Sigmund Gottlieb findet Wahlkampfaussagen der SPD zu erwartbar und befragt daher lieber Horst Seehofer. Nils Minkmar deutet die Medienkrise in einem Nebensatz als Krise der politischen Auseinandersetzung. Die Otto-Brenner-Stiftung hat sich mal wieder die Springer-Boulevardmedien vorgenommen. Regierungssprecher Steffen Seibert in einem langen Taz-Porträt.
Die Montage, an denen so gut wie alle Medienseiten denselben Fernsehfilm rezensieren, sind in den vergangenen Jahren seltener geworden. Heute ist wieder mal so ein Montag: Der Stalking-Thriller "Eine verhängnisvolle Nacht" mit Silke Bodenbender und Matthias Brandt wird ganz gut, für Brandt- und Bodenbender-Verhältnisse aber nur mittelüberschwänglich besprochen. Es habe schon bessere Filme mit dem Duo gegeben, meint der Tagesspiegel; die SZ lobt vor allem die Schauspieler, das aber sehr; die Berliner Zeitung freut sich über ausgesparte Effekte; ein "insgesamt sehenswert" – das Befriedigend der wohlwollenden Fernsehkritik – gibt es von der FAZ; und die Taz findet den Film insgesamt nicht berührend.
Ein Thema findet heute (und fand gestern) zudem eine Fortsetzung, das zumindest in den Medienmedien einigermaßen heiß gekocht wurde (siehe dieses Altpapier oder auch jenes): der Umgang der Taz mit der pädosexuellen Geschichte der Grünen. Die FAS, die ihre Kritik an der Taz schon mehrfach geäußert hat, legt insofern nochmal nach, als sie Christian Füllers aus der Taz gekegelten Text auf Seite 2 und 3 "ungekürzt und überarbeitet" abdruckt. Dazu schreibt Volker Zastrow einen Leitartikel, der mit Henning Mankells Einteilung von Journalisten in zwei Sorten beginnt: die, die graben, und die, die wieder zuschaufeln. Klar, wer mit den Zuschauflern gemeint ist – die Taz.
Dass die solche Kritik nicht dauerhaft auf sich sitzen lassen will, war beinahe anzunehmen. Heute steht auf einer Themenseite der Taz ein Text zum Thema von den mit der Untersuchung beauftragten Politikwissenschaftlern Franz Walter und Stefan Klecha, ein Zwischenbericht, in dem der Name Jürgen Trittins prominent auftaucht (siehe auch Tagesspiegel und Sueddeutsche.de):
"Parteiforscher Franz Walter wurde von den Grünen beauftragt, zu ihrer pädosexuellen Vergangenheit zu forschen. Sein Zwischenfazit: Unter dem Deckmantel der sexuellen Befreiung wurden auch pädosexuelle Inhalte transportiert. Heute herrscht dazu Schweigen."
Außerdem wird, quasi eine Selbstverteidigung der Zeitung, Klecha fürs Taz-Hausblog interviewt, und er sagt:
"Die taz war derart anarchisch strukturiert, dass sich neben den Pädophiliebefürwortern auch immer wieder die Gegenseite im Blatt fand. Beide Positionen standen relativ unkommentiert nebeneinander."
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+++ Das Medienwochenende und der heutige Montag fallen ansonsten aber vor allem in der Rolle als a) Montag nach einer Landtagswahl und b) Wochenende vor einer Bundestagswahl auf. Das bedeutet, es gibt bereits erste schnelle Frühbesprechungen auch der journalistischen Leistungen des Sonntags (etwa eine Netzschau bei Sueddeutsche.de, erste Jauch-Kritiken bei SpOn und FAZ.net). Und es gibt diverse Themen, die im weiteren Sinn um die Rolle der Medien für die politische Auseinandersetzung kreisen.
Beginnen wir mit der Fernsehberichterstattung über die gestrige Landtagswahl in Bayern. Man muss in diesem Zusammenhang Sigmund Gottlieb vom Bayerischen Rundfunk auch mal danken. Er, der 1995 als von der CSU im BR-Rundfunkrat favorisierter Kandidat (der laut Munzinger-Biographie bei der SPD allerdings nur auf mäßige Begeisterung stieß) Fernsehchefredakteur wurde und seitdem neben Papstwahlen auch die CSU-Wahlergebnisse interpretiert, liest nicht, wie andere, nur Zahlen vor – er verkörpert das Wahlergebnis.
Gottlieb hatte gestern seine erste von zwei Szenen im Umfeld der Schalte der ARD ins Willy-Brandt-Haus, wo Peer Steinbrück gleich ans Mikrofon treten sollte, um seinen Senf zur bayerischen Landtagswahl auszudrücken. Diese Übertragung brach Gottlieb kurzerhand ab. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel hatte davor gesprochen, und Gottlieb sagte nun, er wisse ja nicht, wie es Ihnen, also uns, gehe, aber er finde Gabriels Aussagen zu "erwartbar" [Update 12 Uhr: jetzt auch im Video]. Dann moderierte er stattdessen ein vorbereitetes Porträt von CSU-Chef Horst Seehofer an, das so unerwartbar war, dass der es in Zukunft als tabellarischen Lebenslauf verwenden könnte.
Gottliebs zweite Szene war ein Live-Interview mit den Spitzenkandidaten der vier Parteien mit den meisten Stimmen in Bayern. Es fiel unter den vielen Wie-fühlen-Sie-sich-nach-Ihrem-tollen-Tor-Interviews, die Reporter in der Mixed Zone eines Fußballstadions mit Spielern leisten, gar nicht weiter auf. Wenn die halt bloß Fußball gespielt hätten gestern.
In der "Tagesschau" – das ist diese Sendung, in der keine Meinungsumfrageergebnisse gezeigt werden, damit man sie nicht fälschlicherweise für eine Nachricht hält – stellte er dem Wahlsieger, CSU-Chef Horst Seehofer, und den Spitzenkandidaten der anderen im Landtag vertretenen Parteien einige Fragen, die mit Gottliebs erstem Satz ganz gut zusammengefasst sind:
"Herr Ministerpräsident, Glückwunsch!"
+++ Solche Gespräche gehören, genau wie ihre Nachbereitung – wie an dieser Stelle –, zu den Ritualen des Wahljournalismus. Ebenfalls dazu gehört eine kritische Betrachtung der Wahlforschungsinstitute, mit der am Freitag die FAZ beglückte und gestern die Welt am Sonntag. Während die FAZ, die selbst bis kurz vor einer Wahl Umfragen des Allensbach-Institut abdruckt, darauf abhebt, man wisse letztlich nicht, ob Wähler von Umfragen beeinflusst würden und wie, zeigt sich die WamS im Sonntagstitelthema eher skeptisch gegenüber der Wahlforschung.
"Das Problem der Zahlen ist: Sie stehen nicht für sich. Als Schlagzeilen landen sie in den Medien, im Internet, lösen Reaktionen aus",
schreibt sie und zitiert, natürlich zurecht, Kritiker der Umfragenflut. Nur eine Sache taucht in all den Betrachtungen über die Wahlforschung selten als veränderbare Variable auf: Die Auftraggeber vieler Wahlumfragen, speziell der Sonntagsfragen, sind Medienunternehmen. Die Umfragenflut zu kritisieren, aber die Auftraggeber als gegebene Größe zu akzeptieren, die nicht anders könnten als Umfragen auszuschlachten, ist ein wenig betriebsblind.
Die Rolle der Medien vor und für Wahlen in der repräsentativen Demokratie ist überhaupt das Thema des Wochenendes, das die wichtigsten Texte hervorbringt. Zu nennen wäre da an erster Stelle – Leseempfehlung – Nils Minkmars "Plädoyer für mehr Streit, mehr Ernst, mehr Politik" aus der FAS. Dass es nicht auf einer Medienseite steht, sondern auf der Feuilleton-Seite 1, liegt angesichts des Themas nahe, aber mediale Aspekte kommen darin prominent vor.
"Wenn man sich fragt: Wie können die in der Nachkriegszeit geschaffenen Werte wie Fairness am Arbeitsplatz, gerechte Vermögensverteilung, aber auch die Bürgerrechte in einer zusehends verrohenden, globalisierten und digitalisierten Welt behauptet werden, dann fühlen wir uns überfordert. Und beantworten stattdessen die Frage: Wie wirkt der Steinbrück auf mich? Bei Journalisten ist das perverserweise ganz besonders ausgeprägt. Statt zu prüfen, welche Vorschläge der Parteien für unseren Status in Europa besser wären, was den Geringverdienenden Entlastung verschaffen und den sozialen Frieden garantieren könnte, kümmern sie sich um Steinbrückiana von mittlerer bis kleiner Relevanz."
(Zum Mittelfinger kommen wir im Altpapierkorb, apropos.) Der Dreh zur Medienkrise, um die heute auch nochmal anzuschneiden, gelingt Minkmar im Anschluss:
"Schon das ganze Jahr lang hatten Journalisten auf Steinbrück irritiert reagiert, so als wäre eine wenig aussichtsreiche Kandidatur ein Ärgernis, welches überflüssige Kosten verursache. Genervt wurde die Person beschrieben, kaum die von ihm angesprochenen Themen. Dass sie mit dem Gegenstand ihrer Berichterstattung auch das Interesse an Politik und letztlich sich selber schrumpfen, schien ihnen nicht klar zu sein."
Hans-Jürgen Arlts und Wolfgang Storz' "Zwischenbilanz" genannte Einordnung der Wahlkampfberichterstattung von v.a. Bild-Zeitung und Bild am Sonntag für die Otto-Brenner-Stiftung fügt sich hier ein. Sie schreiben, zu lesen etwa bei Carta:
"Für Springers Boulevardmedien können wir es empirisch zeigen, für andere Medien nur als These formulieren. An der Politik interessiert eine steigende Zahl von Redaktionen nur eines: Was lässt sich hochziehen, um Aufmerksamkeit für das eigene Medium zu gewinnen, und wie lässt es sich so zuspitzen, dass auch andere Medien darüber berichten."
In Staffel 3 der Serie "The West Wing" wurde die Minkmar-Pointe in den Folgen "Kriegsverbrechen" und "Abgetaucht" schon vorweggenommen. Darin müssen sich die Kommunikationsberater des US-Präsidenten damit auseinandersetzen, dass ein Journalist etwas gehört hat, was nicht für seine Ohren bestimmt war. Ein Präsidentenberater, Toby Seagler, hatte gesagt, der Vize-Präsident habe bessere Umfragewerte habe als der Präsident, und letzterer werde nur wegen ersterem wiedergewählt. Der Journalist aber sagt im Gespräch mit der Pressesprecherin:
"Ich schreibe es nicht."
"Wieso nicht?"
"Weil's keine Nachricht ist."
"Meinen Sie das ernst?"
"Ja."
"Okay."
"Ich bin nicht gerne Stenograph. Und ich schreibe nicht gerne über Tratsch. Neulich beklagte eine Frau in einer Kolumne, dass sie zehn Jahre nur über Skandale schreiben musste. Als wären die Nachrichten an der Qualität des Journalismus schuld."
Fiction halt. Ebenso erwähnenswert wie die Minkmar-These ist die von Zeit-Online-Chefredakteur Jochen Wegner, vorgebracht am Wochenende bei der Fachtagung "Besser Online" des Deutschen Journalisten-Verbands. Sie lautet: "Alle Thesen zum digitalen Journalismus sind falsch." Mehr lässt sich dazu momentan nicht sagen, da die Aufbereitung in Tweets stattfand und folglich der Kontext nicht ganz eindeutig ist. Jedenfalls klingt die These originell und schon deshalb paradoxerweise sofort richtig. Wenn ich die weiteren Tweets von der Tagung – etwa: "mein digitaler Journalismus umarmt alle anderen Mediengattungen" – richtig deute, bedeutet sie, dass wir insgesamt in der Branche konstruktiv, kreativ, produktiv, nett zueinander und lustig sein dürfen. Rein theoretisch geht das absolut klar.
+++ Die Taz widmet heute ein zentrales Format – die regelmäßige und ausführliche Gabriele im Kultur-Teil – einem Wahl-Medien-Politik-Thema: einem Porträt von Regierungssprecher Steffen Seibert, der, "anders als einige seiner Vorgänger (...) nicht als eigenständiger politischer Kopf" gelte: "'Er passt zu Merkel wie die Faust aufs Auge. Er hat ihr absolutes Vertrauen, weil er verlässlich die Schnauze hält', sagt Dieter Wonka, Korrespondent der Leipziger Volkszeitung. 'Er ist in der Lage, vorausschauend Probleme zu erkennen und glättend einzugreifen. Aber aus journalistischer Sicht ist er eine einzige Enttäuschung.' Seibert lässt nichts durchblicken, das über die offiziellen Mitteilungen hinausgeht. Keine Stimmung, kein Detail. Und wenn Wonka 'Mutti' sagt und Merkel meint, weise er ihn jedes Mal zurecht: Das ist die Bundeskanzlerin. 'Er sieht sich eher als Dienenden als als Handelnden'" +++
+++ Über die Versuche von Politikern und Fernsehsendern, "möglichst alle Menschen mit allen Mitteln an die Wahlurnen zu treiben", schreibt die FAS, für die sich Stefan Niggemeier die jüngsten Wahlformate angeschaut hat: "Das Übermaß an Talkshows, Duellen, Reportagen, Dokumentationen und den ganzen schrecklich originellen Wahlsendungen, es wirkt, als wollte jemand kurz vor einem Date noch vier Jahre Fressen und Faulenzen ausgleichen, indem er zwei Tage fastend im Sportstudio verbringt. Vor allem aber vermittelt es mit der Fixierung auf das bloße Zurwahlgehen das Gefühl, dass das schon alles sei, was Demokratie ausmacht: Dass alle im Abstand von vier Jahren irgendwo ihr Kreuz hinmachen, selbst diejenigen, die – bis es ihnen ProSieben erklärte – den 'Bundestag' für einen Tag wie den Mittwoch oder den 1. Mai gehalten haben" +++
+++ Es gibt noch ein Fernsehformat, das heute von mehreren Zeitungen (SZ und Tagesspiegel) besprochen wird. Stephan Lambys "Das Duell" heute um 22.45 Uhr in der ARD. Es geht um die Konfrontation zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück +++ Der Spiegel widmet den Medienressorthaupttext Jan Böhmermann und anderen jüngeren Fernsehmachern +++
+++ Ein Platz in den Medienressorts gehört der Einstellung des Groschenhefts – wer den Anachronismus sehen will, wird ihn finden – "Der Landser" aus dem Bauer-Verlag. FAZ.net, Taz.de und SZ im heutigen Medienseitenaufmacher heben letztlich darauf ab, dass die eigentliche Nachricht daran lautet: Die Reihe existierte allen Ernstes bis heute. Um das Trauerspiel mit der SZ auf einen Punkt zu bringen: "Seit 1957 war sie der Inbegriff verherrlichender Trivialliteratur zum Zweiten Weltkrieg und deren erfolgreichster Titel. Als das Simon Wiesenthal Center jetzt das Verbot der Reihe forderte, stellte der Verlag es lieber ein. Der Rufschaden hätte wohl in keinem Verhältnis zu den Erträgen gestanden. (...) Ein kritischer Autor sprach einmal von einer 'Einstiegsdroge für Neonazis', freilich hüteten sich die Autoren, die nicht selten aus einem rechtsextremen Umfeld kamen, strafbare NS-Propaganda zu verbreiten" +++
+++ Die Personalie dieser Tage ist der Wechsel der stellvertretenden Bild-Chefredakteurin Marion Horn an die Spitze der Bild am Sonntag; der bisherige Chef Walter Mayer leaves the building. Die FAS schreibt dazu: "Von ihr wird man vermutlich eher andere Sätze hören als etwa jenen, den Mayer so gerne sagte: 'Müsst ihr immer im Privatleben dieser Prominenten herumschnüffeln?'" +++ Hintergründe erörtert die Berliner Zeitung: "Horn nach Diekmanns Rückkehr auf die Stellvertreter-Position zurückzurufen, wäre unfair, zumal sie sich aus Springer-Sicht bei der Entwicklung des Digital-Angebots Bild plus gemeinsam mit Bild.de-Chef Manfred Hart ihre Meriten verdient hat. Bei Springer zählt inzwischen nur noch Digitales. Dem bisherigen BamS-Chefredakteur Walter Mayer ist diese Welt fremd. Der 54-jährige Österreicher ist ein Geschichtenerzähler, ein Blattmacher, der im Grunde seines Herzens froh war, wenn ihm Diekmann, zugleich Herausgeber von Bild am Sonntag, nicht ins Werk funkte" +++
+++ Die Taz plant einen Neubau (Taz selbst, TSP), was bedeuten würde, dass sie die auf ihr Betreiben hin umbenannte Rudi-Dutschke-Straße verließe +++ Sehr unterschiedliche Einschätzungen des Steinbrück-Mittelfingers: Die Welt findet natürlich, er gehe gar nicht: "Darf der das? Er darf selbstverständlich nicht" +++ Die Taz sieht das vollkommen anders. Die "Welt schreibt vergnügt: 'Mit dem Stinkefinger indes lädt Steinbrück zur von ihm so wenig geschätzten Vergabe von 'Haltungsnoten' ein.' Womit, 'indes', der Rückfall ins bürgerliche Biedermeier der bigotten fünfziger Jahre vollendet wäre. Dazu fügt sich die reflexhafte Kritik von linksfeministischer Seite, beim Stinkefinger handele es sich um ein machohaftes 'Phallussymbol' – weswegen sich Frauen dieser Geste bekanntlich niemals bedienen würden, nicht wahr?" +++
+++ Im Tagesspiegel steht ein hübscher Selbstversuch: eine Woche nur mit Printzeitungen – crazy +++
Das Altpapier gibt es am Dienstag wieder.