That's ecotainment!

That's ecotainment!

Das Reality-Format Ökonomie, ein Moderatorengehalt und ein „clownesker Zeremonienmeister des Weinausschenkens“ sorgen für Gesprächsstoff. Weitere Schlagworte des Tages: Pyrrhus-Sieg und (wieder mal) Moralkeule.

Eigentlich war sie ja längst überfällig, die große Georg-Seeßlen-Polemik über „Börse im Ersten“, eine der seltsamsten sog. Informationssendungen in der Geschichte der ARD. Nun ist sie im Freitag erschienen: 

„Jeden Tag präsentiert das Erste Deutsche Fernsehen in einer Sendung vor den Nachrichten die Börse als Schicksalsraum und Stimmungszirkus. Moderator oder Moderatorin, so charmant wie Heizdecken-Verkäufer bei Senioren-Kaffeefahrten, preisen das System als so umfassend wie menschlich, nie verabschieden sie sich, ohne die komplexen Aktienbewegungen in einen volkstümlichen Sinnspruch verpackt zu haben. Im Ecotainment dieser famosen Sendung wird (...) die dialektische Einheit von komplexem System und Kindergarten mythisch vollendet. Die Maschine der Börse ist hier zu einem Jahrmarktgerät geworden. Im Ecotainment muss nichts stimmen, aber alles stimmig sein. Der populistische Medienkapitalismus erwies sich als perfekte Antwort auf die Krise.“

In dem Text geht es aber, wie immer bei Seeßlen, noch um viel mehr. Der Anlass des Textes ist, dass „Ecotainment“ dieser Art im Zeichen der Krise an Bedeutung gewonnen hat.

„Die Krise hat die Wirtschaftsnachricht auf- und die politische Nachricht abgewertet. Aber natürlich ist da nicht kritische und demokratische Öffentlichkeit entstanden, kein kontrollierender Blick auf das Casino, der womöglich eine Schließung, zumindest strengere Regeln verlangte. Im Gegenteil: Um das Casino vor dem Volkszorn oder wenigstens vor Neid zu schützen, öffnen die Medien seine Pforten. Nur hereinspaziert, sagen die Tickermeldungen, die Börsensendungen vor der Tagesschau, die Wirtschaftsnachrichten der Bild-Zeitung, es ist alles gar nicht so kompliziert, jeder kann mitmachen, jeder kann jedenfalls mitreden, hier dreht sich das Rad des Glücks, und hier gibt es, wie ihr es aus euren Soap Operas und Casting Shows gewohnt seid, die Guten und die Bösen, das gütige Schicksal und das ‚Shit happens‘. Ökonomie ist auch nur ein Reality-Format.“

Kurz vor der von Seeßlen zumindest als teilweise kindergarten-artig eingestuften „Börse im Ersten“ wird bald bekanntlich Thomas Gottschalks „Tagesshow“ laufen. Ob er dafür „ein Grundgehalt von rund sechs Millionen Euro pro Jahr“ kassiert oder dies „nicht im Ansatz stimmt“, streiten das Manager-Magazin und Gottschalks Advokat Christian Schertz. Michael Hanfeld setzt in der FAZ „ein dickes Fragezeichen“:

„Sechs Millionen, sagen Experten, seien dann doch ein wenig sehr zu hoch gegriffen. Zum Vergleich: die neue Talkshow von Günther Jauch lässt sich die ARD 10,5 Millionen Euro pro Jahr kosten, allerdings das Honorar und sämtliche Produktionsaufwendungen inklusive. Bei Anne Will, die für die Erstellung ihrer Show bislang 6,7 Millionen Euro bekam, sollen es jetzt - so das Manager Magazin, ‚nur‘ noch sechs Millionen Euro sein, wiederum inklusive aller Kosten.“

Schertz, der ungefähr beste Medienanwalt des Planetensystems, verschickte gestern bereits eine für Redakteure äußerst hilfreiche Pressemitteilung. „Nun geht es wohl vor Gericht“, mutmaßt meedia.de. Schertz im Clinch mit dem Manager-Magazin - da war doch noch was? Erst im Frühjahr gab es einen zumindest teilweise ähnlicher Fall, auch da ging es um einen reichen Herrn, über dessen finanzielle Verhältnisse das Wirtschaftsblatt aus Hamburg vermeintlich Falsches verbreitet hatte. Konkreter Streitgegenstand war eine seit elf Jahren im Manager Magazin erscheinende „Neidliste“ (Schertz), in der die reichsten Deutschen aufgeführt sind. In erster Instanz gewann die Zeitschrift, aber Schertz kämpft weiter.

Michael Hanfeld ist heute nicht nur mit der Schertz-vs.-Manager-Magazin-Sache zugange, sondern auch an einer anderen Front, an der es ebenfalls um Geld geht, wenn auch etwas weniger. Er kommentiert das Ende des über zehn Runden gehenden Tarifstreits zwischen Gewerkschaften und BDZV und erweist sich dabei - was man überraschend finden kann - als Verleger-Wadenbeißer: Spätestens im Juli 2013, nach Abblauf des jetzt abgeschlossenen Vertrags, „werden die Verleger mit ihrem Verarmungskonzept wieder um die Ecke biegen.“ Erst einmal sei aber zu würdigen, dass die Gewerkschaften „etwas ganz Entscheidendes erreicht“ hätten:

„Die Leistungen für Berufsanfänger werden nicht, wie es die Verleger vorhatten, massiv auf ein Niveau gedrückt, das den Beruf des Journalisten in die Billiglohnkategorie befördert hätte. Daher verbirgt sich hinter dem scheinbar mageren Ergebnis – 1,5 Prozent mehr brutto sind nicht einmal der Inflationsausgleich – ein großer Erfolg.“

Einen „Pyrrhus-Sieg“ konstatiert dagegen Christian Jakubetz, der im JakBlog in gewohnt fundamentalkritischer Manier sehr viel weiter ausholt:

„Keines der wirklich drängenden und mittelfristigen Probleme, die dieser Beruf und damit letztendlich die streikenden Redakteure momentan haben, ist damit gelöst worden. (...) Die Verlockung, endlich mal wieder einen richtig ordentlichen Arbeitskampf zu zelebrieren, war anscheinend zu groß. (...) Es wäre auch im eigenen Interesse der Zeitungskollegen gewesen, das Thema Digitalisierung auch mit Blick auf das eigene Berufsbild und ihre eigene Zukunft zu verhandeln. 2013, wenn die nächsten Tarifrunden anstehen, wird die Erosion des klassischen Tageszeitungsredakteurs weiter fortgeschritten sein. (...) Vor allem wird es diese strikte Unterscheidung zwischen dem Print- und dem Onlineredakteur nicht mehr geben. Wenn also künftig Printjournalisten mehr im Digitalen arbeiten müssen, wenn sich möglicherweise ganze Ressorts deutlich mehr Online als im Blatt abspielen und wenn umgekehrt Onliner mehr als bisher den Blättern zuliefern, wie kann man dann noch Tarifverträge für ‚Zeitungsredakteure‘ in dieser Ausschließlichkeit debattieren? Und wie kann man es angesichts dessen dann immer noch rechtfertigen, dass Onliner schlechter bezahlt sind?“

Die Süddeutsche (S. 15) und die Frankfurter Rundschau halten sich mit Wertungen eher zurück, letztere bringt mit der Headline „Streik rettet Tarifvertrag bis 2013“ ein bisschen Meinungswürze.

Technische Hintergrund-Details zu Openleaks und damit auch zum Streit zwischen dem Chaos Computer Club und seinem Ex-Vereinskameraden Daniel Domscheit-Berg, der seit Anfang der Woche den einen oder anderen bewegt (siehe Altpapier), liefert Christiane Schulzki-Haddouti in einem Artikel für die Stuttgarter Zeitung:

„Openleaks ist in der Computersprache Erlang programmiert (...) Es handelt sich um eine seltene Programmiersprache, die von Ericsson Labs für die Programmierung von Vermittlungsstellen in Telefonnetzen entwickelt wurde. Im Chaos Computer Club und auch sonst, so sagt CCC-Mitglied Felix von Leitner, gebe es dafür kein Security-Knowhow. Selbst wenn jemand die Sprache beherrsche, sei es fraglich, ob er auch Sicherheitslücken finden könnte - das könne dann höchstens durch Zufall geschehen.“

[listbox:title=Artikel des Tages[Die Börse - Schicksalsraum und Stimmungszirkus (Freitag)##Was macht die Kunstkritik? (frieze)##Live-Fußball bei Facebook (sueddeutsche.de)]]

Der heutige Held der Arbeit ist Oliver Jungen. Er hat es auf sich genommen, für die FAZ (S. 32) einen Papierstapel durchzusehen, den Kai Diekmanns Gattin Katja Kessler unter dem Titel „Der Tag, an dem ich beschloss, meinen Mann zu dressieren“ publiziert hat:

„Wie ist er denn nun im Privaten, der große, kleine Kai (...) ? Er ist (...) also ein clownesker Zeremonienmeister des Weinausschenkens, ein Harems-Halter (die Sekretärinnen), fernsehtechnisch ein ‚Tödlicher Killerschleim aus dem All‘-Liebhaber, der alle Probleme schlichtweg hasst, ganz besonders aber in die Schachtel zurückgestopfte Streichhölzer oder das Ausstöpseln seines Handy-Aufladekabels aus der Lieblingssteckdose, der ‚scheinheilige Bitches‘ nicht erkennt oder sogar ‚nett‘ findet, (...) , der seine gelbe Sperrholztruhe voller Devotionalien zumindest nicht weniger liebt als die Angetraute, welche ihm beim ersten Date übrigens das Badezimmer ‚vollgereihert‘ habe.“

Die folgenden, bei Alter Net zu findenden Sätze klingen erst einmal nicht überraschend:

„The establishment media just keep getting worse. They’re further and further from good, tough investigative journalism, and more prone to be pawns in complicated games that affect the public interest in untold ways.“

Überraschend ist eher, dass Russ Baker als „signifikantes Beispiel“ für diese These eine der am meisten Aufsehen erregenden Reportagen der jüngeren Vergangenheit heranzieht: Nicholas Schmidles im New Yorker erschienene Rekonstruktion der Ergreifung und Tötung Osama Bin Ladens im pakistanischen Abbottabad:

„On closer inspection, the widely-celebrated ... story ... raises more questions than it answers ... It is based on reporting by a man who fails to disclose that he never spoke to the people who conducted the raid. (...) We weren’t allowed to hear from the raid participants. And on August 6, seventeen Navy SEALs died when their helicopter was shot down in Afghanistan. We’re told that fifteen of them came, amazingly, from the same SEAL Team 6 that carried out the Abbottabad raid—but that none of the dead were present for the raid. (...) Of course, if any of those men had been in the Abbottabad raid—or knew anything about it of broad public interest, we’d be none the wiser—because, the  only  ‚reliable sources‘ still available (and featured by the New Yorker) are military and intelligence professionals, coming out of a long tradition of cover-ups and fabrications.“

Ein Jubiläum gilt es auch noch zu würdigen. Das britische Kunstmagazin frieze feiert mit der September-Ausgabe sein 20-jähriges Bestehen. Das Blatt blickt hier nun unter anderem auf die Entwicklung der Kunstkritik in diesem Zeitraum zurück:

„Today, most critics are a different breed from the kind of writer who promoted a small group of artists whose careers they supposedly single-handedly ‘made’ and who assumed that the most important art was created in New York or London. Art criticism now accommodates myriad perspectives. True, there is a danger that some critics can be too diplomatic in a Facebooking, economically precarious social environment, but still, many approach their subject with bite, scholarship and integrity. (...) We do, though, have one question: when will major newspapers (...) start employing a cross-section of art critics who might better reflect the realities of the contemporary art world rather than relying on the views of a few men (and it is usually men) who have been doing the same job, often with decreasing energy and imagination, for years and years?“


Altpapierkorb

+++ Dass auf Facebook heute erstmals live ein Fußballspiel zu sehen sein wird (eine englische Pokalbegegnung zwichen den unterklassigen Klubs Ascot United und Wembley FC), nimmt Johannes Kuhn bei sueddeutsche.de zum Anlass, das Thema Live-Sport im Netz etwas ausführlicher darzustellen: „Die Pokalübertragung ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Live-Übertragungen im Netz längst nicht mehr einzig auf den Seiten von Fernsehsendern stattfinden (...) Bild.de bietet (...) bereits seit einigen Monaten Partien der türkischen Fußballliga kostenpflichtig im Stream an. (...) Auch YouTube (...) experimentiert mit Live-Übertragungen. Auf dem Portal zeigen derzeit verschiedene Anbieter Cricket-Spiele. (...) Dass sich Facebook immer mehr zur Unterhaltungsplattform wandelt, zeichnet sich bereits länger ab. Theoretisch kann jedes Unternehmen, jede Institution mit eigener Fanseite dort bereits heute eine Live-Übertragung anbieten. Was oftmals im Wege steht, ist allerdings die Rechtefrage: Attraktive Inhalte wie Filme, Serien oder Sportübertragungen werden meist national und nicht global lizenziert.“ (In der Printausgabe steht eine kürzere Fassung als online)

+++ Als „eindringlich gespielt“ und „wichtig“ lobt die FAZ den arte-Film „Homevideo“, in dem ein Teenager wegen eines Onaniervides gemobbt und erpresst wird. Joachim Huber zeigt sich im Tagesspiegel ebenfalls begeistert, wenngleich er einwendet: Regisseur Kilian Riedhof und Drehbuchautor Jan Braren „schieben mächtig viel in die 90 Minuten, und mächtig viel – Video, Familie, Liebe, Schulsituation – stürzt auf Jakob ein. Nicht wirklich alles davon brauchen ‚Homevideo‘ und sein Kernthema – ‚Cyber-Bullying.‘“ Caroline Ischinger kritisiert dagegen in der Süddeutschen: „Schade ist, dass der Film die möglichen Erklärungen für sein bitteres Ende wie eine Liste abarbeitet (...) Mutiger wäre es gewesen, wenn ‚Homevideo‘ dem Täter Henry (Jannik Schümann) mehr Zeit gewidmet hätte.“ Was ihn antreibe, seine Macht „gnadenlos auszuspielen, bleibt offen“.

+++ Eine weitere Meinung zur ARD-Doku „Rot-Grün macht Kasse" findet sich in der Online-Ausgabe des Freitag: Wie bereits Spiegel Online (gestern im Altpapier verlinkt), bemängelt nun auch Felix Werdermann, in dem Film über die postpolitischen Wirtschaftskarrieren von Schröder, Fischer und Konsorten sei die „Moralkeule“ zum Einsatz gekommen. Weil dieser konservative Kampfbegriff nun bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit an Orten auftaucht, wo man ihn nicht unbedingt vermutet, seien hiermit Filme oder Artikel, in denen vermeintlich die Moralkeule geschwungen wird, einfach mal pauschal gepriesen.

+++ Die Jungle World wartet mit einer Rezension zu Charlotte Roches „Schoßgebete“ auf, in der einige andere Rezensionen bereits verarbeitet sind: „WAZ und taz zumindest wittern eine gekonnte Persiflage auf was auch immer, der Spiegel diagnostiziert wagemutig eine ‚Mischung aus Frauenzeitschriftenkolumne und Bewusstseinsstrom im Stile James Joyces‘. Wahrscheinlicher ist, dass die Autorin wie ihre Heldin einfach nicht über eine andere Sprachebene verfügt. Das ‚entwaffnend umgangssprachliche Erzählen‘ führt jedenfalls dazu, dass nach zwei Seiten tödliche Langeweile einsetzt.“ kress.de ist derweil aufgefalllen, dass die G+J-Zeitschrift Stern sich offenbar überaus stark inispirieren ließ von einem Roche-Cover der früheren G+J-Zeitschrift Emotion. 

+++ Weise Worte zum Wochenende (1), aus dem Zusammehang gerissen: „Der Strukturwandel in den Medien macht ja vielleicht vor Döpfner, Sarrazin und di Lorenzo halt, aber selbst die Arbeitsbedingungen bei Springer sind einfach die Vorhölle, so wird gemunkelt, wenn man die Mitarbeiter mal beim Abendessen trifft“ (Metalust und Subdiskurse).

+++ Weise Worte zum Wochenende (2): „Wenn ich etwas nicht in 140 Zeichen sagen kann, kann ich es auch auf 200 Seiten nicht." Das sagt ein twitternder Schweizer Mönch, den Zeit Online unter dem Titel „Der digitale Abt“ porträtiert.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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