Haar in der Suppe gesucht

Haar in der Suppe gesucht

Sind die Nachbetrachtungen zu Thomas Hitzlspergers Coming Out „ambivalent“, gar „verstörend“? Die Frage, ob das Bekenntnis des Ex-DFB-Auswahlkickers daran „erinnert, dass auch wir Journalisten uns immer noch schwer tun mit dem Thema Homosexualität“, steht ebenfalls im Raum. Außerdem: Die Klobürste wird dank der ARD zu einem Widerstandsaccessoire; Journalisten lassen im Umgang mit Pressemitteilungen der Polizei ihre Sorgfaltspflicht vermissen.

Welcher Leitartikler war noch mal dafür verantwortlich, dass man sich darüber freuen durfte, „dass der Shitstorm erfunden wurde“? Das war, es stand vor rund eineinhalb Jahren im Altpapier, Jasper von Altenbockum von der FAZ. Seitdem hat er hart an seinem Ruf gearbeitet, etwa vorgeschlagen, dass Fußball-Ultras sich finanziell beteiligen sollten an den Einsätzen, die die Polizei meint, gegen sie unternehmen zu müssen. Vor ein paar Tagen erst hat er einen Text über „Armutswanderung“ publiziert, dem eine humanitäre Haltung nicht auf den ersten Blick anzumerken war. In Sachen Thomas Hitzlsperger hat von Altenbockum, „verheiratet, drei Kinder“ (FAZ-Kurzbio), nun getan, was ein von Altenbockum tun muss:

„Zu einer Rocky Horror Hitzlsperger Show“ habe sich das Coming Out (ein Begriff, den JVA in Anführungszeichen setzt) des Ex-Nationalspielers entwickelt. In seinem nicht durchweg durch Klarheit bestechenden Beitrag, der (und das darf man wohl für ein Signal halten) in der Printfassung oben rechts auf Seite 1 zu finden ist, verteidigt er „Politiker oder Geistliche oder Eltern, denen Homophobie unterstellt wird, nur weil sie eine abweichende Meinung haben“ (die hier und hier erwähnten Petitionäre sind gemeint), disst Manuela Schwesig  möglicherweise wegen dieser Äußerung und disst auch „die Schwulen- und Lesben-Lobby“. Das Ganze kulminiert in folgendem Finale:

„Es sollte nicht so weit kommen, dass Mut dazu gehört zu sagen: ‚Ich bin heterosexuell, und das ist auch gut so.‘“

von Altenbockum ist also so eine Art inoffizielle deutsche Ein-Mann-Filiale der Tea Party. Sein Schlusssatz ist Ausdruck einer Masche, die viele Journalisten beherrschen: Obwohl man selbst Teil der Mehrheit ist, inszeniert man sich als Teil einer Minderheit. Ulf Poschardt ist auch einer, der dieses Spiel beherrscht, neulich hat er ja in Sachen Schumacher die Ansicht publiziert, dass die Meinung von jenen „geprägt“ sei, die sich für den früheren Formel-1-Weltmeister nicht sonderlich interessieren (Altpapier). Küchenpsychologisch betrachtet, sind Realitätskonstruktionen dieser Art natürlich nicht uninteressant.

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Was zu meckern in der Causa Hitzlsperger hat man aber auch aber am anderen Ende des Meinungsspektrums. Jan Noll, der Chefredakteur der Fachplattform Siegessäule (Untertitel: „das queere Onlinemagazin aus Berlin“), kommentiert:

„Das bei YouTube zum Thema bereitgestellte Interview mit Hitzlsperger (hinterlässt) einen faden Beigeschmack, zeigt es doch deutlich, wie nachhaltig seine Statements zum eigenen Schwulsein von Angst und Vorsicht geprägt sind (...) Wichtig wäre an dieser Stelle einfach ein ganz anderes Statement gewesen: ein schwules Coming-out im Profifußball ist nach wie vor kein Sonntagsspaziergang, sondern vielmehr ein Spießrutenlauf. Hitzlsperger marginalisiert diese Realität und Schwulenfeindlichkeit ganz generell gleich mit.“

Es sind Artikel wie der des Siegessäulen-Chefs, über die sich Nicole Selmer (Ballesterer) ärgert:

„Ja, Hitzlsperger ist kein aktiver Spieler mehr. Er selbst sagt im Videointerview, über ein Coming-out habe er während seiner Profizeit nicht nachgedacht. Daraus abzuleiten, es sei unmöglich gewesen, ist pure Spekulation und schlägt in dieselbe Kerbe wie die immer wieder geäußerten Warnungen heterosexueller Spieler und homosexueller Experten vor einem Coming-out.“

Selmers Fazit:

„Die Betonung des Negativen, die Suche nach dem Haar in der Suppe führt nicht zu mehr Unterstützung für und Solidarität mit homosexuellen Fußballern. Wer heute sagt ‚Aber Hitzlsperger ist ja auch nicht mehr aktiv‘ wird in einigen Monaten oder Jahren, wenn sich der vierte aktive Spieler geoutet hat, sagen: ‚Ja, jetzt, da ist es einfach. Aber damals, der Hitzlsperger, der hat sich was getraut …‘“

Enrico Ippolito (taz) findet:

„Die Inszenierungen, die Reaktionen haben etwas Verstörendes (...) Die Lobhudeleien (sind) zumindest ambivalent.“

Stefan Niggemeier echauffiert sich über eine aus einer Fragenliste bestehende „Artikelattrappe“, die Spiegel Online am Abend des Hitzlsperger-Bekenntnistages ins Netz gestellt stellt hat:

„Kann jemand den Leuten von Spiegel Online die Drogen wegnehmen? Oder wiedergeben?“

Die „Attrappe“ in Sachen Hitzlsperger führt Niggemeier auch einer Frage, die man auch aus anderen Anlässen hätte stellen können:

„Handelt es sich womöglich um einen stillen Hilfeschrei der Redaktion, einen halb verklausulierten Protest gegen das Leben und Arbeiten in diesem Hamsterrad, in dem ununterbrochen neue Artikel, Klickstrecken, Eilmeldungen produziert werden müssen, ganz egal ob etwas passiert ist oder jemand schon zum Nachdenken gekommen ist?

Für süddeutsche.de vergleicht Tobias Dorfer das Bekenntnis Hitzlspergers mit dem der Bundesweltumweltministerin Barbara Hendricks. Letzteres ist seiner Ansicht nach

„das ideale Coming-out: unspektakulär verpackt in einem Nebensatz. Die sexuelle Orientierung einer Ministerin wird, sofern es überhaupt registriert wird, freundlich nickend zur Kenntnis genommen.“

Dorfer weist in seinem Text auch darauf hin, dass jene, die in der aktuellen Coming-Out-Debatte mit dem Begriff „Normalität“ hantieren, ihn möglicherweise in einem sarkastischen, abfälligen oder sonstwie negativ gemeinten Sinne verwenden. Ob auch Jean-Julien Beer, der Chefredakteur des kicker, in diese Kategorie fällt, ist schwer zu sagen, vielleicht auch deshalb, weil sein Schaffen bisher weniger Exegeten auf den Plan gerufen hat als etwa das eines Jasper von Altenbockum oder Ulf Poschardt. In der Donnerstags-Ausgabe des kicker liefert Beer jedenfalls eine von meedia.de aufgegriffene Nicht-Berichterstattungs-Begründung:

„Es gibt so viel Interessanteres und Wichtigeres zu berichten. Auch im Fußball."

Der Nachsatz wirkt zumal in Winterpausenzeiten wie diesen etwas eigenartig, andererseits wollen wir die Wichtigkeit etwa der Meldung, dass „Hoffenheims Stefan Thesker“ sich „schon wieder verletzt“ hat, und zwar im Trainingslager „in San Pedro del Pinatar bei Murcia“, prinzipiell nicht anzweifeln. 

Den befremdlichen Text des kicker-Chefredakteurs greift auch Lucas Wiegelmann (Die Welt) auf. Er hat aber auch fragwürdige Formulierungen in der Hitzlsperger-Berichterstattung der taz entdeckt - und schließt unter anderem daraus:

„Hitzlspergers Coming Out führt nicht nur den Fußball als Hort der Homophobie und des Machotums vor. Es erinnert zugleich daran, dass auch wir Journalisten uns immer noch schwer tun mit dem Thema Homosexualität. Dass wir kaum noch merken, wie tief sich diskriminierende Formulierungen in unsere Sprache eingenistet haben. So tief, dass sie uns gerade dann unterlaufen, wenn wir es am sorgfältigsten zu vermeiden versuchen. Der kicker findet sogar, dass bereits der bloße Akt der Berichterstattung unangemessen ist.“ 

Wiegelmann nimmt die Beiträge in Sachen Hitzlsperger zum Anlass, auf den konspirativen Sound hinzuweisen, der sonst hin und wieder in der Berichterstattung über Homosexuelle zu vernehmen ist:

„Von ‚Tagesschau‘ über Süddeutsche bis Spiegel gruseln sich die Journalisten einmütig vor einer ‚Schwulen-Lobby‘ im Vatikan, gerne auch ‚schwule Seilschaft‘ oder ‚Schwulennetzwerk‘ genannt. Ein Vokabular, das unter Verschwörungstheoretikern eine lange Tradition hat und auf jede Minderheit angewandt werden kann, die man als lichtscheu, konspirativ, tendenziell bösartig und jedenfalls unheilvoll hinstellen will.

Wolfram Eilenberger, der Chefredakteur des Philosophie Magazin, empfiehlt via Facebook allen Mitmischern in der Debatte zum Thema Homosexualität und Fußball Niklas Luhmanns Text „Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung" bzw. einen sich auf Luhmann beziehenden Artikel, den er, Eilenberger, vor sieben Jahren für den Tagesspiegel geschrieben hat.

Daniel Meuren (FAZ) wirft aus gegebenem Anlass einen Blick darauf, was beim Spitzenfußball der Frauen hin und wieder am Spielfeldrand zu beobachten ist:

„Schlusspfiff eines Spiels in der Frauenfußball-Bundesliga. Die Siegerinnen jubeln, dann trotten einzelne Akteurinnen zur Tribüne. Nur zehn Meter entfernt von den Fernsehkameras, die gerade ein Interview mit einer Spielerin aufnehmen, umarmt eine Mannschaftskameradin ihre Lebensgefährtin, freut sich mit ihr über den Sieg, küsst sie (...) Eine vergleichbare homosexuelle Zuneigung ist in der Männer-Bundesliga und mit wenigen Ausnahmen bis hinab in tiefste Amateurspielklassen auch nach dem Coming-out von Thomas Hitzlsperger wohl noch lange undenkbar.“

Meuren hat auch die Frühkritik zur Illner-Sendung zum Thema Hitzlsperger geschrieben, die „eine Stunde lang weitgehend belanglos und Selbstverständlichkeiten verhaftet blieb“. Noch aus steht eine ausführliche Betrachtung der stammtischbrüderlichen Performance von Manni „Manfred“ Breuckmann (siehe hier, hier und hier).

[+++] Das „Nachtmagazin“ der ARD gehört zu den Sendungen, die eher selten Nennenswertes auslösen. Nun ist es ihm aber gelungen - mit einem Beitrag über das (mittlerweile im Übrigen auch bei Al Jazeera für Aufmerksamkeit sorgende) „Gefahrengebiet“ in Hamburg, in dem zu sehen ist, wie ein Polizist in schwerer Montur bei einem Passanten eine Klobürste konfisziert. Wie der Sanitärgegenstand dann auf sozial-medialen Wegen zu einem Accessoire für Spaßguerilleros wurde, analysiert der Zapp-Blog. Das „Nachtmagazin“ berichtet selbst auch noch mal über den „Siegeszug der Klobürste“, außerdem tagesschau.de

Eine „goldene Gefahrengebietsbürste“ für „Medienrandale“ ist auch bereits verliehen worden, und zwar an die in dieser Disziplin sowieso schwer zu toppende Hamburger Morgenpost. Diese kommt auch vor in einem weniger launigen Text, in dem Lorenz Matzat (datenjournalist.de) die fragwürdige Berichterstattung über das inzwischen verkleinerte Gefahrengebiet analysiert.

Es geht vor allem um eine Pressemitteilung der Polizei zu einem vermeintlichen Angriff auf eine Polizeiwache, die gekennzeichnet war durch eine sehr exklusive Interpretation der Realität. Was nicht weiter erwähnenswert gewesen wäre - hätten nicht zahlreiche Journalisten diese Darstellung übernommen und wäre die fiktive Attacke nicht der Vorwand gewesen, das Gefahrengebiet einzurichten. Matzat schreibt in dem Text, in dem auch die dpa ihr Fett weg bekommt:

„Pressemitteilungen der Polizei scheinen offenbar grundsätzlich als wahr betrachtet zu werden (...) Fast durch die Bank weg haben alle Medien in Deutschland - soweit ich das verfolgen konnte –  (ihre) Sorgfaltspflicht bei den Vorgängen in Hamburg verletzt. Denn die Pressemitteilung der Polizei ist erst ein Mal als ‚unbestätigte Meldung‘ anzusehen und müsste laut Pressekodex ‚mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt‘ überprüft werden.“

Man kann die „Vorgänge in Hamburg“ aber auch als Beispiel für die These nehmen, die Jürgen Trittin in dem Freitag-Special zu „House of Cards“ (siehe Altpapier von Donnerstag) aufgestellt hat:

„‚House of Cards“ zertrümmert rücksichtslos das Gerede von den Medien als Kontrolleure der Macht. Medien sind selber Teil der Macht.“


ALTPAPIERKORB

+++ Noch nicht vorbei: die Zeit der Jahresrückblicke. epd Medien publiziert derlei drei: einen medienpolitischen, einen aufs Fernsehjahr im allgemeinen und einen auf die TV-Krimimorde im besonderen. Bei letzterem handelt es sich um einen analytischen Offline-Remix von Christian Bartels‘ Altpapier-Jahresend-Special. Von der Funkkorrespondenz gibt es traditionell ein komplettes Heft mit einem Rückblick Dietrich Leders (siehe Vorschau). Von mir ist im journalist ein Text über die besten Multimedia-Reportagen des abgelaufenen Jahres finden, etwa diese (um jetzt mal ein Beispiel herauszugreifen, das hier zu Lande wenig bekannt ist).

+++ Und garantiert noch lange nicht vorbei: die Diskussion um aktivistischen Journalismus. Matthias Krämer dazu bei Carta: „Die derzeitige ‚Aktivismus‘-Debatte im deutschen Journalismus ist auch eine Debatte über die Loyalitäten, zu denen wir Journalisten verpflichten wollen. Das ‚Wohl des Staates‘ kommt für mich nicht als verpflichtendes Ziel für Journalisten in Frage, zumal die Presse in einer offenen Gesellschaft als Kontrollorgan des Staates fungieren sollte.“ Wobei man, siehe „House of Cards“ und Gefahrengebietsberichterstattung, das Wörtchen „sollte“ wohl betonen muss. Wie auch immer: „Auch vorgeschriebene Blattlinien, Verlegerinteressen und ähnliche Loyalitäten gefährden eher den Wert von Journalismus, als ihn zu schützen. Wenn Journalisten, die sich an Wahrheit, Relevanz und Gerechtigkeit orientieren – und damit letztlich ihrem Gewissen gegenüber loyal bleiben –, von den Journalistenkollegen als ‚Aktivisten‘ diskreditiert werden, muss sich das Publikum wohl entscheiden, ob es sich lieber von ehrlichen Aktivisten informieren lassen will, oder von verbogenen Neutralisten.“

+++ Dass die Funke-Gruppe und Zeitungs-Vorstand Christian Nienhaus bald getrennte Wege gehen (siehe Altpapier), hat der Konzern nun bestätigt. meedia.de blickt voraus: „Christian Nienhaus, der zuvor u.a. als Verlagsgeschäftsführer der Bild-Zeitung für ansehnliche Renditen sorgte und bei der WAZ/Funke-Gruppe auch für harte Sparmaßnahmen stand, wird ohne Zweifel der Zeitungsbranche erhalten bleiben.“ Wir scheuen uns da nicht hinzuzufügen: leider. „Nienhaus ist ein kantiger Typ, ein Mann der klaren Worte. meint Michael Hanfeld (FAZ). „Er wird anderswo die Nummer eins sein wollen“ - und nicht, wie bisher, nur als Teil einer Dreierbande. Hanfelds Einschätzung steht derzeit nicht frei online, Jan Hausers Text für den Wirtschaftsteil sehr wohl. Der Tagesspiegel nimmt den bevorstehenden Abschied von Nienhaus zum Anlass, noch einmal wichtige Details des bis dato nur teilweise kartellrechtlich abgesegneten Funke/Springer-Deals zusammenzustellen, der bei der Personalie eine Rolle spielt.

+++ Ebenfalls im Tagesspiegel: Sabine Sasse über Buzzfeeds Kurswechsel in Richtung mehr Seriösität (siehe in den vergangenen Monaten u.a. Altpapier und Nieman Journalism Lab).

+++ Die taz geht auf eine achtteilige Harun-Farocki-Filmreihe ein, die 3sat anlässlich des 70. Geburtstages des Dokumentarfilmers ins Programm genommen hat.

+++ „Österreichische Medien spekulieren darüber, dass achtzig Mitarbeiter von Gruner + Jahr in Wien entlassen werden sollen.“ Davon setzt uns die FAZ in Kenntnis (Seite 35).

+++ Frage des Tages: Wer wird denn nun Grimmes next Kammann bzw. neuer Direktor bei der berühmtesten Institution Marls? Eine Entscheidung wird wohl im Laufe des heutigen Tages fallen. 

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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