Die Neunziger sind bald vorbei

Die Neunziger sind bald vorbei

Schon wieder bekommt eine Zeitung aus Berlin einen neuen Herausgeber. Dank eines Gerichtsverfahrens erfährt die Welt von Christian Wulffs „Tatort“-Verbesserungsideen. Außerdem: Das ZDF braucht die Champions League, der „Heimatsender“ SWR braucht „2 + Leif“ nicht mehr, und CNN hat eine neue Strategie.

Sebastian Turner ist nicht Jeff Bezos, er kauft, anders als letzterer, keine komplette Zeitung, sondern nur 20 Prozent des Tagesspiegel. Der einstige „Superdenker der Berliner Agentur Scholz & Friends“ (Tagesspiegel vor rund zwei Jahren anlässlich Turners Oberbürgermeisterkandidatur in Stuttgart) bzw. „Ex-Werber“ (horizont.net aktuell) wird zudem Herausgeber der Zeitung. Neben Stefan Austs aktuellem Karriere-Move in Richtung Welt-Spitze (Altpapier) ist das ein weiteres Indiz dafür, dass die Position Herausgeber an Sexyness gewinnt. 

Um auf das Stichwort Bezos zurückzukommen: Auffällig ist allemal, dass wieder mal ein branchenfremder Schwerreicher ins Geschäft mit dem Journalismus investiert - auch wenn er dort nicht-operativ bereits mitmischt, nämlich „als Aufsichtsrat der DvH Medien-Holding, zu der der Tagesspiegel gehört“ (meedia.de). Wir werfen aus diesem Anlass auch gern noch einmal die Altpapier-Frage in den Raum, ob die Washington Post für Jeff Bezos „nur das ist, was für Bill Gates die Kinderlähmung ist“. 

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Gewiss, der Geldspeicher des künftigen Tagesspiegel-Herausgebers ist kleiner als der des Amazon-Gründers, aber:

„Turner ist vor allem als Gründer einer Werbeagentur bekannt, die Anfang der Neunziger in der Scholz & Friends-Gruppe aufging. Turner wurde daraufhin Vorstandsvorsitzender, verdiente ein paar Vermögen, kaufte die gesamte Agentur zusammen mit ein paar anderen Managern, verdiente noch mehr und gründete schließlich noch ein paar Firmen im digitalen Bereich.“

Das schreibt Johannes Boie (SZ, Seite 47). Über Turner, den „konservativen Querdenker“ (dieses Oxymoron der Woche verdanken wir turi2), muss man auch noch wissen, dass er sich beispielsweise bei der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft „engagierte“, wie es meedia.de formuliert. Was man wohl nur schreiben kann, wenn man glaubt, dieser Verein habe Soziales im Sinn, nur weil der Begriff im Namen auftaucht.

Boie weiß in der SZ im Übrigen noch zu berichten, dass

„die Stimmung unter den Kollegen beim Tagesspiegel in Anbetracht der Personalie durchaus heiter ist. Die Redakteure werten Turners Engagement als Vertrauen in die Zukunft ihrer Zeitung.“

Nun missgönnt ja niemand den Kollegen ihre heitere Stimmung. Die Nachricht, dass ein Werbefuzzi Herausgeber und Mitinhaber einer Tageszeitung wird, hätte in etwas anderen Zeiten allerdings bewirkt, dass manche betroffenen Redakteure den Djihadisten in sich entdecken.

Bemerkenswert noch: Die einerseits aufgrund ihrer Nebulösität das Allerschlimmste andeutende, andererseits an Affigkeit kaum zu überbietende bzw. „gespreizte“ (meedia.de) Pressemitteilungsformulierung, Turner werde gemeinsam mit den anderen Führungskräften des Hauses

„die Kernmarke durch Innovationen um markenaffine Produkte arrondieren“,

hat es in den redaktionellen Teil des Tagesspiegel geschafft. Der Text „in eigener Sache“ steht im Medienressort online ganz oben.

[+++] Die Zeit der Jahresbilanzen ist bekanntlich längst gekommen, insofern ist es nicht unangebracht zu konstatieren, dass gerade die zweite Jan-Fleischhauer-Kolumne des Jahres erschienen ist, in der sehr vernünftige Dinge stehen (siehe ein Altpapier aus dem September bzw. einen aktuellen @niggi-Tweet). Animiert durch Horst Seehofers Interview mit dem Spiegel (siehe Altpapier), geißelt Fleischhauer „die neue Empfindlichkeit von Politikern“ sowie das Bedürfnis von Journalisten, sich zu den entsprechenden Befindlichkeits-Wortmeldungen aus der Volksvertreterbranche pseudo-nachdenklich zu äußern. Fleischhauer schreibt:

„Dass Kritik immer konstruktiv zu sein habe, ist eine Vorstellung von Leuten, die offenkundig nie Karl Kraus gelesen haben, oder wenn doch, dann nur unter der Bettdecke. ‚Maximilian Harden. Eine Erledigung‘ hat Kraus seine Abrechnung mit einem ihm besonders verhassten Journalisten genannt.“

Einen Link zur erwähnten Erledigung finden Sie übrigens hier. Gäbe es heute einen wie Karl Kraus, er hätte die schwarze Socke Fleischhauer gewiss mit einer derartigen Erledigung bedacht. Insofern kann man schon fragen, ob es angemessen, dass der Spiegel-Online-Kolumnist Kraus umarmt. Andererseits: Es ist überfällig, dass sich mal jemand jene Journalisten vorknöpft, die sich die Kritik von Seehofer und Konsorten

„so zu Herzen (nehmen), dass sie Leitartikel verfassen, in denen sie die Branche dazu auffordern, ein neues Verhältnis ‚zwischen Nähe und Distanz‘ zu finden“.

Fleischhauer widmet sich dann einem ganz speziellen Leitartikel, einem, der in der vergangenen Woche in seiner „Lieblingswochenzeitung“, also der Zeit, erschienen ist, und dessen Kernbotschaft er so zusammenfasst:

„Wenn die Journalisten zu gemein zu den Politikern sind, werden diese wütend. Wenn die Politiker wütend werden, sehen sie die Journalisten als Feinde anstatt als Gegenspieler: ‚Das aber ist gefährlich, nicht für Journalisten, sondern für die Demokratie.‘"

Klingt schon a bisserl verrückt, dieses von Fleischhauer verwendete Zeit-Zitat. Wenn es für Politiker tatsächlich einen Grund gäbe, wütend auf Journalisten zu sein - wäre das nicht möglicherweise eher ein gutes Zeichen „für die Demokratie“, zumindest für eine einigermaßen funktionierende vierte Gewalt? 

[+++] Das Lied, das Horst Seehofer in dieser Woche gesungen hat, hat der frühere Bundespräsident Christian Wulff auch hin und wieder angestimmt. Im Prozess zur Causa Wulff, der derzeit in Hannover stattfindet, war gestern seine Noch-Ehefrau Bettina als Zeugin geladen, und ein Teil ihrer Aussage ist auch für Medienkritiker nicht uninteressant. Es ging um ein von Wulffs Ex-Buddy David Groenewold eingefädeltes Treffen mit der „Tatort“-Kommissar-Darstellerin Maria Furtwängler und deren anderer Hälfte beim Oktoberfest 2008; zu der Zeit war Christian Wulff niedersächsischer Ministerpräsident. Spiegel Online komprimiert Bettina Wulffs diesbezügliche Einlassung folgendermaßen: 

„Ihrem Mann habe am Herzen gelegen, mit (...) Furtwängler beim Oktoberfest über ihren Einfluss auf die ‚Tatort‘-Drehbücher zu reden, ‚dass man vielleicht das Land Niedersachsen da auch ein bisschen freundlicher darstellen könnte‘. Die Episoden seien immer ‚so düster‘ gewesen. ‚Da haben wir uns ein bisschen darüber geärgert.‘“

Wir wissen nicht, ob Christian Wulff nicht weiß, dass Maria Furtwängler nicht die Drehbücher der „Tatorte“ schreibt, in denen sie mitspielt, aber wir wissen natürlich auch nicht, ob sie Einfluss darauf nimmt bzw. nahm. Fernsehfilmchefin beim fürs so düstere Niedersachsenbild letztlich verantwortlichen NDR war in besagtem Zeitraum ja die in gewisser Weise legendäre Doris Heinze, „die Frau, die Furtwängler zum Star machte“ (Die Welt 2012). Wie auch immer: Irritierend ist allemal, dass Wulff in seiner Zeit als niedersächsischer Landesvater einen Teil seines wertvollen Hirnschmalzes für „Tatort“-Reformideen verwendete.

[+++] Ähnlich wie Politiker über Politikjournalisten äußern sich ja manchmal TV-Schaffende über Fernsehkritiker, und das klingt auch in der von der Funkkorrespondenz dokumentierten Dankesrede, die die Produzenten Gabriela Sperl gerade beim Fernsehfilm-Festival Baden-Baden gehalten hat, wo ihr eine Art Lebenswerk-Preis verliehen wurde:

„Wenn über das Fernsehen berichtet wird, dann wird sehr oft der immer gleiche Tenor angeschlagen. Wir jammern, was uns alles fehlt, was wir alles nicht haben und nicht können. Im Moment sind es die amerikanischen und die dänischen Serien, die es hierzulande nicht gibt. Doch die jährliche Ansammlung von Fernsehfilmen hier vor Ort in Baden-Baden ist (...) ein Gegenbeweis: Das viel gescholtene Fernsehen in Deutschland ist herausragend in seinen Einzelleistungen. Und auffallend in seiner Qualität. Jenseits der viel zu vielen Krimis und Krimireihen, der wenigen Komödien und Alltagsgeschichten.“

Das kann man behaupten, führende Strategen mancher Sender tun das ja auch gern. Wobei sich stets die Frage stellt, ob es sich nur um aus geschäftlichen Gründen notwendigen Selbstbetrug handelt oder ob die Qualitätsbehaupter es ernst meinen mit dem, was sie da sagen.

[+++] Der Aufmacher der SZ-Medienseite ist heute dem bevorstehenden Wandel bei CNN gewidmet. Dort „sollen Shows, Serien und Dokus eine größere Rolle spielen. Das reine News-Geschäft rentiert sich nicht mehr.“ Peter Richter feuilletonisiert angenehmst:

„Dass die laufenden Nachrichtenbänder am Fuß des Bildes – letztes mediales Aufzucken des guten alten Telegramms – eine Novität waren, die das Sehverhalten revolutionierten, ist auch schon so lange her, dass diejenigen Sender, die das später für Dauerwerbesendungen oder das Musikfernsehen parodierten, meistens auch schon gar nicht mehr unter uns sind. Man wird sich mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass das Nachrichtenlaufband unter dem sorgenvollen Gesicht der CNN-Anchors an halbwegs katastrophenfreien Tagen demnächst zum Halten kommt. Dann sind die Neunziger endgültig vorbei. Aber sie haben hier auch wirklich lange gedauert.“


ALTPAPIERKORB

+++ Wochenendlektüre für Siggi Pop: Weil der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof empfiehlt, „die 2006 erlassene EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung grundlegend zu überarbeiten“, sagt Michael Rediske, der Vorstandssprecher von Reporter ohne Grenzen: „Jetzt ist die künftige Koalition am Zug, sich von diesem überflüssigen und für die Pressefreiheit schädlichen Instrument zu verabschieden.“ Ähnliches ist aus dem selben Anlass zu hören von Netzwerk Recherche, einer anderen Journalistenorganisation („Für Journalisten, die Berufsgeheiministräger sind, stellt die Vorratsdatenspeicherung einen massiven Eingriff in ihren vom Grundgesetz garantierten Auftrag dar"). Noch viel mehr dazu steht im Kommentar des SZ-Experten Heribert Prantl unter den verheißungsvollen Überschriften „Die Weihnacht der europäischen Grundrechte“ (Print) und „Raus aus dem Grundrechtshalbschlaf“ (Online).

+++ „The Essential Conservatism of Silicon Valley“ ist das Thema eines New-Republic-Artikels, und wenn man den gelesen hat, versteht man möglicherweise ein bisschen besser, warum Springer seine Leute kurzzeitig in dem Milieu rumrocken lässt.

+++ Jürn Kruse berichtet für taz.de darüber, dass das ZDF mindestens bis 2018 Champions-League-Fußball zeigen wird. Die Champions-League- Rechte seien „ein wesentlicher Faktor für die Zuschauerakzeptanz – auch bei jüngeren Zuschauern“, zitiert Kruse den ZDF-Intendanten Thomas Bellut. „Damit benennt Bellut den wahren Grund, warum das ZDF gar nicht anders konnte, als den Vertrag zu verlängern und die teuren Rechte einzukaufen. Bellut hat schließlich ein ehrgeiziges Ziel: Er will das Durchschnittsalter des ZDF-Zuschauers von 61 auf 60 drücken. Ohne die Champions League, die bei den 14- bis 49-Jährigen einen für ZDF-Verhältnisse unverschämt hohen Marktanteil von 23,3 Prozent erreicht, hätte Bellut dieses Ziel gleich mal in den Wind schießen können.“

+++ Mehr Fußball: Finanziell bedrohlichen Ärger mit einem Verbandsfunktionär, der keinen Humor hat oder keine Ahnung von Humor hat oder beides, hat derzeit das österreichische Fußballmagazin Ballesterer, das in eigener Sache um Unterstützung bittet.

+++ Klaudia Wick hat für die Funkkorrespondenz einen souveränen Verriss des ZDF-Eventdingens „Frauen, die Geschichte machten“ (siehe Altpapier) beigesteuert: „Auf den ersten Blick erinnern die Filme dieser ZDF-Reihe vielleicht an die ARD-Märchenreihe ‚Sechs auf einen Streich‘ (...) Aber lässt sich so ein Modell der popkulturellen Modernisierung, die bei den ARD-Märchen sehr souverän durchgespielt wird, auf historische Figuren der Weltgeschichte übertragen?“ 

+++ Heute im Fernsehen: der teilweise im Journalistenmilieu angesiedelte Film „Der Staat schweigt" (arte). „Ein ordentlicher Thriller, der laut Begleittext ‚die Abgründe der modernen Mediendemokratie‘ zeigen und ein Kommentar zum affärenreichen Frankreich der Gegenwart sein will“, meint die FAZ. Andererseits: „An die Durchtriebenheit eines Frank Underwood, jenes gefühlskalten Politikers, von dem die Serie ‚House of Cards‘ erzählt, mag der von Richard Berry verkörperte französische Präsident Jacques Rohmerieu nicht heranreichen.“ Claudia Tieschky (SZ) schreibt: „Und wo, fragt der Zuschauer, wo bleibt die aufrechte Presse? Die aufrechte Presse ist ins Internet abzogen, sieht aber trotzdem so aus, wie Journalisten in Filmen schon immer aussehen: Nicolas Malisewski hat einen Drei- bis Fünftagebart, trägt verknautschte Sachen und im Gesicht den Hundeblick, wenn er die Frau trifft, die er natürlich verloren hat an einen Schnösel mit geregelten Arbeitszeiten und Einbauküche.“

+++ Nie wieder im Fernsehen: der Polittalk „2 + Leif“. Warum der „Heimatsender“ SWR die bundespolitisch ausgerichtete Sendung abgesetzt hat, steht im Freitag (Disclosure: Der Artikel ist von mir).

+++ Vergangenheit und Zukunft des Radios: Jan Scheper schreibt heute in der taz über das an diesem Wochenende bei Bayern 2 zu hörende Science-Fiction-Hörspiel „Demolition", das „1973 als erstes mit der damals revolutionären und gefeierten Kunstkopfmethode aufgenommen wurde“, und die Hörspielautorin Tina Klopp blickt in einem epd-Medien-Leitartikel (Seite 6 bis 9, derzeit nicht online) unter dem Titel „Ist das noch Radio?“ zurück auf die an der Uni Weimar von der dortigen Professur für Experimentelles Radio organisierte Tagung „Audio Visionen - Akustische Räume in Zeiten hybrider Medienkonstellationen“.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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