"Gottschalk Live" geht los, Andy Warhols Selbstvergewisserungsheft "Interview" erscheint in Deutschland, der Boulevard wird verteidigt, und dann wäre da noch der tägliche Wulff
Äh, sorry, aber hat mal jemand aufs Datum geschaut? 23.01.2012. Der Tag, an dem Thomas Gottschalks neue Show – sagt man eigentlich Show? – anfängt, enthält die große Weltverschwörungszahl 23. IST DAS WIRKLICH ALLES ZUFALL???
Antwort: Ja, klar ist das Zufall. Kein Zufall, sondern normaler Bestandteil des medialen Betriebs ist, dass am Tag vor den ersten Onlinekritiken noch die letzten Einführungstexte über "Gottschalk Live" publiziert werden, heute etwa im Tagesspiegel, der, wie man so sagt in der Branche, "kalt" berichtet, also ohne Primärkontakt zum Berichterstattungsobjekt, dafür mit Zitaten aus anderen Medien, etwa aus Gottschalks Stern-Interview:
"'Die Zuschauer können sich darauf verlassen: Ich mache weiter Unterhaltung.' Nicht als Journalist oder Moralist, sondern als Stimme aus dem Volk."
Natürlich kann der Name Gottschalk aber in diesen Tagen nicht fallen, ohne dass auch irgendwo primär über "Wetten, dass..?" gesprochen wird. Bitte sehr: Der Spiegel nennt Jörg Pilawa als Wunschnachfolger des ZDF für die "Wetten, dass..?"-Moderation, was man angesichts der Tatsache, dass im selben sehr kurzen Text auch Markus Lanz und Joko&Klaas als Kandidaten genannt werden, allerdings als Witz verstehen muss, der sich karnevalsgemäß als zitierenswerte Nachricht verkleidet hat.
Ein weiterer "Gottschalk Live"-Beitrag steht auf DWDL, es handelt sich um ein Interview mit Sendungsredakteur und Creative Director, Carsten Wiese und Jens Bujar, die sowohl das Alltägliche, Oberflächenverhaftete, im Grunde ja Gottschalkische des Themenzugangs der neuen Sendung betonen: "Wenn ein Empfang im Schloss Bellevue war, laden wir einen der Gäste des Bundespräsidenten ein, um mit ihm Wulffs Handschlag zu analysieren. War er locker? Hatte er schwitzige Hände?" Als auch das Anti-Elitäre: "Wir möchten eine Sendung der Mitte machen und holen dafür den Boulevard nach oben und schieben das Feuilleton etwas nach unten."
Was in der Abstraktheit erstmal sympathisch klingt, konkret aber alles Mögliche bedeuten kann. Man wird es sehen. Wie gut die Sendung anstaltsintern qualitätsinhaltlich und handwerklich beurteilt werden wird, steht dann morgen auf ARD-Videotextseite 447.
[listbox:title=Artikel des Tages[Über Anne Sinclairs neuen Job (TSP)##Was Gottschalk vorhat (DWDL)##Der Boulevard (Welt)##Wulff als Flick gelesen (FAZ.net)]]
[+++] Das Stichwort "Boulevard" und das letzte Interviewzitat führen zum Themenkomplex Christian Wulff (Foto), der es heute wieder auf die Titelseiten und oben auf die Startseiten schafft. Beziehungsweise führen sie uns, da uns an dieser Stelle bekanntlich die medialen Aspekte interessieren, zur Zeitung namens Bild. Man liest den folgenden Absatz zu Bild hoffentlich nicht völlig falsch, wenn man ihn im Kontext der hier und da Bild-kritischen medialen Einlassungen über die Wulff-Berichterstattung liest:
"(W)er sich eine Welt ohne Boulevardmedien wünscht, will eine Welt, in der der einfacher gestrickte Teil der Bürger von vielen Informationen ausgeschlossen wäre. Doch nicht nur deshalb sind Boulevardzeitungen für Demokratien unerlässlich. Sondern auch, weil sie auf eine ruppige Weise egalitär sind."
Hieß es dieser Tage bei der Bild-Schwester Welt, die also in einem sauber argumentierten Debattenbeitrag den Beweis erbringt, dass man Bild jederzeit verteidigen müsste – sobald jemand versuchen würde, sie zu verbieten. Anders gesagt: Ist ja auch eine Aussage, dass man in einer Verteidigung von Bild, die als Verteidigung des Boulevardjournalismus getarnt ist, mit dem Grundgesetz und einem Nordkorea-Vergleich wedeln muss.
[+++] Ebenfalls ein wenig um den Boulevard, hier allerdings vorrangig unter dem Aspekt der Schaffung von Deutungshoheit, geht es in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die die dieser Tage erscheinende erste deutsche Ausgabe von Interview (oder auch "Andy Warhol's Interview" vorstellt). Finanziert u.a. von Bernd Runge, dem ehemaligen Deutschland-Chef von Condé Nast (siehe Altpapierkorb). Warhol
"agierte ein gutes Jahrzehnt lang nicht nur als Schutzpatron des Magazins, sondern etablierte auch ein typisches Artikelformat, indem er verschiedenste Berühmtheiten nicht von kritischen Journalisten befragen ließ, sondern sie in betont oberflächliche, oft beim abendlichen Ausgehen geführte Gespräche von Celebrity zu Celebrity verwickelte, deren Abschriften dann unredigiert ins Heft gepackt wurden."
Auch die deutsche "Interview" folge diesem Warholschen Prinzip:
"Wo die 'Vanity Fair' Debatten anstoßen wollte, sich zu diesem Zweck aber in Themen einklinkte, die vom täglichen Boulevard schon längst durchgearbeitet waren, da macht es die 'Interview'-Redaktion in den besten Momenten des Heftes wie Warhol mit seinen Stars – und behauptet sie einfach, anstatt sie aufzuspüren."
[+++] Direkt um die zum Teil als maßlos kritisierte Wulff-Berichterstattung ging es am Sonntagabend bei "Günther Jauch", in dessen Sendung Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo als Kritiker von a) Wulff und b) medialen Moralaposteln zu Gast war und über sein eigenes Interviewbuch mit Karl-Theodor zu Guttenberg sagte: "Es war mit Sicherheit ein Fehler, dieses Buchprojekt zu machen." Und zwar: weil man den Eindruck habe bekommen können, "dass mich nicht journalistische Interessen leiteten", oder dass er, was ihn "sehr getroffen" habe, kommerzielle Interessen dabei verfolgt hätte.
Ist notiert. Eigentlich aber ging es um etwas anderes bei Jauch, dessen Sendung selbst weder bei FAZ.net noch bei berliner-zeitung.de besonders gut wegkommt: etwa darum, dass "die Medien" allmählich manchem auf die Nerven gehen. Die FAZ sieht in der Online-Frühkritik hier Parallelen zur Flick-Affäre und zitiert zum Beweis aus einem Spiegel von 1983:
"Die Übung, den 'Skandal' (Kohl) bei denen zu suchen, die ihn publik machen, gehört zu den offenkundig unentbehrlichen Ritualen der Politiker, die sich den Schein der weißen Weste wahren wollen. (...) Bei einem Skandal dieser Dimension geht es nicht um das Recht der Presse, sondern um ihre Pflicht, Alarm zu schlagen. (...) Das Publikum, so scheint es, ist abgestumpft."
Wahrzunehmen ist darüber hinaus, dass Journalisten verstärkt in Frontstellung gegen die Kritik an ihrer Arbeit zu gehen scheinen, nach dem Motto: "Wir machen nur unseren Job." Diese Kolumne wäre ein Beispiel dafür, es gibt weitere:
"Kann man uns eigentlich nicht einfach in Ruhe lassen? Damit wir unseren Job erledigen? Denn tatsächlich sind die meisten Menschen, die in den so genannten Medien arbeiten, Profis, Menschen also, die diesen Job einmal gelernt. Menschen, die wissen, was sie tun."
Genau wie mancher Medienjournalist übrigens, aber das vielleicht nur nebenbei.
Altpapierkorb
[+++] Mit einem längeren Text über Condé Nast macht die SZ (S. 15) ihre Medienseite auf und schreibt: "Wired, das intellektuelle Magazin zu Netz und Kultur, wird (nach einem vorsichtigen Probelauf im Herbst) 2012 zunächst zweimal erscheinen. Es ist eine neue Entwicklung, dass sich Condé Nast mit einem Titel so vorsichtig auf den Markt tastet. Als Myself 2005 herauskam, waren die Zeiten für den Medienmarkt sicher nicht rosiger. Trotzdem hat man mit aller Konsequenz an den Titel geglaubt" +++
+++ Person des Tages, neben Gottschalk natürlich, ist Anne Sinclair, die "Frau von Dominique Strauss-Kahn", wie sie in BLZ/FR und TSP gleichermaßen eingeführt wird, weil sie jetzt die französische Ausgabe der Huffington Post leitet +++
+++ Der Rest ist Programm: "Die Lehrerin" mit Anna Loos im ZDF bekommt eine begeisterte Kritik in der FAZ ("sehr, sehr sehenswert"; S. 29) und eine gute im Tagesspiegel +++ Eine Arte-Serie über das Ende des Sozialismus lässt Helmut Höge in der taz etwas unbefriedigt zurück +++ Ebd. geht es um "Piraten in der Politik" (ARD) +++ Und in der SZ besprochen wird "Der Markencheck: H&M" (ARD) aus der Reihe "seichte Dokus" für die Quote +++
Das Altpapier stapelt sich morgen wieder.