Genug ist nicht genug

Genug ist nicht genug

Die Trolle haben gesiegt beziehungsweise den „Meinungskampf“ im Netz „erwürgt“, die Nominierungen für den Deutschen Fernsehpreis stehen fest, und Al-Jazeera ist nicht mehr das, was es vielleicht nie war.

Am vergangenen Freitag verstarb Robin Meyer-Lucht, Unternehmensberater, Medienwissenschaftler und Gründer des einflussreichen Debattenblogs Carta, im Alter von 38 Jahren. Nachdem nach ihm „in den vergangenen Tagen über das Internet gesucht worden war“, wurde er am Dienstag „tot aufgefunden“, teilten seine Mitstreiter bei Carta gestern mit. Während es beim Online-Ableger der sozialdemokratischen Zeitschrift Vorwärts heißt, mit Meyer-Lucht verliere „die Medienpolitik in Deutschland einen ihrer profiliertesten Kritiker“, schreibt Andreas Grieß bei taz.de:

„Robin Meyer-Lucht vertrat meist Positionen, mit denen sich ein Großteil der deutschen Internet-Aktivisten identifizieren konnte. Er war jedoch nie ein typischer Blogger, auch wenn er in der Szene große Beachtung fand. Seine Texte waren häufig eher fundierte Aufsätze.“

In eine ähnliche Richtung geht der Nachruf Joachim Hubers im Tagesspiegel:

„Da war kein ‚Meinungsrotzer‘ an der Arbeit, da wollte einer mit durchargumentiertem Bescheidwissen überzeugen. Meyer-Lucht rotierte nicht um sich selbst, unverdrossen suchte er Ökonomie und Freiheit des Netzes zu versöhnen, in ein kommerzielles Miteinander bringen. Eine Herausforderung, der er sich auch persönlich stellen musste.“

Ob Blogger, wie hier insuniiert, in der Regel „Meinungsrotzer“ sind, ist eine andere Frage, aber heute vielleicht nicht so maßgeblich. Wichtiger ist eine andere Passage in Hubers Text:

„Genug war Robin Meyer-Lucht nicht genug. Er wollte es genau haben, noch genauer wissen.“

Die zweischneidige Haltung, dass genug nicht genug ist, dürfte in der Medienbranche nicht gerade schwach verbreitet sein. Einen zentralen Gedanken formuliert Christoph Kappes in der FAZ über den „Meister der Debatte“, der „zeitweilig auch diese Zeitung beriet“:

„Im Spannungsfeld zwischen digitaler Öffentlichkeit und Privatheit ist es gerade der Nachruf, der Schwierigkeiten macht. Was wissen wir wirklich über einen Menschen, der vornehmlich seine öffentliche Seite zeigt, was wäre über die dadurch gewissermaßen hindurchscheinende Person zu sagen – und was davon ist von öffentlichem Interesse, was muss privat bleiben?“

Um Fragen, wie sie im zuletzt nur sehr sporadisch bestückten Debattenforum Carta immer wieder behandelt wurden, geht es heute im Feuilleton-Aufmacher der Süddeutschen, allerdings in einem pessimistischeren Grundton als im Blog zu erwarten wäre. „Von Trollen erwürgt: Der Meinungskampf im Internet“, lautet auf Seite 1 der Appetizer für den Beitrag des schwedischen Journalisten Leo Lagercrantz, der Redakteur bei verschiedenen Zeitungen war und 2007 die Online-Meinungsplattform Newsmill gründete. Über seine Zeit dort schreibt er:

„Die aufregendsten Texte entstanden in den Kommentarfeldern, wenn bekannte Autoren die Debatte mit den Benutzern der Seite weiterführten. Vielleicht war es diese Euphorie, vielleicht war es aber auch Ignoranz: Aber ich merkte nicht, wie der Troll kam, sich niederließ und die Kommentarfelder in Beschlag nahm. Wer ein Troll ist, und wer ein gewöhnlicher anonymer Kommentator, ist nicht leicht zu sagen. Eines gibt es, was alle Trolle gemein haben: Sie geben nicht auf. Der durchschnittliche Troll liefert zehnmal so viel Textmenge wie ein gewöhnlicher Journalist. Und die Qualität seiner Arbeit ist, trotz aller Gerüchte, oft nicht schlechter als die eines etablierten Journalisten. Der Troll ist nicht immer ein Internet-Nerd. Er kann ein Frührentner auf dem Land sein. Oder ein pensionierter Diplomat mit einer beachtlichen Karriere. Während meines letzten Jahres bei Newsmill war ich gezwungen, den größten Teil der Zeit, in der ich nicht schlief, mit der Jagd nach ihnen zu verbringen. (...) Kurze Zeit darauf verließ ich Newsmill. Ich tat es nicht nur mit dem Gefühl, vom Troll besiegt worden zu sein, sondern auch im Wissen, dass mein Kampf sinnlos gewesen war.“

Ähnlich grundsätzliche Gedanken macht sich Stefan Schulz im Feuilleton der FAZ anlässlich des Berliner Erfolgs der Piratenpartei (die auch Thema bei der „ahnungslosen" Anne Will war, siehe Tagesspiegel-Frühkritik):

„Mit dem Internet entstanden eine neue Qualität und, noch wichtiger, eine neue Quantität der Besserwisserei, basierend auf einer einzelnen These: Das Internet ist gut für den Einzelnen, also auch für alle (...) Argumente, die über das individuelle Erleben hinausgehen, gibt es kaum, und wenn doch, dann haben sie sich inzwischen als wenig tragfähig erwiesen. Offensichtlich wiederholt sich die Geschichte in einem Fünfjahresrhythmus. Vor fünfzehn Jahren war es die E-Mail, die die Fesseln der Post durchschlug. Vor zehn Jahren waren es die privaten Blogs, die das Potential von Brechts Radiotheorie entfalteten, und vor fünf Jahren waren es die neuen Formen der Privatwirtschaft, die, beschrieben als ‚Long Tail‘, die Prinzipien von Profit und Persönlichkeit verbanden. Immer ging es um eine neue Form der Selbstverwirklichung des Einzelnen. Wer das Internet nutzt, benötigt keine Institutionen mehr.“

Diese Losung, findet Schulz, sei „plausibel, einfach und praktisch – aber eben in vielen Aspekten auch falsch“. Das sei auch gerade wieder zu beobachten:

„In Berlin ziehen bald Abgeordnete der Piratenpartei in den Senat ein, und wieder ist es die Erinnerung an die gute Idee, nach der nun der selbstverwirklichte politische Bürger postuliert wird.“

Das mit dem Einzug in den Senat ist vermutlich nicht so gemeint, wie es da steht. Es sei denn, Schulz kennt überraschende Details zu den Koalitionsverhandlungen.

[listbox:title=Artikel des Tages[Der Meister der Debatte (FAZ)##Der Sender des Emirs (Süddeutsche)##A Game Where You Hold a Camera Instead of a Gun (Wired)]]

Kommen wir zu den profaneren Fragen. Zum Beispiel: Sollte das „Dschungelcamp“ beim Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet werden? Das will Welt Online von seinen Nutzern wissen. Nominiert ist die Sendung seit gestern. Zu dem Thema ein sehr subjektiver Vorschlag zur Güte: Die Juroren dürfen das Camp gern adeln, wenn sie zum Ausgleich den ebenfalls nominierten Dokumentarfilm „The Other Chelsea“ (siehe Screenshot) auszeichnen, einen innovativen, mit Animationselementen angereicherten Film über das Spannungsfeld zwischen Fußball und Politik in der Ukraine (siehe Altpapier). Mehr zu den Nominierunen findet man im Tagesspiegel (und eine komplette Liste hier). Michael Hanfeld wirft in der FAZ anlässlich der Nominierungen einen Blick auf das große Ganze:

„Was die hiesige Fernsehbranche braucht, aber immer noch nicht hat, ist ein ‚Fernseh-Oscar‘; ein Preis, der Geltung besitzt wie in den Vereinigten Staaten der Emmy. Der Grimme-Preis wollte das sein, hätte mit seinem grunddemokratischen Juryapparat auch das Zeug dazu, ist aber an den Rand gerückt, weil man mit populären Phänomenen des Programms immer noch nicht umzugehen weiß.“

Wie schön, dass wenigstens die Juroren des Deutschen Fernsehpreises keine grunddemokratischen Ignoranten populärer Phänomene sind. Ein Kandidat für diverse kommende Fernsehpreise ist möglicherweise die „Polizeiruf“-Folge „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit Matthias Brandt, die aus „Jugendschutzgründen“ nicht am Sonntag um 20.15 Uhr laufen darf. Statt dessen läuft sie nun am morgigen Freitag um 22 Uhr (siehe Altpapier). Auf die Frage der FAZ, ob „die Verschiebung der Sendezeit“ für ihn „eine Art Zensur“ sei, antwortet Brandt:

Nein, Zensur ist, wenn der Film auf die Straße geschmissen und öffentlich verbrannt wird. Und ich in den Knast gesteckt werde.


Altpapierkorb

+++ Neues aus dem Rundfunkgebührentheater berichtet die Zeit: 1,47 Milliarden Euro Mehrbedarf haben die Öffentlich-Rechtlichen für die kommende Gebührenperiode ab 2013 bei der zuständigen KEF angemeldet, wobei „das sehr viel kleinere ZDF zusätzlich 435 Millionen Euro verlangt“ (Vorabmeldung). Während in der Zeit das ZDF eher schlecht wegkommt, lobt und die FAZ (S. 35), die Mainzer gingen „transparenter mit den Zahlen um“ als die ARD. Intendant Markus Schächter wird mit den Worten zitiert: „Die Anmeldung des ZDF liegt deutlich unter der Kostenentwicklung.“

+++ Albrecht Müller wiederum dürfte der Ansicht sein, dass zusätzliche Gebührengelder beim ZDF nicht sonderlich gut aufgehoben sind, weil ja die Gefahr besteht, dass sie für das „heute-journal“ verwendet werden. Der Macher der Nachdenkseiten kritisiert, dass die Sendung, von der er „nicht gedacht hätte“, dass ihr „Charakter als Propagandamedium noch zu steigern ist“, am Dienstag mit einem achtminütigen Beitrag über einen bestenfalls putzigen, nach Ansicht Müllers aber eher dubiosen „Glücksatlas Deutschland 2011“ aufmachte. Offenbar war sonst nichts los.

+++ Über „Warco“, ein geplantes Newsgame, in dem der Spieler als Journalist in einer fiktiven nordafrikanischen Bürgerkriegsregion agiert, berichtet Wired. Initiator des Projekts ist der australische Krisenberichterstattungsveteran Tony Maniaty, und ursprünglich hatte die Idee darin bestanden, eine Simulation fürs Sicherheitstraining potenzieller Kriegsreporter zu entwickeln.

+++ Bleibt Al-Jazeera unabhängig oder war der Sender das sowieso nie? Diese Frage werfen die Umstände des dortigen Wechsels an der Spitze auf. „Journalist geht, Scheich kommt“, schreibt der Tagesspiegel, nachdem der bisherige Chef Wadah Khanfar seinen Abgang verkündet hat. Dabei könnte eine Rolle spielen, dass „Wikileaks einige geheime Konzessionen an die USA bei der Irak-Berichterstattung enthüllt hatte.“ Demnach „versuchte der amerikanische Verteidigungsnachrichtendienst (DIA) im Jahre 2005 mehrfach, direkten Einfluss auf den Sender zu nehmen. (...) In mindestens einem Fall erklärte er sich (...) bereit, vom DIA beanstandete Fotos über eine amerikanische Militäraktion in Tal Afar von der Website zu entfernen.“ Tomas Avenarius (Süddeutsche) bilanziert: „Der glänzende Lack“ beim „Sender des Emir“ beziehunsgweise „angeblich kritischsten arabischen Fernsehsender blättert ab“.

+++ Wie Journalisten souverän mit eigenen Zweifeln umgehen, zeigt der New York-Times-Blog The Lede am Beispiel eines dramatischen Videos aus Syrien.

+++ Medienseitenaufmacherwürdig ist weiterhin der Fall des geschassten MDR-Unterhaltungschefs Udo Foht, jedenfalls in der Süddeutschen. Die Causa sei „noch immer mit vielen Fragezeichen behaftet“ beziehungsweise „ein unglaubliches Verwirrspiel“. Am Standort der MDR in Leipzig müsse es „zuweilen wie auf dem Schwarzmarkt zugegangen“ sein.

+++ Neues aus dem Presserecht: Christian Klar gewinnt schon wieder gegen die Bild-Zeitung (Bildblog).

+++ Heute kommt Julian Assanges „unautorisierte Autobiographie“ auf den Markt. Zu den Hintergründen dieser eigentümlichen Bezeichnung siehe Spiegel Online, Guardian und The Independent (wo Auszüge des Werks als Serie erscheinen).

+++ Der Kinderkanal probiert „Comedy für Kinder“ aus. Das Ergebnis „Sturmfrei" sei „ein bemerkenswertes Stück Fernsehen“, meint die Berliner Zeitung.

+++ Ebd. berichtet Marin Majica über die aktuellen Renovierungsmaßnahmen bei Google+ und Facebook.

+++ Und „was macht eigentlich Mo Asumang?“ fragt der Stern (S. 170). Die 48-jährige, die von 1997 bis 2000 „Liebe Sünde“ moderierte, schreibt „im Moment wie eine Wahnsinnige an TV-Konzepten für TV-Formate“, weil sie „endlich wieder eine eigene Sendung will“.

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag. 

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