Megatrend Seekrimi

Megatrend Seekrimi

Die Zukunft des Schreibens. Die Schlagzeile des Jahres. Der Lall der Groko (auch was Digitales betrifft). Der mediale Reiz-Reaktions-Rhythmus. Der Trend zu "schlechten Filmen für die Nische". Und der zweite öffentlich-rechtliche Bayern-See-Krimi der Woche.

Zunächst ein Blick in die Wochenzeitung Die Zeit. Dort gibt ein als Interviewpartner relativ unverbrauchter deutscher Medienkonzern-Chef ein großes Interview:  Paul-Bernhard Kallen, der erste Burda-Chef nach Hubert Burda persönlich.

Das Interview ist so groß, dass die Zeit es in gleich zwei Vorabmeldungen ankündigt, die eine Geschäftszahlen- und Journalismuszukunfts-, die andere auf "digitale Wirtschaftspolitik" bzw. die Forderung einer solchen orientiert. Und sie haben ihre Schuldigkeit getan, die Vorabmeldungen, sie gingen herum. Am getreulichsten und ausführlichsten fasst dwdl.de den Zeit-Inhalt zusammen:

"In dem Zusammenhang versteigt sich Kallen zu interessanten Thesen zur Zukunft des Journalismus. Er fordert, die Begriffe Content und Journalismus sehr viel breiter zu interpretieren, als das heute immer noch in Teilen unserer Branche getan wird. 'Journalismus ist doch längst nicht nur das, was fest angestellte politische Journalisten machen'. So könnten für Kunden auch Produktbeschreibungen wertvoller Content sein. 'Das Schreiben an sich wird an Bedeutung verlieren', prophezeite Kallen, dafür werde das 'Kuratieren von Inhalten', also das Betreuen von Texten wichtiger. Betreutes Schreiben - das ist ja auch eine der Säulen auf denen die gerade in Deutschland gestartete Huffington Post setzt. 'Es wird immer neue und extrem unterschiedliche Technologien geben, mit denen Menschen Inhalte erstellen, beurteilen, bündeln und vor allem selbst verbreiten', ist Kallen sich sicher. ..."

[+++] Ein schönes Beispiel für so ein "Kuratieren von Inhalten", die zuvor irgendwie erstellt, beurteilt, gebündelt und vor allem verbreitet wurden, ruft dieses Internet tagesaktuell in Erinnerung. Anlass ist die gestrige Auszeichnung der "Schlagzeile des Jahres" durch den Verein Deutsche Sprache. "Schlagzeile des Jahres - Doppelsieg für Bild", unter dieser. ähm: sexy Schlagzeile schickte Walter Krämer, der Vorsitzende des in Dortmund ansässigen Vereins, gestern mittag eine Pressmitteilung herum. Und weil er durchaus weiß, wie dieses Internet funktioniert, war eine "vollständige Liste der besten 30" Schlagzeilen des Jahres als PDF beigefügt. Die allerbeste neue Schlagzeile also sei "Yes We Scan" der Bild-Zeitung im NSA-Affären-Zusammenhang gewesen. Die üblichen Verbreiter verbreiteten auch dies (z.B. kress.de, meedia.de hat ohne viel Fließtext die zehn allerbesten Schlagzeilen ins eigene Redaktionssystem kopiert, aber auch die DPA-Meldung ging rum, z.B. ins triste Online-Medienressort der Berliner Zeitung) und verbreiteten ihre Verbreitung (z.B. kress.de via Twitter: "'Bild' wird vom Verein Deutsche Sprache geadelt"), was wiederum durch vereinzelte Retweets weiterverbreitet wurde.

So gelangte die, nennen wir es: News auch an René Walter, den Nerdcore-Blogger (dessen Blog aus Gründen unter der Domain crackajack.de zu erreichen ist), der also folgende E-Mail an den Dortmunder Verein schickte:

"Hallo Verein Deutsche Sprache! Mein Name ist René Walter, ich bin Betreiber des deutschlandweit bekannten Weblogs Nerdcore und ich schreibe Ihnen bezüglich der Auszeichnung der Bild-Zeitung für die Headline 'Yes we scan'. Diese wurde nicht von der Bild-Zeitung formuliert, sondern aus Online-Medien entnommen. Zuerst tauchte die Formulierung in Foren bei Spiegel Online und bei Netzpolitik.org auf, weltweite Beachtung fand sie dann in Form meines Plakat-Remixes, das ich am 8.6. online stellte. Am 10.6. druckte die Bild-Zeitung diese Headline. Ich halte die Auszeichnung der Bild-Zeitung unter diesen Vorzeichen für den Verein Deutsche Sprache für unwürdig und würde mir eine Rücknahme wünschen. Herzliche Grüße, René Walter"

Auch diese brisantere News ging rum und wurde von den üblichen Verbreitern verbreitet, bei kress.de als Update unter dem oben verlinkten Artikel. Bei meedia.de verkleisterten sie in der üblichen Hektik, aber auch mit dem derzeit trendigen Pathos ("Anstand und Gerechtigkeit"), was Kai Diekmann dann so twitterte, was Krämer noch so sagte und Walter noch so mailte, unter der Überschrift "Bild lehnt Schlagzeilen-Preis ab". Das also ist der Stand. Am lesenswertesten bleibt der crackajack.de-Beitrag mit den Updates unten drunter. Vielleicht der eigentliche Witz: Üblicherweise engagiert sich der Verein Deutsche Sprache gegen "Denglisch", worüber sich ja durchaus diskutieren lässt. Aber wenn's der Verbreitung der eigenen Schlagzeilen-Meldung dient, drückt er wohl auch in der Hinsicht mal die Äuglein zu.

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[+++] Natürlich das größte Thema der Medien heute: die/ der/ das Groko oder GroKo. Große und kleinere Einschätzungen des Ganzen oder seiner Teile boomen. Zwischendurch wie gestern eine kleine Umschau über medien- und netzpolitische Aspekte. Für den Tagesspiegel hat sich Joachim Huber angeschaut, was unter dem Stichwort Medien zum Besten gegeben wurde ("Es ist erklärtes Ziel der Koalition, die Medienfreiheit, -vielfalt und -unabhängigkeit zu sichern") und findet's so la la. Für heise.de hat Stefan Krempl Stimmen von mutmaßlichen Oppositionspolitikern, lange nicht gelesen: Bürgerrechtlern und anderen zusammengetragen. Überraschend: eine nicht-negative Einschätzung kommt nicht nur von der Deutsche Polizeigewerkschaft, sondern auch von Wikimedia Deutschland.  

Und für den SZ-Leitartikel hat sich Heribert Prantl in großem Bogen in Rage geschrieben und streift ebenfalls das Internet:

"Solcher Lall mündet in der Ankündigung, dass Deutschland im Rahmen der 'Digitalen Agenda' einen 'Digital Champion' benennen wird. Glückwunsch!"

Ob da wohl der Verein Deutsche Sprache einschreitet? Falls Sie mit einer etwas anderen Meinung zur Groko konfrontiert werden möchten: Auch damit versorgt die Medienvielfalt. Auf der Tagesspiegel-Kommentar-Seite versucht Malte Lehming, die Zukunft (der Medienmeinung zur Groko) aus der Vergangenheit, nämlich der Entwicklung der Medienmeinung zur letzten Groko, herzuleiten, und zwar vor dem Hintergrund des "medialen Reiz-Reaktions-Rhythmus durch 24-Stunden-Onlinepräsenz plus täglicher TV-Talkshow-Umrandung":

"Die Medien aber werden die große Koalition recht schnell als Sedativum kritisieren. Spätestens, wenn das SPD-Mitgliedervotum überstanden ist und die Personalentscheidungen ausanalysiert wurden, wird das Leiden an der großkonsensualen Spannungslosigkeit einsetzen. ... Das wiederum verstärkt die Tendenz zur Personalisierung. Guido Westerwelle, Horst Köhler, Karl-Theodor zu Guttenberg, Christian Wulff: Angeödet von den Mühen der täglichen Regierungsarbeit boten die Affären, die sich um diese Personen rankten, auch eine willkommene Ablenkung. Mit einer Hingabe, die mitunter obsessive Züge annahm, kümmerten sich Rechercheteams plötzlich um Details von Spesenabrechnungen statt ums Kleingedruckte bei der Gesundheitsreform. Weil ... nichts darauf hindeutet, dass das Merkel-Seehofer-Gabriel-Gespann wesentlich temperament- und fantasievoller sein wird ..., dürfte die Lust an der personalen Skandalisierung weiter steigen."

Und falls die tägliche TV-Umrandung interessiert: Ich habe mir für handelsblatt.com die "Was nun?"- und "Brennpunkt"-Sendungen mit Angela Merkel und Sigmar Gabriel bei ZDF und ARD gestern abend angesehen. Und fand sowohl interessant, wie genervt der eigentlich staatsmännisch auftretende Gabriel reagierte, als der eigentlich übermüdet wirkende Ulrich Deppendorf plötzlich einen Zusammenhang zwischen NSA-Affäre und Vorratsdatenspeicherung herstellte, als auch aufschlussreich, welche Rolle am "Brennpunkt"-Ende das gemeinsam interviewte (und in punkto Haarpracht und Größe prächtig kontrastierende) Oppositions-Duo Gregor Gysi/ Anton Hofreiter spielte. So könnte die mittlere Zukunft im Parlament und in den Talkshows aussehen.

[+++] Über Zukunft und Gegenwart des fiktionalen Fernsehens gibt heute die FAZ-Medienseite guten Aufschluss. Einerseits informiert Peer Schader über einen frischen Trend aus USA: "schlechte Filme für die Nische ..., sogenannte Mockbuster". Denn: "Während allerorten über Qualitätsserien wie 'House of Cards' und 'Breaking Bad' diskutiert wird, entsteht zugleich eine Lust des Publikums auf absichtlich schlechtes Fernsehen". Anlass ist die heutige Ausstrahlung des Films "Sharknado" auf dem deutschen Pay-TV-Kanal Syfy, der durch seine virale Verbreitung Furore machte, also womöglich durch den gleichnamigen Hashtag bekannt ist:

"Zur Fernsehpremiere im Sommer hatten nur wenige Zuschauer eingeschaltet. Doch die konnten gar nicht fassen, was ihnen geboten wurde. Also teilten sie ihre Fassungslosigkeit auf Twitter mit und steckten andere Nutzer damit an. Rund fünftausend Tweets mit dem Hashtag #Sharknado wurden im Laufe des Abends gesendet - pro Minute. Auf Google war der Filmtitel der meistgesuchte Begriff des Tages. Prominente wie Mia Farrow beteiligten sich an der Diskussion im Netz. Am nächsten Morgen twitterte der Bürgermeister von Los Angeles: 'Sieht nach einem großartigen Tag aus heute. Wenn kein #Sharknado kommt.' Über Nacht war ein mieser Horrorfilm mit nur achtzehn Tagen Drehzeit, den bei seiner Erstausstrahlung kaum jemand gesehen hatte, weltweit Hunderttausenden Leuten ein Begriff."

Ein Trend, auf den auch deutsche Sender ohne viel Weiteres aufspringen könnten, meint Schader. Zumindest hätte RTL die Ausstrahlung seines Katastrophenfilms "Helden" (über die er im September im Fernsehblog schrieb) nach diesem Muster erfolgreicher gestalten können.

Andererseits, die Gegenwart des fiktionalen deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens wird stark von Krimis geprägt, dieses Jahr gern durch Regionalkrimis, diese Woche von solchen, die an bayerischen Seen spielen. Am Montag war ein Kommissar namens "Hattinger" fürs ZDF am Chiemsee unterwegs (Altpapierkorb). Am heutigen Donnerstag ist ein Kommissar namens Kluftinger für die ARD am einen Tick weiter südlich gelegenen Alatsee unterwegs. Hannes Hintermeier gibt, ebenfalls auf der FAZ-Medienseite, dem Film Saures, um ihn am Ende des großen Bogens sehr überraschend doch auch zu loben:

"Es quetscht die Ziehharmonika, es scheppert das Blech: das Ganze wird akzentuiert von einer effektvollen Filmmusik, die analog zur Regie über- und nicht untermalt. Sie gurgelt, fiept und wummert, wenn Kluftinger halluziniert. Und als wäre das nicht des Guten genug, kommt auch noch der Rückgriff auf jene braune Vergangenheit, die halt auch im Allgäu noch nicht vorbei ist. Aber das Unheimliche wird stets nur behauptet, nie gezeigt, und spannend ist der Film auch nicht, sondern auf eine genretypische Weise kalkuliert und damit gemütlich unterhaltsam."

Falls Sie lieber euphorisches Lob für den heutigen Abendkrimi lesen wollen - auch damit versorgt die Medienvielfalt. "Kluge, lustvolle, sinnliche TV-Unterhaltung!", ruft Rainer Tittelbach aus. Damit, dass "Kult-Kommissar Kluftinger" ja der "Columbo von Altusried" sei und - nein, wie originell - "ein liebenswert altmodischer Held wider Willen", leitet Kurt Sagatz vom Tagesspiegel sein Interview mit dem Kommissarsdarsteller Herbert Knaup ein, den er am sogar echt allgäuerischen Dialekt schwätze lässt.

Was auch immer vom Krimi zu halten ist, der See selbst ist, zumindest wenn keine Fernsehkrimi-Produktionsteams dort herumturnen, wirklich sehenswert (Foto oben).


Altpapierkorb

+++ News vom Grimme-Institut? Jein. Der bei harten Fakten ja gewöhnlich gut informierte Michael Hanfeld schreibt auf seiner FAZ-Medienseite, dass "die Findungskommission, die nach einem neuen Chef des Grimme-Instituts sucht, ... zu einem Ergebnis gekommen" sei, das aber noch "nicht verraten" wolle, "bevor die Gesellschafter des Instituts Anfang Januar zusammenkommen, um die Personalie zu entscheiden". Da zuletzt "nur noch zwei Kandidaten im Rennen" gewesen seien, die Grünen-Politikerin Frauke Gerlach "und Stephan Weichert, Professor für Journalistik an der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation in Hamburg" und in dieser Nische auch als Herausgeber des Portals vocer.org bekannt, traut Hanfeld sich aber zu, aus Indizien abzuleiten, dass es erwartungsgemäß Gerlach wird (FAZ, S. 31). +++

+++ Der deutsch-ägyptische Publizist Hamed Abdel-Samad, dessen Verschwinden Anfang der Woche Anlass zu Sorgen gab, ist wieder da. Die Hintergründe der Sache sind noch unklar, aber wohl nicht politisch (FAZ, taz.de). +++

+++ Die SZ-Medienseite interviewt Erdal Aslan, Chefredakteur der neuen, monatlich erscheinenden Gratiszeitung Mensch Westend (PDF), die die Verlagsgruppe Rhein-Main im gleichnamigen Wiesbadener Stadtteil herausbringt. "Es ist keine Zeitung für Migranten, sondern für einen Stadtteil mit vielen Migranten", sagt Arslan, und: "Es geht ja nicht nur um das Miteinander von Deutschen und Ausländern - auch ein Türke und ein Italiener kennen und verstehen sich nicht automatisch gut". Aber auch um Ökonomisches geht es: "Wir waren selbst überrascht, wie viele Anzeigen reinkamen. Auch ich als Redakteur musste mich um die Akquise kümmern und war als eine Art Medienberater unterwegs. Wir haben allerdings unsere Anzeigenpreise dem Stadtteil angepasst, sie sind nicht zu vergleichen mit denen einer Tageszeitung. Eventuell müssen wir noch weiter runtergehen, einige Kunden waren sehr zögerlich..." +++

+++ Außerdem geht's um Umwälzungen beim Manager Magazin, das nach dem Wechsel des New-York-Korrespondenten und Medien-Spezi Klaus Boldt auch der Online-Chefredakteur Karsten Stumm verlässt. Womöglich ein Hintergrund: "Im Juli war der langjährige Chefredakteur Arno Balzer entlassen und durch den früheren FTD-Chef Klusmann ersetzt worden". +++ Der Medienseiten-Aufmacher gilt dem "Überraschungs-Comeback" des National Public Radio in den USA, für das besonders Glynn Washington mit seiner Radioshow "Snap Judgment" verantwortlich sei. +++

+++ Um russisches Radio und Bemühungen, von Deutschland aus kritische Stimme hörbar zu machen, geht es in der TAZ. Gemma Pörzgen berichtet. +++

+++ Am ausführlichsten über das Bundesverwaltungsgerichts-Urteil zu Akten in der Uwe-Barschel-Sache informiert newsroom.de. Bild-Zeitungs-Chefreporter Hans-Wilhelm Saure und der Springer-Verlag wollen vermutlich Verfassungsbeschwerde gegen die verweigerte Akteneinsicht einlegen. +++

+++ "Next summer is a Damocles sword", habe Viviane Reding, EU-Kommissarin für Justiz, zur leidigen Frage des europäischen Safe Harbour-Abkommens mit den USA gesagt (Guardian, via netzpolitik.org). +++

+++ Mehr Bayern-Krimis: Der Tagesspiegel hat mit Dagmar Manzel gesprochen, die künftig als "Tatort"-Kommissarin in Franken unterwegs sein soll, freilich keine Fränkin ist. "Bassd scho!", könne sie aber schon sagen. Geschickt streut Sonja Álvarez in den Text ein, dass einen der 2015 frei werdenden "Tatort"-Kommissars-Posten in Berlin ja Elyas M’Barek übernehmen könnte. +++

+++ Walter J. Schütz ist gestorben, der Schütz "mit Fug und Recht als 'Mister Tageszeitung' und 'Vater' der modernen deutschen Pressestatistik gelten" dürfe. Das teilte der Zeitungsverleger-Verband BDZV mit. Größere Nachrufe sind noch nicht zu haben. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.
 

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