Lesen Sie mein Buch!

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Medien beeinflussen – die Wirklichkeit (Sarrazin in Kreuzberg, ZDF-Sommerinterviews), die Wirklichkeitswahrnehmung (vernachlässigte Nachrichten), die Politik (Murdoch), uns (Google). Frage ist nur: Wie sehr?

Falls Sie Murdoch suchen, unten im Korb. Hier erstmal:

Auch sehr geil, dieses ZDF. Macht ein Urlaubsinterview mit dem Bundespräsidenten, der dafür extra in den Urlaubsort fliegt, an dem er erst im August weilen wird.

Für die SZ (Seite 15) hat Thorsten Schmitz deswegen mal nachgefragt beim ZDF.

"Schausten und ihr Kollege Thomas Walde von 'Berlin direkt' verstehen jetzt die Aufregung über Wulffs Kulissenwechsel allerdings nicht. Man würde es vorziehen, über den Inhalt des 20-minütigen Interviews zu reden."

Nee, is' klar. Erst die Politiker vor irgendwelche Strandkulissen zerren (auch wenn die das vermutlich gerne machen), und dann bildungsauftragsmäßig auf Gesprächsinhalt erzählen. Wenn es wirklich um den ginge, dann täte es das lausigste Büro der Welt.

Am letzten Sonntag lief übrigens das Sommerurlaubsinhaltsinterview mit Grünen-Chefin Claudia Roth, über das es jetzt heißt:

"Thomas Walde gibt zu, dass man 'natürlich nicht wisse, wie lange Frau Roth da schon am Bodensee war und noch bleiben werde'."

Der aufmerksame Fernsehzuschauer konnte Claudia Roth am Sonntagabend 20.45 Uhr in Frankfurt/Main beim Finale der Fußball-WM ausmachen, wo sie neben Silvia "Silv" Neid Japan gegen USA guckte. Kann ein Abstecher gewesen sein, ist aber auch völlig egal. Warum muss es denn unbedingt Urlaub sein, liebes ZDF, wo es doch irgendeine Berliner Parkbank auch tun würde, wenn die Umgebung mal nicht Reichstag heißen soll?

Auch noch geil, auch noch ZDF: Thilo Sarrazin ist aus Kreuzberg rausgeflogen. Liest sich auf den ersten Blick wie krass breakende News, ist am Ende aber nur Stoff für die Journalistikseminare von Prof. Lilienthal und seinen Kollegen: "Wie Medien die Wirklichkeit verändern, über die sie berichten wollen."

Springers heiße Blätter können sich daran freilich auch tagelang delektieren, wie die Berliner darlegt. Die Autorin des für die ZDF-Sendung Aspekte vorgesehenen Beitrags, Güner Balci, schrieb zuerst ein Text, der etwa auf Welt-Online zu finden ist.

In dem staunt sie unter Aufbietung größtmöglicher Naivität über die Empörung, die Sarrazins Spaziergang mit Kamera hervorgerufen hat. Unterschlägt dabei aber die Kamera, was für eine Fernsehautorin eine zumindest eigenartige Wahrnehmung der eigenen Position ist.

Dass Menschen auf eine Wirklichkeit mit Kameras reagieren als auf eine Wirklichkeit ohne Kameras, kann man schon, um ein einfaches Beispiel zu wählen, an diesen Korrespondentenschalten nach Weltmeisterschaftsspielen sehen, in denen sich der medienaffine Feiermob einen Spaß daraus macht, den Korrespondenten an seinem Bericht zu hindern (was genau genommen natürlich der Sinn solcher Berichte ist – ihr Informationsinhalt, wie Bettina Schausten sagen würde, erschöpft sich darin vollkommen). Anders gesagt: Man muss die "Hau ab"-Rufe als Medienkritik auffassen.

Sarrazin selbst, der dann, ebenfalls auf Welt-Online nachlesbar, nachlegen durfte, erfasst die Lage immerhin:

"Ich hatte in den zehn Monaten seit Erscheinen meines Buches niemals das Gefühl gehabt, auf der Straße besonderen Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Diesmal, im Angesicht der Fernsehkameras, war das anders."

Das Beste, was zu diesem Vorfall zu sagen ist, hat Marc Felix Serrao auf Sueddeutsche.de aufgeschrieben: ein Interview mit Oberkellner Mehmet Özcan von dem Restaurant, in dem Sarrazin seinen Döner nicht aufessen konnte.

"SZ: Hat Sarrazin Sie oder die Gäste irgendwie provoziert?

Özcan: Er war ganz locker. 'Lesen Sie bitte mein Buch', hat er gesagt.

(...)

SZ: Haben Sie sein Buch gelesen?

Özcan: Nein. Ich unterstütze ihn nicht.

(...)

SZ: Sarrazin würde Ihnen zustimmen.

Özcan: Ja? Ich weiß es nicht. Er hat immer nur gesagt: 'Lesen Sie mein Buch!'

SZ: Aber das machen Sie nicht.

Özcan: Auf keinen Fall."

Fast wünschte man sich, Thomas Bernhard hätte davon noch Wind gekriegt und "Gehen 2" geschrieben, wie also Serrao reportiert habe, Özcan habe gesagt, Sarrazin sei bei ihm Lokal gewesen, und er, Özcan, habe ihm gesagt, er solle gehen, aber Sarrazin, so Özcan, habe immer nur gesagt, lesen Sie mein Buch, worauf Özcan, so Özcan, wie Serrao reportierte, auf keinen Fall, darauf Sarrazin – na ja, und so weiter und so fort.

Warum aber in der Vergangenheit schwelgen, wenn die Zukunft so nah ist. Was dann zu tun sein wird, hat die Initiative Nachrichtenaufklärung ermittelt. Die hat, wie in jedem Jahr, zehn Themen aufgelistet, denen sich der Journalismus nicht widmet.

Ganz oben: Bankenrettung ohne parlamentarische Kontrolle.

"Mit 580 Milliarden Euro soll die Rettung deutscher Banken vor der Pleite abgesichert werden. Die Vergabe der Mittel liegt nach Angaben der Initiative Nachrichtenaufklärung in den Händen von drei Experten, die wiederum von fünf weiteren Experten kontrolliert werden. Eine politische Kontrolle gibt es nicht."

Schreibt Detlef Borchers in der FAZ (Seite 33). Ob diese Vorlage in den Redaktionen Betriebsamkeit auslösen wird wie ein Rechercheauftrag bei den ARD-Vorbereitungen zu einer Anti-Springer-Kampagne aus Angst vor einer Anti-ARD-Kampagne von Springer, ist offen. Denn was sollte sich am grundlegenden Problem der Vernachlässigung, das Marlene Halser in der TAZ beschreibt, im kommenden Jahr ändern?

"Vielen der Themen, welche die Jury Jahr für Jahr kürt, wird vor allem deshalb zu wenig Beachtung geschenkt, weil sie mit Rechercheaufwand verbunden sind."

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Vernachlässigte Nachrichten (TAZ)##Upcoming Problemlagen, theoretisch (FAZ)##Grundkurs Jura: Verlagsklage (Niggemeier)##"Gehen 2": Sarrazin in Kreuzberg (Sueddeutsche.de)##NoW-Reporter tot aufgefunden (FAZ)]]

Einem schwer fassbaren und wohl zukünftigen Problem widmet sich Frank Schirrmacher in der FAZ. Nach den theoretischen Ausführungen vom Sonntag zu den Veränderungen von Zeitwahrnehmung, Erinnerung und Gedächtnis, die durch die Suchmaschinen kommen, folgen heute auf der Aufschlagseite des Feuilletons (Seite 27) anschaulichere und praktischere Folgerungen:

"Google übernimmt nicht nur das Speichern faktischer Wissensinhalte; Google – und das hat es bei noch keiner Externalisierung gegeben – übernimmt auch die Berechnung, Organisation und Deutung der Assoziationen, die wir beim Gebrauch dieses Wissens haben – wahrscheinlich ist das sogar der eigentliche, in der Tat faszinierende Hauptzweck einer Operation, die mittlerweile genau weiß, wie lange ein Cursor unschlüssig auf einer Straße bei Google Earth verweilt, der vorher bei Google Search auf Spielbanken geklickt hat."

Bemerkenswert ist, dass Schirrmachers Gespür für upcoming Problemlagen (inklusive freilich seiner publizistischen Mittel) hier ohne den eschatologischen Furor auskommt, der das "Payback"-Buch noch begleitete.

"Man muss das Werkzeug Google, mit dem wir heute alle arbeiten, nicht perhorreszieren. Aber eine europäische, nicht privatwirtschaftliche Suchmaschine, die keiner politischen oder ökonomischen Kontrolle unterliegt, ist vielleicht das wichtigste technologische Projekt der Gegenwart. Der Chaos Computer Club wäre ihr TÜV."

Perhorreszieren? Einfach mal nachschlagen.


Altpapierkorb

+++ Eine Mischung aus Vergangenheit und Zukunft, auf der Schwelle der Gegenwart also, ist die Murdoch-Chose. Vergangenheit, weil es so wirkt, als sei der James-Bond-Film zum Thema vor 14 Jahren doch nicht so weit hergeholt. Und Zukunft, weil nicht klar ist, wohin das noch führt. Regierungskrise (TSP)? Es gibt jedenfalls: Scotland-Yard-Beschädigung (SZ, TAZ) und einen Toten (FAZ). +++ Aus Amerika berichtet SZ-Korrespondent Nikolaus Piper zudem, dass sich Murdochs einziges Renommierblatt, das Wall Street Journal, keinen Gefallen tut mit der Art und Weise der Konfliktbehandlung. +++ Die FAZ-Wirtschaftsseiten (12, 16) erkennen in üblicher Nüchternheit die Fehler die in der Unternehmensstruktur. +++ Das Handelsblatt berichtet von dem Hack der Sun-Site und einer gefaketen Meldung über Murdochs Tod. Als Running Gag der Gegenwart möchte man diesen Satz lesen: "Die Ratingagentur Standard & Poor's prüft, die Kreditwürdigkeit von NewsCorp wegen des Spitzelskandals herabzustufen." +++ Heute 15.30 Uhr hiesiger Zeit wird Murdoch samt James vor dem Untersuchungsausschuss auftreten, Phoenix überträgt live. +++

+++ Könnte so was wie Murdoch auch Deutschland passieren? Nein, meint Ulrike Simon in der FR: "Michael Spreng, Journalist und Politikberater, meint, das liege an der letztlich doch geringeren Macht einzelner Medien(-Konzerne), an der größeren Konkurrenz untereinander und der sich daraus ergebenden größeren Transparenz. Manipulationsversuche werden schlichtweg schneller öffentlich." +++ Michael Sprengs Wie-mich-Kirch-einmal-Schnurre aus seinem Blog wird auch noch mal dargelegt (siehe auch Altpapier von gestern). +++ Stefan Niggemeiers FAS-Beitrag zur Medien-Politik-Beeinflussungsrelation ist nun online. +++

+++ Zu Kirch: interessante Todesanzeigenpolitik, heute auch in der FAZ (Seite 30, 31). Familie Gafron etwa dankt eigens. +++ Von Niggemeier: gibt es noch eine mögliche Lesart von Verlagsklageschrift gegen die Tagesschau-App, Rundfunkstaatsvertrag und Christoph-Keese-Blog. +++

+++ Was sonst in Deutschland noch abgeht: Claudia Kleinert verlässt Kachelmanns Meteomedia dahin, wo künftig für die ARD Wetter produziert wird, wo immer das sein wird (TSP). +++ Sachsen hat einen Regierungssprecher, der im Amt zum Regierungssprecher ausgebildet wird (FAZ, Seite 33). +++ Die "heute-show" als Buch und so (Berliner). +++

+++ In Eritrea sitzt der Journalist Dawit Isaak seit Jahren im Gefängnis, Stephan Hebel informiert in der Berliner. +++

+++ Im Fernsehen: Die "Anwälte"-Dokumentation über Mahlerschilyströbele, die der Tagesspiegel lobt (22.45 Uhr, ARD). +++ Eher nich' so findet die TAZ die ZDF-Doku-Fiction "An einem Tag in Chile" (20.15 Uhr). +++

+++ Auf Meedia.de: Der angeblich neueste Scheiß der Spiegel-Online-Kritik – ein Tumblr-Blog, das scheinbar in der Tradition der wahrhaft großen "Kim-Jong-Il-looking-at-things"-Bildersammlung die Blödheit von Spiegel-Online-Bildern dokumentieren soll. Wir neigen eher angesichts der lieblosen und formal unterkomplexen Herangehensweise der Seite der Theorie von Kommentator André Krüger zu: "Eine andere Lesart wäre natürlich, dass die Macher nicht so viel von den gezeigten Politikern halten und die Darstellung der Fotoredaktion durchaus goutieren." +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.
 

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