Großes Talkshow-Theater in der Zeit: im Dossier und auf DVD (Helmut Schmidt raucht schon wieder!). Außerdem: Innovatives vom IT-Gipfel. Lohnt sich "Hotel Desire"?
Die prallvollste deutsche Medien-Wundertüte, zumal im wörtlichen Sinne, bleibt Die Zeit. Letzte Woche fielen aus dem dicken Blatt das, wie wir an dieser Stelle natürlich sagen: stets lesenswerte Magazin chrismon (downloaden?) sowie, aus dem sowieso wöchentlich beiliegenden Zeit-Magazin, das Hamburg-Werbemagazin des Süddeutschen Verlags (downloaden?) heraus.
Diese Woche enthält die Wochenzeitung außer einem sich hochwertig matt-vierfarbig anfühlendem Literatur-Heft noch etwas ganz Feines: eine DVD, die zwei große Namen der aktuellen Gesprächsbuch-Szene zum Jahresrückblick zusammenbringt - nicht KT zu Guttenberg und Peer Steinbrück, jedoch immerhin Helmut Schmidt und Giovanni di Lorenzo.
Die Gratis-DVD verdankt sich einerseits "freundlicher Unterstützung" der sonst durch Dirk Nowitzki-Werbepenetration bekannten Dibadibadubank IMG-Diba. Andererseits dient sie als dezenter Appetizer für die "herausragende", "herausragende", "herausragende", "herausragende" (shop.zeit.de) DVD-Edition "Helmut Schmidt: Sein Jahrhundert, sein Leben" im Sammelschuber, die "exklusiv nur bei der ZEIT!" auf solche Besteller wartet, denen es doch zu doof wäre, zu Weihnachten Guttenberg-Bücher zu verschenken.
Im harten Tagesgeschäft bleibt am Morgen weder Zeit, den von der NDR-Tochter Studio Hamburg produziertern 58-Minuten-Film durchzuhören, ob sich der Altkanzler z.B. zum Freiherrn äußert, noch anzurecherchieren, ob denn die Gesprächssessions di Lorenzos und zu Guttenbergs zur gemeinsamen Zeit-Interview- und Bucherstellung nicht auch gefilmt wurden und vermarktbar wären. Rein visuell betrachtet, wäre der Ex-Doktor dem Altkanzler doch mindestens ebenbürtig (ganz zu schweigen vom Ereignischarakter, den die deutsche Erstaufführung seines neuen Outfits entfalten könnte...).
Was sich jedoch im schnellen Vorlauf anrecherchieren ließ: Helmut Schmidt raucht schon wieder! (allerdings nicht vor Saalpublikum; siehe Screenshot).
Dazu hier bloß noch, weil uns im Altpapier außer dem Content auch die anderen Wertstoffe am Herzen liegen, der Hinweis an Leser, die sich Die Zeit halt zum Lesen kaufen:
"Aus ökologischen Gesichtspunkten ist es viel zu schade, die CDs und DVDs einfach in den Hausmüll zu werfen und damit der Verbrennung oder Deponierung zuzuführen."
[+++] Das harte Tagesgeschäft kann inhaltlich und topografisch nahtlos anschließen: Mitten in der Zeit steht heute auf den drei prallvollen Seiten des Dossiers (17-19) eine "Rezension des wöchentlichen ARD-Talkshow-Marathons", Überschrift "Die Volkstherapeuten". Feuilletonredakteur Peter Kümmel, ein ursprünglicher Theaterkritiker, der auch alle paar Absätze durchblicken lässt, dass er ursprünglich Theaterkritiker war, hat sich eine Woche lang sowohl intensiv dem ARD-Getalke gewidmet als auch mit den Talkern getalkt:
"Alle Moderatoren waren bereit, mit mir zu reden und mich bei ihrer Arbeit zusehen zu lassen, alle außer Frank Plasberg. Vielleicht verweigert er allen 'Zeit'-Autoren, fair, aber hart, schon deshalb das Gespräch, weil in diesem Blatt vor wenigen Jahren ein Plasberg-kritischer Artikel erschienen ist."
Wobei sich ein Zeit-Reporter von so etwas nicht beirren lässt. Er wallrafft eben:
"In seiner Sendung saß ich aber doch - unerkannt im Saalpublikum."
Ja, später zeigt sich, dass Plasberg beim Warm-uppen dann sogar ein paar Worte mit dem unerkannten Undercover-Zuschauer wechselte. Kümmels Fazit lautet dann ungefähr:
"Offenbar spiegelt die Talkshow den Wandel, den das Selbstbild der Deutschen in den letzten Jahren erfahren hat: Erlebt er sich noch als Bürger, oder sieht er sich inzwischen vor allem als Kunde, Betroffener, Verbraucher, Patient, Versicherter, Klient? Auffallend oft sind es Kunden-, Patienten-, Verbrauchersorgen, die in den Sendungen besprochen werden..."
Revolutionäre Erkenntnisse bietet das Zeit-Dossier also nicht. Aber die ARD-Talker und ihre Redakteure werden sich freuen, bescheinigt zu bekommen, doch bloß zu "spiegeln", was auch sonst vor sich geht, und nicht etwa die Realität oder die Realitätswahrnehmung ihrer Klientel zu verdrehen.
[+++] Damit genug der Zeit. Ansonsten interessant an diesem Donnerstag: die innovative Speerspitze der Technik. Da berichtet einerseits Detlef Borchers in der FAZ vom IT-Gipfel der Bundesregierung in München (siehe auch Altpapier vom Dienstag) und beleuchtet einen wichtigen Detailaspekt:
"Im Brustton der Überzeugung erklärte Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler den Journalisten seine Rechnung: Wir brauchen intelligente Stromnetze zur konkreten Umsetzung der Energiewende: 'Smarte Netze mit 'Smart Metering' bringen deutliche Einsparungen und für Deutschland den Marktvorteil der Energiewende. Die Stromtechnik wird zum Exportschlager."
[listbox:title=Artikel des Tages[FAZ über smarte Überwachung##"Hotel Desire"-Kritik (Tsp.)##TAZ fordert Blogregulierung##ZDF-Blog Hyperland über GEMA-Aufregung]]
Solche Apparaturen (sollte man sie, um die Akzeptanz zu steigern, einfach "Apps" nennen?) "melden den Stromverbrauch eines Haushaltes alle fünf Sekunden an einen Server", berichtet Borchers dann. Sie eignen sich, weil " Abschnitte von Fernsehsendungen, in denen besonders helle und dann wieder dunkle Bilder ausgestrahlt werden, ...zu einem messbaren Wechsel des Stromverbrauchs" führen, perfekt zur Überwachung dessen, was alles mit elektrischem Strom in einem Haushalt angestellt wird. "Der Stromzähler ist ein Spion im Haus", lautet hier die Überschrift.
[+++] Wem Deutschland als digitaler Zukunftsstandort am Herzen liegt, der könnte sich schließlich heute für ein innovatives Angebot der Deutschen Telekom interessieren. Hier bei videoload.de steht seit gestern abend das durch allerlei Vorberichterstattung bekannte "gewagteste Filmprojekt des Jahres" zum allerdings nicht unentgeltlichen Abruf bereit - der nach eigenen Angaben "porNeografische" Spielfilm "Hotel Desire". Bild.de bietet Trailer und Titelsequenz gratis sowie eine kommentierte Klickstrecke zur Premiere ("Erotisch kühl & cool: Saralisa Volm und Clemens Schick").
Der Tagesspiegel nähert sich der Sache seriöser und bietet außer einer kleinen Filmkritik -
"Zaghafte Berührung, Nahekommen, hemmungsloser Akt, Sex fast 20 Minuten lang, das alles elegant inszeniert, bewusst nah am Kitsch, wie [Regisseur Sergey] Moya sagt, dazu elegische Musik. -
auch eine ausführliche Preis-Leistungs-Analyse, ob sich denn die Investition von 2,99 Euro, die das Ansehen kostet, lohnt: Einerseits dauert der Film "nur knapp 40 Minuten", andererseits bietet er "die sehr explizite Darstellung des Beischlafs zweier namhafter Darsteller". Dritterseits hat der Film "eine Freigabe ab 16 Jahre" bekommen, sodass man seine Explizitheitserwartungen nicht zu hoch schrauben sollte, und wird "ab Mitte 2012 auch im Fernsehen, bei Arte, ausgestrahlt werden." Tja, schon wieder eine schwierige Entscheidung.
Zumindest "Schwarmfinanzierung", Markus Ehrenbergs hübsche Eindeutschung des aus der "Hotel Desire"-Vorberichterstattung bekannten Fachbegriffs Crowdfunding, die sollte man sich (zumindest eher als PorNeografie) merken.
Altpapierkorb
+++ "Debatte um ARD/ZDF": Holla, "Unionspolitiker Wulff fordert weniger Digitalkanäle und ein Ende der Konkurrenz"! Beim Lesen des Kleingedruckten büßt diese Überschrift von der Medienseite der Süddeutschen schnell wieder an Brisanz ein. Denn nicht der Bundespräsident sprach. Vielmehr möchte Arne Wulff, Chef der Staatskanzlei Schleswig-Holstein und Mitglied der Rundfunkkommission der Länder, offenbar mit den etwas bekannteren SPD-Medienpolitikern Martin Stadelmaier und Marc Jan Eumann ins Gespräch kommen. +++
+++ Mehr Medienpolitik: Auf der Medienseite im FAZ-Feuilleton (auf dem heute übrigens ganzseitig fünfspältig, mit Goethe ein- und aussteigend Sahra Wagenknecht "Schluss mit Mephistos Umverteilung!" fordert) erklärt Michael Hanfeld kurz, warum Hamburg jetzt auch einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht stellt, obwohl der der ebenfalls SPD-geführten rheinland-pfälzische Landesregierung ja noch läuft: "Die avisierte Reduzierung von Vertretern im Fernsehrat und die Streichung des Abgesandten der Bundesregierung im Verwaltungsrat würden vor allem Konservative treffen". +++ Eigentlich pflegt das Netz ja immer Deregulierung zu fordern, zumal wenn es um kalifornische Konzerne geht. Heute aber in der TAZ fordert Frédéric Valin für Deutschland etwas Ähnliches wie die Richtlinie der amerikanischen Federal Trade Commission, die Bloggern Linkverkäufe verbietet. Anlass: der Anfang dieses Jahres zwar prognostizierte, aber ausgebliebene "ultimative Tsunami" in der deutschen Blogosphäre. +++
+++ Und alle so gegen die GEMA, die allerdings die Schuld am sehr sehr kurzzeitigen Verschwinden des deutschen Spielfilms "Sonnenallee" aus einem legalen, von Google spendierten Videoangebot von sich weist. Was hinter der Meldung (z.B. im Tagesspiegel) steckt, erläutert am instruktivsten das ZDF-Blog Hyperland. +++ "Und dieser ganze Aufruhr, weil ein Film 45 (!) Minuten lang nicht zur Verfügung stand? Die Lust an der 'Skandal'-Inszenierung nimmt immer groteskere Formen an", lautet der erste Kommentar untendrunter. +++
+++ Die syrisch-amerikanische Bloggerin Razan Ghazzawi, hierzulande bekannt aus früheren FAZ-Berichten, wurde "an einem Grenzübergang nach Jordanien", offenbar im Libanon, "verhaftet. Seitdem sind ihre Angehörigen ohne Nachricht über ihren Verbleib", meldet die FAZ. +++
+++ "Schwer verarscht" (TAZ) bzw. "geknebelt und gedemütigt" ("Frontal 21"/ ZDF) werden bekanntlich Kandidaten im Privatfernsehen. Aktuelle ZDF-Recherchen, die der Sat.1-Kuppelshow "Schwer verliebt" gelten (sowie deren Produzenten, der UFA-Bertelsmann-Firma Grundy Light Entertainment) fasst heute die TAZ zusammen. +++ Indes hat das NDR-Magazin "Zapp" die Jenaer Aufregung um einen Beitrag des ZDF-Magazins "Aspekte" (siehe Altpapier gestern) beleuchtet. +++
+++ Überall der TV-Tipp des Tages: "Das Mädchen auf dem Meeresgrund" um 20.15 Uhr im ZDF. Ob der Film "wirklich als Komödie gemeint war oder einfach als bunter Bilderbogen mit Walzer und Hans Moser und der Reblaus? Es ist egal. Es ist leicht und wunderschön anzuschauen", schwärmt Claudia Tieschky in der Süddeutschen. +++ Hauptdarstellerin Yvonne Catterfeld "hat sich vom singenden Soapy zu einer ernstzunehmenden Schauspielerin gewandelt", meint Marcus Bäcker (BLZ). "Als Taucherin im Meer wurde sie allerdings meistens gedoubelt. Immerhin darf sie auch mal traurig und wütend sein, während Benjamin Sadler den Hans Hass durchgängig als trockenen Knochen ohne erkennbare Gefühlsregungen spielen muss", nennt der Tagesspiegel Wermutstropfen. +++ "Grandios ist schon allein das Ballett, das die Fische zu den Klängen von 'An der schönen blauen Donau' vorführen; und die Szenen mit dem Hai sorgen naturgemäß für große Spannung" (Tilmann P. Gangloff, hier nebenan). +++ Hergestellt wurde die ZDF/ ORF-Auftragsproduktion übrigens von der ProSiebenSat.1-Tochter Producers at Work GmbH. +++
+++ Und zurück zur Zeit: "Er ist ein brillanter Schreiber, einer der besten Redner des Landes und ein großer Anreger", gratuliert Evelyn Roll in der Süddeutschen Michael Mike Naumann, der zeitweise größten Schnittmenge zwischen der Wochenzeitung und der SPD, die jetzt jedoch den Cicero leitet, zum 70. Geburtstag. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.