Bedeutung "Interesse schüren".

Das zweite Beispiel betrifft die geplante Verfilmung von Anne Franks Leben durch das ZDF und den anderen wichtigsten deutschen Fernsehproduzent, Oliver Berben: Der plane den Film nämlich, ohne die Rechte an Franks Tagebuch erstanden zu haben, berichten wiederum SZ (groß, online mit Stellungnahme und Erwiderung im Wortlaut) und FAZ (Meldung) sowie Zeit.de. Der Anne-Frank-Fonds habe, so die SZ,

"kein Verständnis dafür, dass das ZDF Jahrzehnte lang dem Thema der Frankfurter Familie Frank kaum Beachtung schenkte und nun plötzlich verkündet, (. . .) einen Film über Anne Frank zu produzieren. Das verstößt nicht nur gegen Fairness und Anstand, sondern stellt ein respektloses Verhalten einer im Holocaust weitgehend vernichteten Familie dar".

Dass der Fonds selbst eine Verfilmung plane, über die das ZDF informiert gewesen sein soll, erhöht das Konfliktpotenzial.

####LINKS####

+++ Auf einer weiteren Großbaustelle des Tages wird Sascha Lobos FAS-Feuilleton bearbeitet, gestern hier kurz erwähnt. Es gibt darauf Reaktionen in der Größenordnung "zahlreich". Der Text hat ziemlich genau folgendes Thema:

"Jede Verteidigung sozialer Netzwerke etwa – auch ich habe das oft getan – muss nachträglich ergänzt werden um die Tatsache, dass soziale Netzwerke auch ein perfektes Instrument sind, um einen Sog privatester Informationen ins Internet zu erzeugen. Und damit zur Überwachung."

Was sich einwenden lässt gegen Lobos Text, ist der Blues. "Der Internet-Blues ist gerade hep, es rilkt allüberall herum: Du musst dein Leben ändern", schreibt Günter Hack, der letztlich einwendet: Es ist eigentlich alles wie 2004, man müsse sich als politisch am Internet interessierter Mensch immer noch mit  1.  Netznautralität, 2. verdachtsunabhängiger Massenüberwachung, 3. der Lösung der leidigen Urheberrechtsproblemen und 4. u.a. offe nen Standards beschäftigen. In diesem Anti-Resignations-Kontext kann man auch den Tagesspiegel lesen, der die Vorratsdatenspeicherung einen Schaden für die Pressefreiheit nennt.

Hier soll es aber jetzt mal nur um einen Satz aus Lobos Text gehen (der eigentlich gar nicht vollständig zitiert ist). Er ist genial und lautet: "Das Internet ist kaputt". Das stimmt natürlich nicht, erwidern diverse Erwiderer, die natürlich alle auch irgendwie Recht haben:  "Wenn etwas kaputt ist, dann der Mensch samt seiner ausufernden Sicherheitsbedürfnisse, die den Geheimdiensten und Politikern erst als Grundlage für ihr Handeln dienen" (Martin Weigert). "Das Internet, die digitale Technik, ist (...) weder gut noch schlecht (noch kaputt)" (Markus Hesselmann). "Eine Infrastruktur wird benutzt. Von Menschen. Wenn überhaupt, dann sind die kaputt und nicht die Technologie" (Patrick Breitenbach). "Das Internet ist kaputt? Das Internet gibt es nicht. Zumindest nicht als totalitäre Entität" (Jürgen Kuri).

Nur: "Das Internet" als Summe der darin stattfindenden Interaktionen und, wie in diesem Fall gemeint, das Internet als Projektionsraum gibt es sehr wohl. Der Satz "Das Internet ist kaputt" ist nicht falsch, er hat nur sehr viele Bedeutungsebenen. Allein die Stilmittel, die darin stecken:
eine Personifikation (das Internet, die alte Nuss)
eine Metapher (das Internet als defekte Glühbirne),
ein Archaismus ("kaputt" ist veraltet für einen 404er oder 503er),
ein Pleonasmus (war das Internet jemals nicht kaputt?),
ein Euphemismus (es ist nicht kaputt, sondern total am Arsch),
und eine Tautologie ("Internet" ist unter 1&1-, Alice- und Vodafone-Kunden ein gebräuchliches Synonym für "kaputt").

Eine Hyperbel ist es obendrein: Das Internet ist nämlich gar nicht wirklich kaputt, wie man leicht herausfinden kann, wenn man eine Liste mit rhetorischen Mitteln sucht.

Update 10:21 Uhr: Carta mit dieser handfesten Deutung:

"Sascha Lobo will trotz Büßerhemd weder Renegat noch Dissident sein. Er will einfach so weitermachen! Das ist die Schwäche des Textes (dem ich in der Analyse zustimme). Im Grunde wiederholt er, was bald zwei Jahre zuvor (15 Monate vor Snowden!!) Julian Assange, Jacob Appelbaum, Jeremy Zimmermann und Andy Müller-Maguhn in einem Gespräch über das Internet geäußert haben: dass es in Wahrheit 'eine riesige Spionagemaschine' sei. Lobo wiederholt diese Einschätzung – sieben Monate nach Snowden! – und entzündet am Ende seines Bekenntnisses doch wieder ein frommes Lichtlein der Hoffnung: Wir müssen, verkündet er der Gemeinde, einen neuen 'Internet-Optimismus' entwickeln. Na toll! Worauf gründet er den? Gibt er irgendeinen konkreten Hinweis? Nein."


ALTPAPIERKORB

+++ Faz.net-Chef Mathias Müller von Blumencron schreibt heute auf Seite 1 der FAZ über das Netz, als wäre er schon seit Jahrzehnten bei dieser Zeitung: "Die Verbindungen, die das Netz zwischen den großen und kleinen Stars schafft, sind flüchtig, der Ruhm ist es auch. Und so wie im Netz haben sich die Aufstieg-Absturz-Zyklen allerorten rasant beschleunigt." Es folgen die Beispiele: Guttenbergs und Piratenpartei. "Geholfen hat das Netz vor allem jenen, denen eine Illusion genügt, um sich wohler zu fühlen. Vermeintliche Nähe zur Prominenz. Freunde, die keine sind. Gespielte Fürsorge, der keine Hilfe folgt. Nur eins hat das Netz bisher nicht geschafft: ein Platz zu werden für Menschen, die in sich ruhen, die eins sind mit sich selbst. Auch das war mal ein irdisches Ideal" +++

+++ Zu Sascha Lobos Text noch einmal: Von Sigmund Freuds "drei Kränkungen der Menschheit" bis zur Erkenntnis, dass Klügerwerden durch die Geschichte keinen Spaß mache, stand mancher Gedanke, der sich darin findet, auch schon im Tagesspiegel, worauf der Tagesspiegel hinweist. Aber: "Sascha Lobo versichert uns, dass er den Text nicht kannte. Wir glauben ihm das" – mittels einer sich selbst verneinender Bejahung also. "Wir glauben ihm das" bedeutet auch: "Aber Sie können wir nicht am Zweifeln hindern" +++

+++ Zur "Millionärswahl" von ProSieben und Sat.1. Die News von Montagmorgen (DWDL): "Statt der geplanten sechs weiteren Live-Shows mit dem Finale am 31. Januar wird es nur noch zwei weitere Sendungen geben – und die sehen völlig anders aus als geplant." (Siehe auch DPA/Berliner Zeitung und Tagesspiegel) +++ Tja: "Solche Dinge passieren, wenn man kein fertiges und im Ausland vielfach getestetes Format einkauft, sondern eine eigene Idee hat und daraus eine Show bastelt. Fernsehkritiker fordern die ganze Zeit, dass das deutsche Fernsehen nicht immer auf Nummer sicher gehen und auch einmal etwas wagen soll. Wer viel wagt, kann so richtig spektakulär scheitern", bloggt Stefan Niggemeier, der die Show kürzlich in der FAS einigermaßen euphorisch angekündigt hatte. Sein Fazit klingt dann so ähnlich wie Peer Schaders im Stern-Blog: "Die 'Millionärswahl' war ein Versuch von Pro Sieben und Sat.1, sich einmal nicht bloß bei Konzepten zu bedienen, die schon im Ausland erfolgreich sind. Das hat nicht funktioniert. Kein Grund zur Schadenfreude. Die Kosten für das Spektakel, auf denen die Sender nun sitzen bleiben, werden es dem nächsten aus Deutschland stammenden Konzpt schon schwer genug machen, überhaupt eine Chance zu kriegen. Übertriebener Spott wird die Situation nur verschlimmern. (...) Nur wer Flops riskiert, produziert auch Erfolge" +++ Das wissen auch die erfinderischen Geister vom US-Fernsehen +++

+++ "Eine ungehemmte und unreflektierte Diversifikation von Zeitungsverlagen in das Handelsgeschäft birgt nicht nur die Gefahr des schleichenden Ausstiegs aus dem redaktionellen Betrieb: Nebengeschäften – hier netzbasierten Plattformen für Handel und Dienstleistungen, betrieben von auf Unabhängigkeit und publizistischer Linie fußenden Verlagen – liegen vorprogrammierte, innerbetriebliche Interessenkonflikte zugrunde. Auf Gewinn ausgerichteter Eigennutz ist das sinnleitende Paradigma." Jan Krone bei Carta +++

+++ "Der Umblätterer" hat seine Feuilletons des Jahres gewählt, ernannt oder jedenfalls veröffentlicht +++ Talkshowpersonalia: Jauch bleibt (Tagesspiegel) +++ Plasberg (aka Hasi83) moniert was (DWDL) +++ Zum Missbrauch von Wikipedia zu PR-Zwecken gibt es eine von Marvin Oppong – gestern im SZ-Feuilletoninterview – erstellte Studie bei der Otto-Brenner-Stiftung, die als pdf zu haben ist  +++ Fritz Molden ist 89-jährig gestorben, die SZ beschreibt ihn im Nachruf als einen "der kreativsten und umtriebigsten Zeitungsmacher Österreichs" +++ Die TAZ schreibt über das indische Magazin Gaysi Zine, das der Queer-Szene eine Stimme gebe, auch nun, da Homosexualität wieder kriminalisiert werde +++

+++ SZ und FAZ machen heute bis in die Fernsehkritiken hinein thematisch fast gleiche Medienseiten: Beide schreiben über die Serienwerdung von John Grishams "Die Firma" (AXN, 20.15 Uhr). Und über "Real Cool Runnings" (Vox) mit Eisschnellläuferin Anni Friesinger, die drei kenianischen Jungsportlern Schlittschuhfahren beibringe, "kontrastverliebten Eurozentrismus" (FAZ) und "Slapstick" (SZ) inklusive +++

Das Altpapier gibt es morgen wieder.

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