Knobelfrage für Anhänger der klassischen Ästhetik: Wie hassenswert darf das Netzwerk Recherche sein, ohne seine guten Intentionen zu verraten? Außerdem: ein Casino-Besuch in Erfurt
Ein wenig irritierend ist es schon, jetzt auf handelsblatt.com unter der Überschrift "Flotter, vielfältiger, meinungsstärker" von den prominenten Wünschen zum 65. Geburtstag zu lesen – der eigentliche Geburtstag war doch schon.
Sei's drum. Den Worten von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen kann sich jedenfalls nur angeschlossen werden:
"Keine einfache Kost, meinungsstark hält es die Linie. Es ist eine der Farben, die in unserer Medienlandschaft nicht fehlen dürfen, und gehört zu den fünf Zeitungen, die morgens auf meinem Tisch liegen. Herzlichen Glückswunsch zum 65.!"
Zur Ergänzung liegt hier immer noch Spiegel-Online ausgedruckt daneben. Und da ist heute ein langes "Ja, aber" von Stefan Niggemeier zu den Vorgängen beim Netzwerk Recherche zu lesen (Altpapier von gestern).
"Es ist leicht, das 'Netzwerk Recherche' zu hassen, und ein guter Ort, das zu lernen, ist das jährliche Treffen des Vereins in Hamburg."
(Einen Eindruck vom diesjährigen Treffen liefert Niggemeier übrigens in seinem Blog, die dazu gehörige Diskussion feat. Georg Altrogge und Jörg Kachelmann kann übrigens auch mit der exklusiven Neuigkeit aufwarten, dass Konstantin Neven DuMont sein upcoming Projekt "KNDM – Kritisch. Nachhaltig. Direkt. Meinungsbildend" am 1. September starten willl, "egal wie weit das Projekt ... dann ist".)
So sehr Niggemeiers nüchterne Sicht auf die schwer erträgliche NR-Außenwahrnehmung (Thomas Leif, Christoph Lütgert) für den Text spricht – am Ende befängt einen das Gefühl, dass, wo so viele Konzessionen gemacht werden, das "Aber" es schwer hat sich zu behaupten:
"Ist es nicht ein merkwürdiger Reflex, dass wir gegenüber einem Verein, der eigentlich Gutes will, besonders unbarmherzig sind, was Fehler angeht?"
Deshalb ist die Lage des NR am besten wohl im Schlusssatz beschrieben:
"Es ist ein schrecklicher notwendiger Verein, und womöglich tut es ihm ganz gut, gerade so brutal aus der Bequemlichkeit gerissen worden zu sein."
In der FAZ sieht "embe." das ganz ähnlich:
"Im 'Netzwerk Recherche' wird wohl ein neue Ära anbrechen. Tina Groll (die Schatzmeisterin, AP) hofft auf einen transparenteren Führungsstil, der 'weniger größenwahnsinnig' sei. Wer diese Rolle übernehmen wird, muss vorerst offen bleiben."
Die Linie der süffisanten Artikel-Enden führt von hier aus direkt in den Tagesspiegel, wo Joachim Huber die Vergabe der Übertragungsrechte für die nächsten Olympischen Spiele (inkl. Rio 2016) wie folgt beschreibt:
"Der Erwerb der Olympia-Rechte 2014 und 2016 fügt sich ein ins Bestreben der öffentlich-rechtlichen Anstalten, sich so viele attraktive TV-Lizenzen wie möglich zu sichern. So wird auch die Fußball-WM 2014 in Brasilien im öffentlich-rechtlichen Free-TV laufen."
Back to the Gegenwart. Heute wird mit dem Urteil im Erfurter Prozess gegen den gewesenen KiKa-Geschäftsführer Marco K. gerechnet (Altpapier von vor vier Wochen). In der FAZ kann Olaf Sundermeyer den juristisch interessierten Leser mit einem für ihn beruhigenden Cliffhanger auf den Tag einstimmen:
"'Da sind weitere Verfahren zu erwarten', heißt es bei der Staatsanwaltschaft in Erfurt auch mit Blick auf den Filmproduzenten Roland J. aus Baden-Baden. Zuletzt hatte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ausgeweitet, auf aktuell zwölf Personen, darunter sieben Firmengeschäftsführer."
Einen noch schönere Variante der Einstimmung auf die Urteilsverkündung liefert Steffen Grimberg in der TAZ. Der hat sich das Erfurter Casino, in dem K. seine Spielsucht befriedigte, angeschaut:
[listbox:title=Die Artikel des Tages[Monte Carlo, Thüringen (TAZ)##Netzwerk Recherche: Ja, aber (SpOn)##Internet-Enquete erwartet Mehrheiten (Berliner)##Zum Begriff der "Facebook-Party" (FAZ-Blog)]]
"Für Erstbesucher ist sowieso freier Eintritt (der sonst 1 Euro kostet), dazu kommt ein Getränk aufs Haus. Die Daten werden registriert, der Computer spuckt die Eintrittskarte aus, mit der es durch ein Drehkreuz geht. Hier muss jeder durch, theoretisch wenigstens."
Denn wie K. im Prozess gestand, war er nicht nur die statistisch dokumentierten 1,78 Mal pro Woche am Start, sondern wesentlich öfter:
"Die Mitarbeiter hätten ihn doch alle gekannt und einfach durchgewinkt, durchs Türchen für Rollstuhlfahrer neben dem Drehkreuz, 'tatsächlich war ich noch viel häufiger da', sagt der Kika-Mann."
Die Traurigkeit dieser Besuche macht Grimberg nun anschaulich, in dem er die Trostlosigkeit des Ortes ("Nahe am Eingang ist, hinter Glas, der Raucherbereich. Ein Herr sitzt einsam vor einem Automaten, durch das Glas wirkt alles noch gedämpfter") mit dem Wissen aus dem Prozess kombiniert ("Marco K. hatte mehrfach Anfälle im Casino, im September 2009 brach er vor den Automaten zusammen, musste ins Krankenhaus").
Die Pointe von Grimbergs Text über die staatliche Spielbank regt zum Nachdenken an:
"Profitiert hat bei diesem bigotten Spiel nur einer: der Freistaat Thüringen, dem die Casino-Gewinne zustehen."
Ist das die subtile Fernsehkritik des Freistaats? Und: Wird die GEZ jetzt klagen wegen der Umwidmung von Gebührengeld?
Altpapierkorb
+++ Fernsehen: Die beliebte Arte-Reihe "Durch die Nacht mit..." ist heute nacht (0.45 Uhr) derbe aktuell. Der iranische Regisseur Rafi Pitts trifft den ägyptischen Regisseur Marwan Hamed in Kairo. In der TAZ bemängelt Ines Kappert, dass an kritischen Stellen ("arabische Solidarität") einfach die Musik hochgefahren wird. +++ In der FAZ (Seite 37) versucht Tomasz Kurianowicz die Frage, ob Ägypten zur "repressiven Theokratie" werden wird, noch vor Ende seines Textes beantwortet zu kriegen. +++ In der SZ (Seite 17) freut sich Thorsten Schmitz, Kairo so lebendig zu erleben, wie er es offenbar kennt ("Es ist, als liefe man mit ihnen durch die Nacht"). +++
+++ Auch noch Fernsehen: In der SZ (Seite 17) zeigt sich Christopher Keil, selbst überrascht darüber, angetan von der letzten "Anne Will"-Sendung, in der der des Plagiats verdächtigte FDP-Politiker Jorgo Chatzimarkakis persönlich Stellung nahm: "Dass er sich in die Talkshow traute, ist beeindruckend. Noch beeindruckender war seine Dreistigkeit. Dass er mehrheitlich falsch zitierte, nannte er eine methodische Schwäche." Allerdings neigt Keil auch einem Vorwurf zu, den Chatzimarkakis zu seiner Verteidigung gegen die nüchterne Internetsachverständige Anke Domscheit-Berg hervorgebracht hat: "Als später auch im 'Chat' von Anne Will das Prinzip der Anonymität bei VroniPlag bezweifelt wurde, schickte Domscheit-Berg viele Sätze zurück. Einer lautet: 'Die Namen würden von den Fakten ja nur ablenken.' Sind Namen nicht auch Fakten?" Mag sein, aber was würde das an der Aufdeckung von "methodischen Schwächen" bei Chatzimarkakis ändern – dass man den Aufklärern in persönlichen Geschichten irgendwelche Motive anhängen könnte, die an der Unredlichkeit des Vorgangs selbst – dem Plagiieren durch Chatzimarkakis – auch nichts ändern würden? +++
+++ Wie das Internet zu verstehen ist, erklärt Teresa Bücker zum derzeitigen medialen Hype-Thema Facebook-Party im FAZ-Blog "Stützen der Gesellschaft": "Mit der Festschreibung des Begriffes "Facebook-Party", als sei diese Form der Zusammenkünfte ein gänzliches neues Phänomen, ausgelöst durch unsichere soziale Netzwerke und Wutjugendliche, die sich zum eskalieren verabreden, wurde eine sachlich Auseinandersetzung mit den Geschehnissen erheblich erschwert." +++ Zweifel am Sinn eines "Verbots" werden auch im Tagesspiegel geäußert. +++ Marin Majica erklärt in der Berliner einigermaßen angeödet, dass die Enquete-Kommission Internet so lange zusammenkommen wird, bis die Mehrheiten stimmen. +++ Torsten Wahl warnt ebenda vor teuren Seiten zur USA-Einreise. +++ Und Antje Hildebrandt hat ebenfalls für die Berliner die Redaktion des erfolgreichen krass-dissidenten Lifestyle-Heftes Vice in Berlin besucht. +++
+++ Und dann das doch: Der Papst übernimmt während seiner Reise nach Deutschland zum zweiten Mal in der Geschichte der Sendung "Das Wort zum Sonntag". Jochen Hieber erinnert sich darüber in der FAZ (Seite 37) an seine Fernsehkindheit (ohne "Wetten, dass....?"). +++ Markus Ehrenberg, der sich heute in der Fußball-WM-Kolumne des Tagesspiegel über nervig-lange Vorberichterstattung beschwert, hat seinen Staun offenbar nicht gelesen: Nervig-lange Vorberichterstattung gibt es im Männerfußball auch. +++
Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.