Stühle- und Silberrücken

Stühle- und Silberrücken

Der "durchaus kompetente" Ingo Zamperoni soll wohl Nachfolger des Tom-Buhrow-Nachfolgers Thomas Roth werden. Google schreibt den deutschen Verlagen einen netten Brief. Der "Brennpunkt" als Kontrastmittel zur "Tagesschau". Die "Tagesthemen" von innen betrachtet. Die Grimme-Online-Awards. Der Spiegel auf Türkisch. Und Lob für Kai Pflaume.

"Wer", fragte Bundestagspräsident Norbert Lammert vergangene Woche bei einer Diskussion mit dem ARD-Vorsitzenden Lutz Marmor über die Öffentlich-Rechtlichen in Berlin, "stellt eigentlich irgendwann mal eine europäische Öffentlichkeit her? Dass die nicht ohne Beteiligung der Medien zustande zu bringen wäre, ist keine besonders kühne These."

Knapp eine Woche später tut ihm der Spiegel den Gefallen, die Experimente aufzunehmen: "Zum ersten Mal erscheint eine Spiegel-Titelgeschichte" – sie handelt vom "Aufstand gegen Erdogan""auch auf Türkisch", heißt es darin. "Nicht weil es den fast drei Millionen Deutschtürken an Deutschkenntnissen fehlen würde, sondern um ein Zeichen zu setzen. Denn die Ereignisse in der Türkei gehen alle an – Deutsche, Türken, Europäer."

Nebenbei erscheint der Spiegel "in deutlich erhöhter Auflage auch in der Türkei", blöd ist man ja nicht "an der Ericusspitze" (Meedia). Dass man mit einer solchen Aktion aber kurzfristig einen neuen Megamarkt erschließt, ist schwer denkbar. Insofern lassen wir das Ganze doch einfach so stehen: als gut gemeintes Zeichen, das seiner Gutgemeintheit wegen aber nicht schlecht ist. Für die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit – so außerhalb der Politik jemand das will –, bedürfte es allerdings wohl einer eigenen Agenda, nicht nur einer Übersetzung passender Themen aus dem Deutschen. Englischsprachige Medien gibt es schließlich schon, auch vom Spiegel.

+++ Die Medienmediennews des Wochenendes ist allerdings ein Stuhlrückevent der ARD. US-Korrespondent Thomas Roth "soll" (Tagesspiegel) "wohl" (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) bei den "Tagesthemen" Tom Buhrow nachfolgen, der kürzlich zum WDR-Intendanten gewählt worden ist. Nun geht die Einigung auf solch eine öffentlich-rechtliche Großpersonalie – speziell in der vielstimmig singenden ARD, dem Großchor unter den Öffentlich-Rechtlichen – nicht zwangsläufig ohne die eine oder andere Wenn-dann-Entscheidung vonstatten. So "soll" es "wohl" auch hier sein: Wie FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und, etwas ausführlicher, bei FAZ.net schreibt, soll die Nachfolge von Roth wohl gleich mitgeregelt worden sein werden. Wenn man schon mal zusammen sitzt.

In drei Jahren, wenn Roth in Ruhestand gehe, sei demnach – vom WDR unbestätigt – Ingo Zamperoni dran, der sich heute neben diversen Freundlichkeiten (juvenile Frische!) auch einige durch die Hintertür eintretende Lästereien gefallen lassen muss. Zumindest fallen Halbsätze, die er dereinst kaum in einer Laudatio anlässlich seines 80. Geburtstags hören wird: Er wird heute beschrieben als "der durchaus kompetente" (SZ) und "als Favorit gehandelte" (FAS) Ingo Zamperoni.

####LINKS#### Die einzelnen Medienredaktionen vertreten dabei heute genau die Positionen und Herangehensweisen im Nachrichten- und Einordnungsprozess, für die man jede einzelne von ihnen kennt und schätzt. So weiß der in öffentlich-rechtlichen Personalfragen kernkompetente Tagesspiegel gut Bescheid über Details der Regelung, die heute von den ARD-Intendierenden durchgewunken werden dürfte (20 Wochen Roth, 20 Wochen Miosga, 12 Wochen Zamperoni). Der im Meldung-Raushauen kernkompetente Focus haute die Roth-Meldung an die Agenturen raus. FAZ-Fernsehstrukturalist Michael Hanfeld geht prominent auf die "ARD-interne Anstaltslogik" ein ("Ein Mann muss es sein (eine Frau ist ja schon da) und er muss vom WDR kommen"). Die taz hat keinen Meldungsplatz mehr frei und sendet dem beliebten Fernsehpromi Roth einen "herzlichen Glückwunsch". Und für die SZ schreibt Hans Hoff eine kleine literarische Etüde über Thomas Roth, den "Silver Ager im wahrsten Wortsinne" (Artikeltext) bzw. "Silberrücken" (SZ-Überschrift, vermutlich im unwahren Wortsinn – siehe Foto). Außerdem geht es um die Vorgänge, deren Eintritt er, Hoff, bei der Intendantenrunde erwartet:

"Es wird sicherlich jemand anmerken, dass die ARD doch junge Gesichter brauche, dass man von Verjüngung nicht nur reden solle, sondern auch dementsprechend handeln müsse. Es wird hin und her gehen, aber dann wird sehr wahrscheinlich dem Wunsch des neuen WDR-Intendanten Tom Buhrow, der traditionell das Vorschlagsrecht für den zweiten Tagesthemen-Posten hat, entsprochen werden. Alles andere wäre eine kleine Sensation."

Falls es eine gibt, lesen Sie es morgen hier zuerst.

+++ Wo wir gerade bei den "Tagesthemen" sind, bleiben wir da doch gleich, es gibt relevante und interessante Texte zum Nachrichtenprogramm der ARD:

a) Carolin Emcke hat im Rahmen ihrer "Expeditionen" vier Tage lang bei den "Tagesthemen" zugeschaut und schreibt im Zeit-Magazin, jetzt online:

"Nachrichten werden gemacht. Sie werden nicht nur gesendet, sie werden auch gefertigt. Diesen Prozess gilt es zu hinterfragen: (...) Welche Werte strukturieren die Auswahl, wonach manche Themen oder Diskurse als relevant gelten und andere ignoriert werden? Was und wen repräsentiert die Repräsentation der repräsentativen Demokratie? Und was bleibt im blinden Fleck einer zur Neutralität gezwungenen Perspektive?"

Dass sie sich darüber wundert, dass es bei den "Tagesthemen" eine Themenplanungsliste gibt und man sich nicht einfach morgens überraschen lässt, wundert zwar mich ("Hier gehören Ereignisse antizipiert, angekündigt, ausgewählt – und eingetragen in Listen", lächelt sie über den Koloss "Tagesthemen", wobei das bei der taz und wahrscheinlich sogar bei der Zeit auch nicht anders funktioniert), aber der Artikel ist sehr lesenswert. Tom Buhrow kommt vor: "Während nebenan bei Tom Buhrow mannshohe Pappfiguren amerikanischer Politiker im Raum stehen, hängt im Büro von Miosga nur ein Schnappschuss von ihr und dem Krümelmonster aus der Sesamstraße." Und Emckes eigentliches Thema, das demokratische Mandat, natürlich auch:

"Wenn die ARD ihr demokratisches Mandat ernst nähme, würde sie dieser Redaktion, die mit zu den besten gehört, mehr Geld und mehr Sendezeit einräumen."

Und b) hat Peer Schader im Fernsehblog Argumente gesammelt, warum die "Tagesschau", deren Konzept kürzlich von Claus Kleber als sich überlebend kritisiert wurde (was von der "Tagesschau" zurückgewiesen wurde), moderiert werden sollte und nicht gesprochen:

"Die ARD hat mit ihrer Nachrichtenstruktur ein ganz gravierendes Problem. Weil ihr Seriositätsflaggschiff, die 'Tagesschau', nicht dafür gemacht ist, Nachrichten über die reine Meldung hinaus zu erklären und zu gewichten. Genau das ist es aber, was zählt, wenn sich die Ereignisse überschlagen."

Dann nämlich komme der "Brennpunkt", "eine viertel- bis dreiviertelstündige Nachrichtensimulation (...), die mit dem Arsch einreißt, was die 'Tagesschau' vorher aufgebaut hat", moderiert von den Chefredakteuren der ARD-Anstalten:

"Ausgerechnet bei Großereignissen, wenn seriöse Nachrichten, Bildschirmerfahrung und Vertrautheit für die Zuschauer am wichtigsten wären, opfert die ARD ihre Kompetenzen in diesem Feld dem Zuständigkeitsgeschacher ihrer Anstalten".

+++ Und dann ist da noch die Google-Front an diesem medienmedial durchaus sommerlich zu nennenden Montag. Die FAZ schrieb am Samstag: "Nachdem Google alle Hebel in Bewegung gesetzt und auch seine Nutzer angespitzt hat, um das Leistungsschutzrecht für Presseverlage zu verhindern, welches die Bundesregierung dann doch beschloss"... An der Stelle fühlte ich mich erstmal so gut informiert, dass ich die Originalquelle für die Nachricht suchte, einen Text von Gerrit Rabenstein, der bekanntlich nichts weniger als Strategic Partner Development Manager Google Deutschland ist, in einem Google-Blog. Darin steht:

"Vor wenigen Wochen wurde in Deutschland ein Gesetz verabschiedet: das Leistungsschutzrecht für Presserverlage. Im Lichte dieser Entwicklung und vor dem Hintergrund der rechtlichen Unsicherheit, die von dem Gesetz ausgeht, haben wir ein neues Bestätigungssystem eingeführt. Mit diesem bieten wir deutschen Verlagen eine weitere Möglichkeit, uns mitzuteilen, ob ihre Inhalte (weiterhin) bei Google News angezeigt werden sollen."

Klingt sehr geschäftsmäßig und ist natürlich auch nur die halbe Wahrheit. Die FAZ fasst es so:

"Google (...) will von den Verlagen sozusagen eine Lizenz, ohne Vergütung, versteht sich. Wer nicht mitmacht, fliegt raus."

Oder mit den Worten eines Blogs, das via Bildblog hier eben noch reinschneit:

"Google hat dem Gesetz jetzt den eigentlichen Todesstoß gegeben".

Was allerdings erst noch zu beweisen wäre.


ALTPAPIERKORB

+++ Etwas größer in den Medien ist zum einen die Google-Datenschutz-Geschichte, die, außer in der ebenfalls Samstags-FAZ, auch im Spiegel steht. Es geht um die Verknüpfung und Auswertung von Nutzerdaten, gegen die europäische Länder, darunter Deutschland, nun vorgehen. Der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar sagt im Spiegel-Interview: "Google hängt zwischen den Stühlen. Es will das Vertrauen seiner Nutzer zurückgewinnen, und das geht nur mit Offenheit. Bisher verpflichtet die US-Regierung den Konzern aber zur Verschwiegenheit" +++ Und was ebenfalls zu den Themen des Tages gehört, ist die Petition für Netzneutralität des Physikstudenten Johannes Scheller, die in taz und SZ vorgestellt wird +++

+++ Der Kreml höchstselbst wolle nach einer "penibel recherchierten Titelgeschichte über Putin-Freunde" in Forbes den Axel-Springer-Verlag, der das Magazin in Russland herausgibt, aus dem Land drängen, schreibt der Spiegel +++ Letzterer gewinnt gewissermaßen nach 14 Jahren einen Beef mit Radfahrer Jan Ullrich: 1999 hatte der Spiegel geschrieben, Ullrich habe gedopt; es gab eine einstweilige Verfügung; jetzt wurde sie aufgehoben. Die entsprechende Geschichte von 1999 steht allerdings derzeit (noch?) nicht im Online-Heftarchiv +++

+++ Wird Prism unsere Lust an am Körper tragbarer (oder implantierter) Technik, von Google-Glasses bis Headcams, in irgendeiner Weise schmälern?, fragt TechCrunch +++

+++ Die Grimme-Online-Awards wurden verliehen, u.a. an Der Postillon und den Hashtag #aufschrei – wobei vor allem letzteres erwartungsgemäß auch für allerlei Pöbeleien sorgt, die man dementsprechend wenig ernst nehmen muss, aber auch für eine auf den ersten Blick ernstzunehmende Auswertung der #aufschrei-Tweets: "In der von uns untersuchten Stichprobe bezogen sich also 3 Tweets auf die ursprüngliche Intention von Anne Wizorek. Rechnet man diesen Wert auf die angegebenen 90.000 Tweets hoch, so ergäbe das eine Anzahl von 1.350 Tweets im Sinne des #aufschreis. 1.350 Tweets bezogen auf eine Bevölkerungszahl von knapp 82 Millionen Einwohner der BRD (Stand Dezember 2011) bedeutet eine Quote von 0,00165%". Wenn man dann noch bedenkt, dass eine quantitative Auswertung allein niemals die Bedeutung erfassen wird, wird einem die Lektüre der Auswertungsergebnisse wohl nicht schaden +++

+++ Der Obama-Besuch hinterlässt Anlass zur Medienkritik: "Die Medien selbst erzeugen (...) erst die Aufmerksamkeit, über sie dann berichten – wobei sich ihr Publikum dafür zumeist noch nicht einmal interessiert. Journalisten bleiben oft in der selbstreflexiven Schleife gefangen, wo sie nur noch anderen Journalisten ihre Eindrücke schildern. Dabei haben aber fast alle nur ein historisches Referenzmodell im Kopf, um den Besuch Obamas zu beurteilen: Kennedys berühmte Rede vom 26. Juni 1963." Schrieb Frank Lübberding bei wiesaussieht, seit dem Wochenende auch als Crosspost bei Carta. Und er kommentiert: "Es ist offenkundig völlig unsinnig, die Rede Kennedys mit der von Obama zu vergleichen. Trotzdem macht es fast jeder Berichterstatter. Die Medien erzeugen jenen Mythos, dem sie am Ende in ihrer historischen Ahnungslosigkeit selbst zum Opfer fallen. Damit werden sie zu einem Teil der Mythologisierung" +++ In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ist der Obama-Besuch ebenfalls Medienthema, wobei – ups, das ist ja der Kennedy-Besuch, um den es da im Aufmacher geht: "Es ist ein Tag, der nicht erst im Rückblick historisch werden wird; es ist auch das deutsche Fernsehen, das von Anfang an entschlossen war, ihn zu einem historischen Tag zu machen". Ein paar Sätze zu den medialen Einordnungen Obamas gibt es in der Spalte daneben +++

+++ Zum Fernsehen: Klaudia Wick in der Berliner Zeitung und Hans Hoff in seiner DWDL-Kolumne loben Kai Pflaume für "Zeig mir deine Welt" +++ Die FAZ und der Tagesspiegel besprechen den Bad-Kleinen-Film "Zugriff im Tunnel" vom Egmont R. Koch (ARD, 23.30 Uhr) +++ Die SZ schreibt über eine Göttinger "Tatort"-Analyse +++ Die taz fasst, wie die FAZ am Samstag, die vielfältigen Reaktionen in Polen auf die Ausstrahlung von "Unsere Mütter, unsere Väter" dort zusammen: "Die Deutschen, so der Vorwurf vieler Schreiber im Netz, würden sich noch immer als die den Slawen kulturell überlegenen Übermenschen begreifen. Hier hohe Literatur, dort Knoblauchwurst und Eintopf. In der Sonntagsausgabe der Gazeta Wyborcza plädierte der Journalist Pawel Wronski für mehr Gelassenheit" usw.  +++

+++ Götz George gibt bereits erste Interviews zum ARD-Dokudrama "George", in dem er seinen eigenen Vater spielt, und das am 22. Juli auf Arte und am 24. Juli in der ARD ausgestrahlt wird (Spiegel). Ein Filmfoto schmückt auch bereits die Online-Ausgabe des Tagesspiegels +++

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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