Das Handelsblatt erweckt einen verstorbenen Intendanten zum Leben, und eine TV-Serie stirbt wegen toter Pferde. Außerdem: Ein Ex-Bundesminister kämpft gegen öffentlich-rechtliche „Kulturbarbarei“.
„Als Erstes sollte man mal ganz ehrlich sein: So viele 68er wie heute hat es 1968 gewiss auch nicht gegeben.“ Das klingt auf den ersten Blick nicht nach einem Was-mit-Medien-Text, und dennoch widmet sich der Artikel, aus dem diese launige, aber nicht unernst gemeinte These stammt, einem medialen Phänomen. Vertreten wird sie von Bernd Ulrich, dem stellvertretenden Chefredakteur der Zeit, und das immerhin auf der Titelseite des Wochenblatts. Er bringt die These vor, um jenen entgegen zu treten, die bei der „Bewegung aus den Kinderzimmern“, die durch die Internet-Kampagne zur Fahndung nach dem ugandischen Warlord und Massenmörder Joseph Kony mobilisiert wurde, keine wahre Politisierung erkennen können oderwollen. Ulrich ist nämlich einigermaßen euphorisiert darüber, dass „ein Film (...) im Netz plötzlich Millionen junger Menschen für Politik interessiert“. Der hochrangige Zeit-Mann hat noch einen weiteren historischen Exkurs parat, um die aktuellen Geschehnisse einzuordnen: Von den Friedensbewegten der 1980er Jahre hätten
„viele nicht mehr gemacht, als einen Appell gegen Mittelstreckenraketen zu unterschreiben (so eine Art Klicken mit Tinte)“.
Klicken mit Tinte! Gab es je ein hübscheres Bild für das Phänomen der Unterschriftstellerei? Anderswo wird mittlerweile allerdings auch Kritik laut an „Kony 2012“. Die Neue Zürcher Zeitung erwähnt zwar, dass der Film „die singende Susan Boyle der Show ‚Britain's got Talent‘ als ‚viralstes‘ Video überhaupt abgelöst“ hat, kritisiert aber auch „die Banalität des Sentimentalen“. Unter Verwendung des Tools Storify, die die Einbindung überdurchschnittlich vieler Quellen ermöglicht, liefert Andreas Jahn einen statistikreichen Überblick über die Debatte:
„Nach einer beispiellosen Welle der Solidarität mit den Filmemachern hat sich in den letzten Tagen auch immer mehr Skepsis breit gemacht. Zahlreiche Blogger und seriöse Zeitungen werfen der Organisation Invisible Children eine unzulässige Vereinfachung des Konflikts in Uganda vor. John Vidal von der britischen Zeitung The Guardian spricht in einem Video-Interview gar von ‚Manipulation‘. Die Kampagne ziele – in der Manier der Filme Hollywoods – darauf ab, die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Dem Zuschauer werde das Gefühl vermittelt, durch den Kauf eines ‚Action-Kits‘ dieses Böse eliminieren zu können. Tatsächlich seien die Macher vor allem auf Spendengelder aus. Was mit diesen Geldern tatsächlich geschehen soll, bliebe nebulös.“
Am Mittwoch hatte bereits Zapp, das Medienmagazin des NDR darauf hingewiesen, dass das Vorhaben der hinter der Kampagne stehenden Aktivisten „zunehmend umstritten“ sei. Die Washington Post berichtet nun darüber, wie „Kony 2012“ bei einer öffentlichen Vorführung in Uganda aufgenommen wurde. Unter anderem seien Felsbrocken auf die Leinwand geworfen worden, schreibt das Blatt. Parodien, etwa diese gerappte (siehe Screenshot), gibt es auch schon, wie Global Voices berichtet. Das ist angesichts der Tatsache, dass es sich um das „viralste“ Video ever handelt, natürlich nicht verwunderlich.
[+++] Noch wortgewaltiger als der eingangs zitierte Bernd-Ulrich-Text über die Wirkungen des Kony-Fahndungsfilms kommt in der aktuellen Zeit ein medienjournalistischer Beitrag eines prominenten Gastautoren daher. Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) und heutige Vorsitzende des Deutschen Kulturrats in NRW ist erbost, und zwar deswegen:
„Die beiden hochrangigen Orchester des Südwestrundfunks in Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg sollen aus Gründen der Kostenersparnis in der heutigen Form nicht weiter bestehen. Alle vom SWR vorgeschlagenen Alternativen haben die Zerschlagung der Orchester zur Folge und damit die Zerstörung zweier in Jahrzehnten unter namhaften Dirigenten gewachsenen Ensembles.“
Der Sender behandle „seine Klangkörper wie einen Wirtschaftsbetrieb, dessen Marmeladenproduktion er fusioniert“. Alternativen? Hat der Liberale auch parat:
„Der Sender sollte sich lukrativen Sparpotenzialen in anderen Bereichen widmen. Muss denn die ARD zum Beispiel außerordentlich teure Sportrechte in Konkurrenz zu den privaten Sendern einkaufen?“
Da bringt Baum dann möglicherweise doch Äpfel und Glühbirnen durcheinander. Und als seien die Begriffe „Zerschlagung“ und „Zerstörung“ nicht genug, schreibt er am Ende auch noch, was der SWR vorhabe, grenze an „Kulturbarbarei“. Jedenfalls, so Baum, brauche es eine ähnliche Gegenbewegung wie „die Radioretter“, die sich zum Widerstand gegen Reformen bei WDR 3 formiert haben (siehe beispielsweise dieses Altpapier). Über den Streit um die WDR-Kulturwelle schreibt heute noch ausführlich Anne Burgmer für die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau.
[+++] Ebenfalls als eine Attacke auf die Öffentlich-Rechtlichen war wohl eine Bildergalerie gemeint, die das der Zeit unternehmensverwandtschaftlich verbundene Handelsblatt produziert hat. Hier sind unter großen Fotos der öffentlich-rechtlichen Intendanten deren Gehälter aufgeführt. Kann man machen - wenn da nicht folgende drei Sätze gewesen wären:
„Fritz Raff ist Intendant des Saarländischen Rundfunks. Er steht seit 14 Jahren an der Spitze des Senders. Raff verdient 210.000 Euro im Jahr.“
Ein gewisser Wahrheitsgehalt verbirgt sich immerhin hinter der Zahl 14 - zumindest insofern, als Raff vor 14 Monaten verstorben ist. Um 13.33 Uhr wurde der Beitrag mit dem lebenden Toten am Donnerstag ins Netz gestellt. Die Funkkorrespondenz wies kurz vor 17 Uhr via Twitter auf den Fehler hin, aber vielleicht grassierte beim Handelsblatt gestern die Grippewelle, oder ein Praktikant feierte Ausstand. Jedenfalls tat sich nichts, und auch heute morgen um 9.30 Uhr war das Malheur noch nicht behoben (Update 11.45 Uhr: mittlerweile ja, aber ohne dass der vorherige Fehler erwähnt wird). Es ist ja immer viel die Rede von der Schnelligkeit des Internets, von den exzeptionell verbesserten Möglichkeiten, auf Fehler schnell reagieren zu können, auch dank der Aufmerksamkeit der Nutzer - aber in diesem Fall griffen diese Mechanismen nicht.
Muss sich durch diesen Lapsus nun besonders der jetzige Intendant Thomas Kleist, der sich im April 2011 bei der Wahl zu diesem Posten „nach langem Gezerre mit nur einer Stimme Vorsprung im siebten Wahlgang“ durchsetzte (Handelsblatt damals), angegriffen fühlen, weil es mit Medienthemen befasste Journalisten gibt, die noch nicht bemerkt haben, dass er jetzt an der Spitze des Senders steht? Oder muss der gesamte SR die Causa als Affront auffassen?
Die zeitweilige Wiederauferstehung Fritz Raffs ist nicht die einzige Seltsamkeit rund um die Intendanten-Bilderstrecke. Einige der Kommentare, die unter dem Beitrag aufgeführt sind, stammen aus dem September 2011: „Sozialismus pur. Ein Schlaraffenland für diese Nichtsnutze“, pöbelt da irgendein Halbnazi in Richtung Senderchefs. Es kann sich dabei ja eigentlich nur um einen Kommentar zu einem älteren Artikel handeln.
[listbox:title=Artikel des Tages[Kony 2012 - Die Banalität des Sentimentalen (NZZ)##SWR-Orchester retten! Kulturbarbarei stoppen! (Zeit)##Die neue Strategie von Spiegel Online (Tagesspiegel)]]
[+++] Fundamentalkritik an den Medien findet man wieder mal bei publikative.org. Es geht um das Missverhältnis bei der Berichterstattung über Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Einerseits sei „die Aufmerksamkeit“ für das Unglück der Costa Concordia, das sich vor rund zwei Monaten ereignete, „bis heute ungebrochen“ (tatsächlich gab es in dieser Woche noch hier und hier Berichte), andererseits sei es dagegen praktisch kein Thema, dass im vergangenen Jahr „1.500 Migranten und Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind" bzw. wahrscheinlich ertrunken sind, weil sie als vermisst gelten:
„Der Glamour-Faktor der Opfer aus der dritten Klasse ist auch eher überschaubar, zumeist junge Männer ohne Geld (...) ertrinken irgendwo im Mittelmeer. Kameras sind keine dabei, auch die wenigsten Journalisten interessieren sich für diese Menschen, während bei der Costa Concordia ganze Sendeteams nach Italien geschickt wurden.“
[+++] Viel Resonanz findet das vom Tagesspiegel organisierte Twitterinterview mit Steffen Seibert, der früher beim ZDF war und heute für Mutti spricht. „Netter PR-Gag, aber sonst als Dialog eher enttäuschend“, meint Netzpolitik. Die SZ schreibt, das Geschehen stelle
„man sich am besten vor wie eine sehr große Pressekonferenz, bei der die Anwesenden so laut so viel Unsinn durcheinanderbrüllen, dass der Befragte nur ungefähr jede 40. Wortmeldung akustisch verstehen kann. Und hin und wieder kommt er dann dazu, eine der Fragen auch zu beantworten. Der Unterschied zur Pressekonferenz liegt natürlich darin, dass man die sehr vielen Fragen hinterher nachlesen kann - und thematisch, das muss man sagen, wurde da von angeblich krebserregender Milch bis zur Lieblingsfarbe der Kanzlerin kaum etwas ausgespart.“
Um Seiberts Lieblingsmusik ging es auch. Die bemerkenswert gelangweilte Antwort: „Irgendetwas von Mac Miller, den Titel kenne ich nicht.“ Die FAZ witzelt:
„Vielleicht handelt es sich beim Regierungssprecher auch schon um einen vollautomatisierten Computer, der auf seiner Festplatte immer die richtigen Antwort parat hat.“
Und Spiegel Online schreibt über die Aktion in Verbindung mit einem Bericht über den Besuch von Twitter-Mitgründer Jack Dorsey bei Seiberts Chefin.
Altpapierkorb
+++ Apropos Spiegel im Netz: „Wo Spiegel Online draufsteht, steckt künftig weniger Spiegel drin - zumindest, was die Anzahl der Texte angeht.“ Über die neue Web-Strategie des Nachrichtenmagazins schreibt der Tagesspiegel.
+++ Die im Rennbahnmilieu angesiedelte HBO-Serie „Luck“ (siehe Altpapier) wird eingestellt, weil mittlerweile drei Pferde zu Tode gekommen sind. „Zwei Pferde waren bereits während des Drehs der ersten Staffel verunglückt“, schreibt die SZ, „doch als sich beim Beginn der Arbeit an der dritten Staffel dann noch ein weiteres Pferd verletzte“ (das mittlerweile eingeschläfert wurde), gingen die American Humane Association und vor allem die Organisation People for the Ethical Treatment of Animals auf die Barrikaden.
+++ Mehr HBO: Andreas Kilb preist auf der FAZ-Medienseite die Serie „Mildred Pierce“ von Todd Haynes, die seit kurzem beim Pay-TV-Kanal TNT zu sehen ist: „Einen Fünfteiler, der nicht episodisch, sondern rein filmisch erzählt, der kein Story-Puzzle legt, sondern einen einzigen Faden bis zum Ende verfolgt, ein Frauenporträt, das zugleich das Bild einer Epoche ist, das hat es in diesem Rahmen noch nicht gegeben. Ein amerikanischer Tolstoi, das ist ‚Mildred Pierce.‘“
+++ Kaum überraschend: Michael Hanfeld verteidigt Joachim Gauck in einer Illner-Frühkritik (faz.net)
+++ Über eine Veranstaltung mit dem Nahostkorrespondenten Karim El-Ghawary (taz, ORF u.a.) in Wien berichtet der Standard. Für ihn blieben „oft andere Bilder im Kopf, als er im TV herzeigen könne. Als Beispiel berichtet er von einem Krankenhaus in Tripolis: ‚Die Leichen sind seit einer Woche in der Sonne gelegen.‘ Den Geruch bekomme man nie mehr aus der Nase, die Bilder nur schwer aus dem Kopf.“
+++ Über den am Montag im ZDF laufenden Teamworx-Event-Film „München 72 - Das Attentat“ habe ich für die Jüdische Allgemeine geschrieben. Wenn schon Rainer Tittelbach, „der Fernsehbeobachter mit dem weitesten Herz“ (Altpapier vom Mittwoch), nicht zufrieden ist mit dem Werk, will das schon etwas heißen: „Der Film funktioniert nicht wirklich. (...) Die Umsetzung bleibt blutleer, die Handlung wirkt zerfasert, den Figuren fehlt die Kraft zu echten Charakteren.“
+++ Einen gedankenspielerischen Blick in das Jahr 2014, in dem seit einem Jahr das Leistungsschutzrecht gilt, wirft Constanze Kurz in ihrer FAZ-Kolumne „Aus dem Maschinenraum“. Sie malt sich aus, dass dann die Plattform FreeNews, eine Art Google-News-Ersatz entstanden sein wird: „Aus einem Community-Projekt, in dem Freiwillige Nachrichten, Blogs und soziale Netzwerke auswerteten und aktuelle Meldungen des Tages umformulierten und priorisierten, entstand FreeNews. Die Aktiven des Projektes nutzten ausreichend gut funktionierende Übersetzungssoftware, um auch ausländische Zeitungs- und Twittermeldungen automatisiert ins Deutsche zu übertragen. (...) Nach nur einem Monat meldete schon das erste Blog, dass über die Hälfte der Surfer über FreeNews zu einem Artikel gelangt seien. Da hatte das FreeNews-Projekt längst begonnen, deutsche Zeitungsmeldungen automatisiert zusammenzufassen, natürlich Snippet-frei – formuliert und umgeschrieben von einer Software.“
+++ Wie man derzeit ohne Google News und andere Produkte des Konzerns leben kann, bringt uns der ZDF-Blog Hyperland bei.
+++ Zum Thema Occupy und die Medien eine Bestandsaufnahme im Magazin The Nation: „The traditional media are already losing interest. Six months in, with an election year under way, Occupy is old news. To be fair, part of the problem for reporters is that Occupy, sprawling and leaderless from the get-go, is even more difficult to report on without encampments providing a central meeting ground. Even the most dedicated participants find it impossible to keep abreast of everything that’s going on locally and nationally within their movement. (...) More important, the movement has to figure out how to define itself outside media cycles, mainstream or otherwise.“
?+++ Darüber, wie deutsche Netzaktivisten arabische Reformer unterstützen, berichtet das Hive-Magazin.
+++ Weniger Erbauliches zum Thema Berichterstattung aus den arabischen Ländern: Die taz berichtet, dass das Goethe-Institut zwischenzeitlich den von ihm betriebenen, wohl all zu militärkritischen Blog Transit abgeschaltet hat.
+++ Außerdem in der taz: Steffen Grimberg fragt den Zeitungsforscher Horst Röper, wer eigentlich genau bei der WAZ das Sagen hat, und was das beispielswise für den Geschäftsführer Christian Nienhaus bedeuten könnte.
+++ Die Äußerungen, die der sozialdemokratische Apartheid-Experte Sigmar Gabriel nach einem Aufenthalt in Hebron auf seiner Facebook-Seite meinte publizieren zu müssen, greift der Tagesspiegel mit einer Replik auf. Die Berliner Morgenpost fasst die Reaktionen von Politikern zusammen.
+++ Aktuelle Geburtstage: Die NZZ am Sonntag wird zehn Jahre alt (persoenlich.com).
+++ Fake-Twitter-Accounts sind ja eigentlich sooo 2011, und vielleicht ist es ein bisschen einfach, sich über Jeff Jarvis lustig zu machen - aber das hier ist, um es mit Deichkind zu sagen, dann doch leider geil: „Change 2.0 is very much like the Terminator: it absolutely will not stop, ever.“