Journalisten im Wahrnehmungstunnel: Wen interessiert eigentlich ein "total ödes" Buch? Sat.1 hat Lizenzierungsprobleme - was nebenbei schwer auf offene Medienaufsichtstrukturfragen hindeutet. Und Sky Atlantic, der HBO-Sender, startet.
Haben Journalisten sich in einem selbstgebauten Wahrnehmungstunnel verrannt, dessen Innenwände mit Buzzwords wie "Sarrazin" besprüht sind? Heute jedenfalls scheint es, als sei die ganze Aufregung, die schon vorab erzeugt worden war (siehe etwa Altpapier vom Montag), irgendwie unwirklich. Denn eines haben die meisten Berichte über Sarrazins Buchvorstellung in Berlin gemeinsam:
Sie behandeln a) den riesigen Medienauflauf. "Das Blitzlichtgewitter, das ihn empfing, erinnerte an einen Popstar – oder vielleicht dem, wenn uns die Bundeskanzlerin über den Austritt aus dem Euro informiert hätte", schreibt freitag.de. "Am Ausgang befragen Journalisten andere Journalisten", heißt es bei Spiegel Online. "An die 200 Journalisten und fast 20 Fernsehkameras sind zur Präsentation seines neuen Buches in das vornehme Berliner Hotel Adlon gekommen. Fast zwei Stunden lang harren sie aus und warten auf das, was bei Sarrazin eigentlich garantiert erschien: Die Provokation", so die Berliner Zeitung.
Und sie handeln b) davon, dass es eine ziemlich langweilige Veranstaltung gewesen sei. Weiter die Berliner Zeitung: "Doch der ehemalige Berliner Finanzminister und Bundesbanker enttäuscht sein Publikum." Oder stern.de:
"Warm war's im Saal des Nobelhotels Adlon in Berlin. Vielleicht deshalb haben die Journalisten ununterbrochen gegähnt."
Der Stern war es gewesen, der am Donnerstag die Titelgeschichte Sarrazin widmete, ohne - "Bitte beachten Sie die Sperrfrist" - auf das eigentliche Sujet, Sarrazins Buch, überhaupt einzugehen. Seit gestern Abend nun heißt es bei dessen Onlineverwandter:
"(D)er ehemalige Finanzpolitiker ('Sachlichkeit und PR sind kein Widerspruch') hat sein neues Buch der Presse vorgestellt. Und 'Europa braucht den Euro nicht' ist demnach in Form und Inhalt vor allem eines: ziemlich öde."
Und das hätte man sich theoretisch natürlich auch vorher überlegen und sich den Startschuss für die Welle einfach sparen können. In der Schweizer NZZ, der man vielleicht stärker eine Beobachter- als eine Teilnehmerperspektive unterstellen kann, fasst Rainer Stadler die Causa Sarrazin... nein: die Causa "Medien über Sarrazin" zusammen: "Hilflos strampeln sie mit im System der Vermarktung, das sie verdammen."
Die wahre Souveränität im Umgang mit Sarrazin2 erweist sich diesmal darin, Sarrazins Buch entweder einfach wie ein Sachbuch zu behandeln, wogegen sehr wenig spricht – oder gar nicht. Diese Souveränität ist vorhanden. Sie fällt nur normalerweise niemandem auf. Deshalb, bitte sehr: Die Süddeutsche Zeitung besprach das Buch lediglich recht nüchtern, die taz meldete klein irgendwas mit Sarrazin ebenfalls, und, wie am Montag schon erwähnt, Der (gedruckte) Spiegel verschwieg das Erscheinen des Buchs erstmal. Wen habe ich vergessen? Wird nachgetragen. Bitte um Kommentar oder Tweet (@altpapier).
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Die Medienseitenberichterstattung kreist derweil heute vornehmlich um klassische Medienseitenthemen: Lizenzfragen und Fernsehprogramm. Heute startet etwa ein neuer Kanal des Pay-TV-Senders Sky, Sky Atlantic, der sich versteht
"als Zuhause von HBO – jenem US- Bezahlfernsehen, das in den vergangenen Jahren einen Serien-Hit nach dem anderen produziert hat, teilweise mit kinoähnlichem Aufwand",
wie der Tagesspiegel schreibt. Ob damit (sowie mit Fußball und vielleicht auch noch Harald Schmidt) das deutsche Pay-TV nun mal durch die Decke geht? Man wird sehen: HBO-Serien werde zwar "per se Qualität" unterstellt (Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau), die Serie, "von der man noch in 30 Jahren sprechen wird", habe HBO aber derzeit nicht im Programm, wie Marcus Kirzynowski zitiert wird, der Herausgeber des Serien-Magazins Torrent.
Sarah Mühlberger kommt in der Berliner Zeitung dennoch zum Schluss, dass die Zeit von HBO nicht vorbei sein muss; die Schlüsse für Sky kann man sich selbst ziehen:
"Womöglich hat HBO auch jetzt Serien im Programm, die erst im Laufe der Zeit zu Legenden werden. Besonders gespannt darf man auf 'Newsroom' sein, die im Juni startende Serie von 'West Wing'-Macher Aaron Sorkin, der sich nach seinem Oscar für 'The Social Network' nun wieder dem Fernsehen widmet. Die Erwartungen sind hoch: Schließlich ist es HBO. Und solange das so ist, muss man sich um den Sender keine Sorgen machen."
"Newsroom", eine Serie über Journalisten, dürfte Medienjournalisten schöne Einstiegssätze für ihre Artikel liefern. Auch Bild Online begeht heute übrigens den ersten Tag von Sky Atlantic würdig, mit einem Lob für "unsere Sibel". Gemeint ist Sibel Kekilli, die in der heute in der zweiten Staffel startenden Serie "Game of Thrones" spielt: "Seit dieser Rolle ist auch ganz Amerika verrückt nach Sibel Kekilli (31)!" Da wird Kekilli sich freuen, dass sie, nicht erst seit heute freilich, ins Bild-Wir integriert ist. 2004 hatte sie Bild noch von einer Bühne aus gebeten, ihre "üble Hetzkampagne" gegen sie zu beenden.
Während, um darauf zurückzukommen, Sky, die kommende Heimat von Harald Schmidt, jedenfalls einigermaßen steil zu gehen versucht, steht Sat.1, Schmidts alter Sender, vor ganz anderen Problemen.
"Die Kommission für Zulassung und Aufsicht (Zak) der Landesmedienanstalten hat am Dienstag zwar die zum 1. Januar 2013 für die Sender Pro Sieben, Kabel 1 und Sixx neu beantragten Sendelizenzen – und damit verbundene Wechsel von einer Landesmedienanstalt zur anderen – gebilligt, den Beschluss über den Antrag von Sat.1 aber vertagt",
schreibt die FAZ (S. 31). Sehr komplizierte Geschichte insgesamt, die ins Innerste des deutschen Mediensystems führt. Die größeren Privatsender müssen Programmflächen unabhängigen Dritten zur Verfügung stellen. ProSiebenSat.1 hat für seine Sender neue Lizenzen beantragt, für Sat. 1 etwa in Hamburg. Und im Fall von Sat.1 "hat der Konzern ein spezielles Interesse", so die Süddeutsche (S. 15):
"Man will die jüngste Entscheidung über die Vergabe der Drittsendelizenzen nicht hinnehmen. Die Landesmedienanstalt Rheinland-Pfalz in Ludwigshafen hat den Zuschlag kürzlich erneut an die Produzenten Alexander Kluge (dctp) und Josef Buchheit (News and Pictures) vergeben, die seit Jahren ein Monopol auf diese Sendezeiten besitzen, was in der Tat an sich schon Fragen nach der Rolle einer Medienaufsicht aufwirft. Sat1 klagt gegen die Entscheidung, die man mit dem Wechsel als hinfällig betrachtet. Dass man auf Vorteile hofft ('medienrechtliche Optimierung') ist kein Geheimnis. Im Konzern herrscht die Erwartung, dass die Drittsendezeiten in Hamburg neu ausgeschrieben werden."
Was aber nicht ausgemacht ist. Die FAZ meint:
"Die Medienanstalten insgesamt arbeiten (...) auch mit diesem Streit an ihrer Abschaffung. Es gibt nicht wenige Medienpolitiker, die anstelle der Behörden in den Ländern eine Medienanstalt für alle fordern."
+++ Peer Schader hat sich für die FAZ (S. 31) das Programm von Einsplus, dem Digitalkanal des SWR, angeschaut, der sich als Jugendkanal geriere, und ist einigermaßen entsetzt: "Zum einen funktioniert Fernsehen für junge Zuschauer nicht automatisch dadurch, dass Moderationen mit vermeintlicher Jugendsprache vollgepumpt werden und das Bild vor schnellen Schnitten zittert" +++
++++ Ulrike Winkelmann sinniert in der taz über die Auswirkungen des Internets und der immerwährenden Verfügbarkeit von Artikeln für Journalisten: "Wie so viele naheliegende, technisch aber schwer realisierbare Ideen wurde zuletzt auch die Forderung nach einem 'digitalen Radiergummi' verworfen, nach einem Recht von Privatpersonen, ihre Daten aus dem Netz zu löschen. Keine Chance für Teenager, die auf Jobsuche ihre alkoholsatten Partyfotos wieder unzugänglich machen wollen. Gar nicht so weit entfernt von diesem Teenager aber ist auch der Journalist, dem auffällt, dass sein Text nicht für die Ewigkeit gedacht war, sondern eigentlich bloß für den nächsten Tag" - die Rede ist zum Beispiel von Kolumnen. "Denn es ist ein Unterschied, ob die Glosse über den Liebeskummer des Mitbewohners bloß ein paar Wochen noch in der WG eine gewisse Rolle spielt – oder ob sie die Redakteurin noch einholt, wenn sie längst zum Beispiel Rundfunk-Intendantin werden will". Und andererseits muss man eben sagen: Wenn jemand nicht Intendantin wird, weil sie Jahre vorher mal über Liebeskummer geschrieben hat, dann klemmt's schon eigentlich anderswo +++
+++ Im Fernsehen: Der ZDF-Film "Schattenkrieg", der sich letztlich mit der Rolle des Mossad für das israelisch-iranische Verhältnis beschäftigt, liefere nichts Neues, kritisiert die SZ: "Wenn der Mossad in Iran Wissenschaftler tötet, lässt er sich dabei nicht vom ZDF über die Schulter schauen". Weshalb der Film dann auch zur Unzeit laufe – um 0.45 Uhr nämlich +++ Die FAZ schreibt: Korrespondent Christian "Sievers hat nicht mehr zu bieten als Vermutungen – die Dienste schweigen. Doch der Atomkonflikt bietet ihm einen Anlass, die Methoden und Überzeugungen der israelischen Geheimdienstler zu untersuchen. In Interviews mit ehemaligen Agenten, darunter zwei ehemaligen Leitern des Mossad, schafft der Korrespondent Einblicke in das moralische Selbstbild einer Organisation, deren Mitglieder sich als die letzte Bastion gegen die jederzeit drohende Vernichtung ihres Staates betrachten und dabei alle Mittel für gerechtfertigt halten". Kritisiert wird die "James-Bond-Optik" +++
+++ Gut besprochen wird der ARD-Spielfilm "Inklusion" über zwei junge Leute, die trotz ihrer Behinderungen auf Regelschulen gehen sollen. "Bei einer Geschichte, die sich um Behinderte und Behinderung dreht, besteht nach wie vor sehr viel Angst, so zum Beispiel die Angst, behinderte Menschen könnten durch die exemplarische Darstellung ihres Lebens diskreditiert werden. Aber zu viel political correctness ist nur tödlich. Behinderte sind schließlich keine Heiligen, sondern immer noch Menschen. Inklusion ist da, ja, anders, näher an der Realität, spielt clever mit Hollywood-normierten Erwartungen und zeigt unaufgeregt, dass Gemeinschaft möglich, aber eben nicht unbedingt einfach ist" (SZ) +++ Der Tagesspiegel scheint den Film ebenfalls zu mögen: "Dieser Film ist von der Art: Idee trifft auf Wirklichkeit, und alles gerät aus der Bahn, auch die Idee. Aber die Wirklichkeit wird schon bei diesem ersten Test eine andere. Und die Idee könnte sich regenerieren, wenn man ihr die Schulhelfer und die Barrierenfreiheit finanziert. Diesen Optimismus leistet sich der Film" +++
+++ Eine dritte Programmbesprechung: "Dies ist kein Film", original "In Film nist", auch bekannt als "This is not a film", läuft heute auf Arte (23.10 Uhr). Es handelt sich, einige werden sich erinnern, um den Film des iranischen regierungskritischen Filmemachers Jafar Panahi, der von einem Freud 2011 nach Cannes geschmuggelt wurde, woran die FAZ und der Tagesspiegel in ihren Besprechungen erinnern +++ Zudem läuft die zehnteilige Webserie "The Confession" mit Kiefer Sutherland, zum Spielfilm geschnitten, bei TNT Serie (SZ) +++
+++ Aus der Wissenschaft: Der Tagesspiegel fragt Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Interview nach dem Wesen des Skandals in digitalen Zeiten +++ Sat.1 setzt (siehe u.a. SZ) "Eins gegen Eins" mit Claus Strunz fort, allerdings erst 2013 +++ Und bei vocer schreibt Sportjournalistik-Professor Thomas Horky über eine zentrale Frage des Sportjournalismus: "Die Berichterstattung über Doping scheint eines der größten Probleme des Sportjournalismus zu sein. Weil sie Fragen aufwirft, denen sich dieses Ressort eigentlich nicht stellen möchte. Soll man über ein Thema berichten, obwohl die Zuschauer, Zuhörer und Leser dann abschalten oder wegsehen? Es ist nachweisbar: Doping schmälert die Quote, mindert die Auflage - wie also mit so einem Thema umgehen?" +++
Das Altpapier stapelt sich wieder am Donnerstag.