Konzert der Großen

Konzert der Großen

Feuilleton wirkt manchmal ein bisschen wie "DSDS" für Hochbegabte. Hat der FDP-Politiker Hahn ein Rassismus- oder vielleicht nur ein Grammatikproblem? Zahlreiche Kommentare zur Debattenkultur. Und wir schüren hier gezielt keine Empörung über die ekelerregenden biologistischen Auswürfe der total widerlichen New York Times

Sieben Seiten Spiegel, vier Seiten Focus, Aufmacher des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Sie dürfen raten, was das Thema ist. Na?

Ich dachte ja zunächst, Mann, das wird ja mal wieder ein Hammereinstieg: Zählste einfach die Seiten durch, und dann alle so, uff... Bayern spaltet sich ab? Energiewende gewendet? Neues EU-Instrument in aller Kürze der Öffentlichkeit vorgestellt? Halbrunder Geburtstag von Bob Dylan? Irgendein klassisches Großereignis also? Aber nee, eigentlich kommt man dann doch drauf: Sieben Seiten Spiegel, vier Seiten Focus, Aufmacher des FAS-Feuilletons – da erscheint natürlich ein Buch.

Es handelt sich um Frank Schirrmachers kapitalismuskritisches Buch "Ego". Man kann sich den medial recht breit aufgestellten Sonntagsleser angesichts der Dolby-Surround-Beglückung mit Texten darüber als Besucher eines Konzerts der Großen vorstellen. Ouvertüre in der FAS, Protokoll eines kaum zusammenfassbaren Gesprächs ("Der Ort des ökonomischen Werts hat sich ins Verlangen des Individuums verlagert") mit der Sozialpsychologin und Philosophin Shoshana Zuboff, in dem weder Buchtitel noch Name des FAZ-Herausgebers auftauchen, das aber sein Thema gut einkreist. Dann Hauptwerk im Spiegel – ein Essay von Schirrmacher:

"Die Informationsökonomie bewertet Gefühle, Vertrauen, soziale Kontakte genauso wie Aktien oder Waren und sie hat, zum ersten Mal in der Geschichte, die technischen Mittel, dies verblüffend perfekt zu tun. Es ist etwas anderes, ob man bei einem Geschäft oder einer Auktion wie selbstverständlich davon ausgeht, dass es für den anderen rational sei, nur an sich zu denken, einen über den Tisch zu ziehen, oder ob das soziale Leben selbst immer mehr zu Geschäft und Auktion wird, eine Welt der Ich-Vermarktung, die glasklaren ökonomischen Regeln folgt."

Es folgt eine Verteidigung seiner kapitalismusskeptischen Thesen gegenüber Jan Fleischhauer, der in der Spiegel-"Hausmitteilung" als Kapitalismusverteidiger anmoderiert wird, dann aber gar nicht so schlimme Schienbeintritte austeilt, er hält nur einmal mit der Kneifzange das Wort "links" in die Diskussion. Anschließend, wie um die Debatte zu befeuern, Kritik im Focus: "Frank Schirrmachers Buch 'Ego' über die Macht der Märkte erntet Widerspruch", inklusive Meinungen von Richard David Precht, Paul Nolte und Peter Sloterdijk (auch auf die drei Namen wäre man wahrscheinlich zügig gekommen).

Buchveröffentlichungen sind Bastionen der Agenda-Setter. Und ach so, nicht dass wir uns missverstehen: Ich finde es richtig und gut, dass über dieses Buch gesprochen wird. Es gibt offensichtlich auch Sachbücher, die nicht strunzreaktionär sind, die sich nicht über die "Wird man ja wohl"-Schiene verkaufen wollen und die trotzdem eine mediale Erregungskurve auszulösen im Stande scheinen. Aber in dieser Kolumne geht es bekanntlich um die medialen Aspekte der Dinge. Man stelle sich also vor, das Buch hätten wortgleich Claudia Roth oder Katja Kipping geschrieben, was sie wahrscheinlich nicht getan hätten: Hätte Jan Fleischhauer dann nicht stärker zugetreten und eigentlich nur Witze über Hippies und Biometzger gemacht? Hätte der Focus extra Sloterdijk aus dem Fernsehsessel geklingelt?

Mitausschlaggebend für das publikationsübergreifende Vertrauen in die Relevanz des Buchs, das von heute an, darauf kann man getrost wetten, durch alle Medien gehen wird, ist (abgesehen von Schirrmachers erwiesener Fähigkeit, viele kleine Aspekte eines Themas zu einer großen Erzählung zu verschmelzen) ein biografisches Zuckerl, das der Spiegel in der "Hausmitteilung" vorlegt: "Schirrmacher hat sich gewandelt, vom Verteidiger des Kapitalismus zu einem vehementen Skeptiker". Läuterung kommt seit der Bibel gut. Die daraus resultierende fehlende Hermetik erklärt nebenbei den derzeitigen politlagerübergreifend guten Ruf des FAZ-Feuilletons, in dem die Debatte über die "systemische Krise" vor einigen Jahren mit Beiträgen begann, die ungewöhnlicherweise auch vom System selber sprachen (siehe "Die Zukunft des Kapitalismus", hrsg. von Frank Schirrmacher und Thomas Strobl, edition suhrkamp 2010).

Und außerdem sorgt die mitschwingende Behauptung des Lebensbruchs, den es für Schirrmacher nun zu bewältigen gälte, wenn er ihn wirklich erlitten hätte, dafür, dass Debattenfeuilleton manchmal ein bisschen wie "DSDS" für Hochbegabte wirkt. Erst wird die Bio gecheckt, und wenn sie krass genug ist, können wir über Inhalte reden.

Jedenfalls: "Ego – Das Spiel des Lebens", Blessing-Verlag. Wir werden wahrscheinlich darauf zurückkommen, spätestens, wenn "Günther Jauch" die Sendung "Wo bleibe ich, wenn alle um mein Ego zocken?" beiträgt und Frankie Plasberg eine mit dem Titel "Me, myself and I – und Gäste sind auch gekommen".

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+++ Völlig recht hat auch ein anderer großer Zeitungsmacher, Kurt Kister, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, und zwar damit, sich nicht kirre machen zu lassen, wenn um ihn herum alle irgendwelche Hashtags benutzen:

"Als Journalist sollte man vorsichtig sein, wenn man sich über die Empörungskultur empört. Sie rührt ja nicht nur vom Gekeife des Schwarms im Netz her, sondern auch von der Vielzahl der Kommentatoren in Zeitungen, Radio und Fernsehen, von denen viele stets bereit sind, sich über alles aufzuregen, was sich nur missverstehen lässt."

Schöner nachvollziehbarer Einstieg: Die anderen nerven, wir Journalisten aber auch. Und stimmt auch noch. Anschließend erläutert er einen Grund seiner Einlassung:  "die Aufregung um den hessischen FDP-Politiker Hahn." Wir erinnern uns an das Hahn-Zitat aus der Frankfurter Neuen Presse:

"Bei Philipp Rösler würde ich allerdings gerne wissen, ob unsere Gesellschaft schon so weit ist, einen asiatisch aussehenden Vizekanzler auch noch länger zu akzeptieren."

Unbedingt ein Fall für Bastian Sick, vielleicht auch einer für die Meinungsforscher – "Wählen Sie die FDP eher wegen des Aussehens des Vizekanzlers nicht oder vielleicht eher aus den vielen anderen Gründen?" –, aber in der Tat kaum geeignet, Rassismus nachzuweisen. Gleich schlecht für Aufregung geeignet als  ALS? Zu Hilfe! wie Hahns Zitat, findet Kister das den Peerblog (siehe Altpapier vom Freitag):

"Ein SPD-Sympathisant, der früher mal als digitaler Anti-CDU-Kämpe in Nordrhein-Westfalen reüssierte, wollte Steinbrück ins Kanzleramt bloggen, bezahlt von anderen SPD-Sympathisanten. Ja und?"

Dieses "Ja und?" hat mich doch beschäftigt. Ja und? Sechsstellige Summen von anonymen Unternehmern, um eine Publikation zu unterstützen, für die der Kanzlerkandidat seinen Namen gibt? Na ja, ja und. Die FAS jedenfalls widmete dem Thema die zweite Seite, und ich ordne das "Ja und?" hiermit ein unter Inflation des Empörungsvorwurfs: Wenn zu viel herumempört wird, wird irgendwann jedes Thema, das andere mehr beschäftigt als einen selbst, unter irrationaler Empörung verbucht. Markus Hesselmann, Onlinechef des Tagesspiegels, hat dazu ganz hübsch was zusammengefasst:

"Wer diskussionsmüde ist oder selbst in der Kritik steht, kann Themen, die im Internet mit Euphorie und Engagement von vielen Menschen debattiert werden, auf diese Art vom Tisch wischen. Sexismus-Debatte? Shitstorm! Plagiatsdebatte? Shitstorm! Debatte um rassistische Begriffe in Kinderbüchern? Shitstorm! Der Shitstorm-Vorwurf kann der Debattenkultur genauso schaden wie der tatsächliche Shitstorm."

+++ In Kürze nun noch weitere Erregungskommentare – denn die Empörung über, je nach Perspektive, Klein- oder Großigkeiten und ihre Verbreitungswege, kurz: die Debattenkultur bleibt ein Hauptthema der Medienbeobachter dieser Tage:

Ulrich Schulte schreibt in der taz über Annette Schavans Rücktritt:

"Schavans Arbeit war ein Grenzfall, man hätte ihn – so legen es viele kundige Stimmen aus der Wissenschaft nahe – auch anders entscheiden können. Ihre Vergehen liegen drei Jahrzehnte zurück, hätte Schavan damals, sagen wir: ihren Professor krankenhausreif geprügelt, wäre diese Gewalttat längst verjährt. Deshalb verwundert die Selbstgewissheit, mit der manche Kommentatoren im Internet den Stab über Schavan brechen."

Heribert Prantl leitartikelt in der SZ, streng in der Bildkomposition:

"Die Demokratie ist kein Schweinestall, auch wenn es immer wieder Sauereien gibt. Und die Politiker sind nicht die Hausschweine der Demokratie, sondern allenfalls ihre Sündenböcke. Aber es ist Mist, wenn das politische Geschäft auf ein paar dämliche Worte eines Politikers am Abend an der Bar, auf törichte Interviewäußerungen, auf Vortragshonorare, auf Scheinprobleme also und auf Oberflächlichkeiten reduziert wird."

Und Heiko Werning debattiert im taz-Reptilienfonds-Blog die Debattenbeiträge Harald Martensteins zu den Themen "Juden, Neger und Weiber":

"So unterschiedlich diese Diskussionen im Detail auch sind, immer gleich sind die Reaktionen des prototypischen deutschen, weißen Mannes, den wir im Folgenden einfach Max Mustermann nennen wollen. Ach nein, das ist irgendwie zu abgegriffen, also: Nennen wir ihn doch einfach Harald Martenstein."

Sowie, zu guter letzt, die geschätzten Kollegen von der New York Times, die sich nach Berliner Schwaben und "Wetten, dass..?" nun anlässlich des Schavan-Rücktritts auch der deutschen Debattenkultur annehmen; hier mal übersetzt:

"Im Heimatland der Schadenfreude verweist der Eifer, mit dem akademische Betrügereien enttarnt werden, durchaus auf gewisse teutonische Merkmale, etwa die strenge Beachtung von Prinzipien und Schlaubergerei. 'Ich denke, viele Deutsche haben ein Polizei-Gen', sagt Dr. Rieble."

Man könnte sich eigentlich prima über Dr. Riebles biologistisches Denken empören. Gene! Aber vielleicht lassen wir das heute mal, hm?


ALTPAPIERKORB

+++ Am Freitag habe ich hier die FAZ korrigiert, was mir, oder wem auch immer, die FAS jetzt heimzahlt mit einer Korrektur meiner Korrektur. Ich: "Hinter  dem Peerblog steckt(e) als Betreiber der Düsseldorfer Berater und Ex-Focus-Redakteur Karl-Heinz Steinkühler, von dem der Stern (nicht der Spiegel, den die FAZ nennt) schrieb, er gehöre zum Blog 'Wir in NRW'"... +++ Und die FAS: "Im April 2010 enttarnte Wolfgang Lieb, unter Johannes Rau Regierungssprecher, ein Mann vom linken SPD-Flügel, auf seinem Blog einen der Autoren: Karl-Heinz Steinkühler" +++ Ich möchte ergänzen, dass diese Enttarnung auf den Nachdenkseiten am 29. April 2010 um 9.16 Uhr stattfand +++

+++ Carl Bergengruen, Leiter der ARD-Tochter "Studio Hamburg", verteidigt im Spiegel das deutsche Fernsehen gegen seine Kritiker, zumindest gegen allzu plumpe Anwürfe: "Wir sollten endlich das typisch deutsche Schablonendenken beiseitelegen, was eine künstlerisch wertvolle und was eine schlechte Serie ist. Denn das verhindert Kreativität. 'Gut und Böse, das langweilt mich', sagt David Simon, Erfinder der Serie 'The Wire'. Das wäre doch vielleicht ein Ansatz" +++

+++ Die Knallermedienmeldung: "Raab ins Kanzerduell", so überschreibt der Spiegel ein Interview mit ProSiebenSat.1-Beirat Edmund Stoiber, der das fordert, um Nichtwähler und Jugend für den Sender, oder war's die Politik?, zu interessieren (hier auch als Online-Meldung). Peter Limbourg, der sozusagen Nachrichtenchef, hätte womöglich einen Grund, sich dazu zu äußern. Zumindest alle anderen haben es mittlerweile getan, ich natürlich auch – und ich stehe leider nicht zur Verfügung, Karriere geht vor +++

+++ Der Guardian, zu dem Wolfgang Blau, bis vor kurzem Chefredakteur von Zeit Online, wechselt, ist Thema bei Zeit Online: "Der Londoner "Guardian" gilt als eines der besten Nachrichtenmedien im Internet. Aber wenn nichts passiert, ist er bald pleite. Ein Lehrstück" +++ Die Zeit ist Thema der taz vom Samstag: "Die Zeit meldet einen Auflagenrekord – und dennoch gönnt sie sich kein Leben im Überfluss" und macht "gleich zwei Büros im Ausland dicht, davon eines mit großer Tradition", das in Moskau +++

+++ Bernd Gäbler schreibt im Tagesspiegel über Fernsehkarneval im Allgemeinen und Besonderen: "Nun hat sich Stefan Raab am Samstagabend auf Pro7 vorgenommen, auch den Fernseh-Karneval aufzumischen. Noch blieb seine 'tv-total-Prunksitzung' etwas unentschieden zwischen Parodie und volle Pulle mitmachen" +++

+++ Die SZ, genauer: Hans Hoff, der in der Zeit auch als Vorsitzender der Grimme-Preis-Nominierungskommission zum "Dschungelcamp" befragt wird, das seine Jury nominiert hat, hat sich nicht nur den Karneval mit Stefan Raab angesehen, sondern auch Anke Engelke zum Gespräch getroffen, nun, kurz vor der nationalen Vorauswahl für den Eurovision Song Contest, die sie moderiert +++

+++ Bertelsmann-Experte Thomas Schuler führte in der Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau ein in der Form erstaunliches Selbstgespräch über die Pläne von Konzernchef Thomas Rabe +++

+++ Noch ein Empörungstext, am Samstag auf der Medienseite der FAZ: "Das Internet ist das Medium des Herdentriebs und ein Tummelfeld der Mitläufer. Man sollte die Gefahr der seuchenartigen Verbreitung faschistischer Hassaufrufe zur Abwertung und Verfolgung von Minderheiten nicht überbewerten. Neben der Emanzipation und Freiheit, denen das Internet nicht nur in totalitären Staaten zum Durchbruch verhelfen kann, fördert es in der offenen Gesellschaft genauso die Entfremdung und Verrohung. Doch verwies der Europarat schon vor Jahren darauf, dass sich der 'Hass im Internet' in Frankreich auf üblere Weise als in den anderen Ländern des Kontinents breitmache" +++

+++ SZ und FAZ melden, dass Sarah Ferguson, James Blunt, Hugh Grant und weitere Prominente, die von Mitarbeitern der eingestellten britischen Murdoch-Zeitung News of the World abgehört worden waren, entschädigt werden müssen +++ In Ägypten werden Videoportale gesperrt, sschreibt die taz +++ Die Rudolf-Vogel-Medaille, die von der vom Auswärtigen Amt finanzierten Südosteuropa-Gesellschaft vergeben wurde, heißt nun "Journalistenpreis der Südosteuropa-Gesellschaft: "Rudolf Vogel hatte unzählige antisemitische Hetzartikel verfasst, was aber erst auffiel, als der diesjährige Preisträger den Preis nicht annehmen wollte (Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung) +++

+++ Heute in der FAZ: eine Besprechung der französischen Miniserie "Bartolis Gesetz" (ZDFneo, 21.50 Uhr) +++ Der Spiegel schimpft dagegen auch im Print auf die "Goldene Kamera": "Es ist peinlich, zumal das ZDF sich ausgerechnet an jenen Verlag verkauft, dessen 'Bild'-Zeitung bei nächster Gelegenheit wieder Gebührenverschwendung wittert. Für Springer und 'Bild', und das wirkt schon wieder raffiniert, ist die 'Goldene Kamera' also doppelt hilfreich: als Reklameplattform und Beweis für die Unfähigkeit der Öffentlich-Rechtlichen zugleich" +++ Die taz bespricht die ab Mittwoch laufende ARD-Vorabendserie des BR, "München 7" ++

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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