Die Nachbetrachtungen zum aberkannten Nannen-Preis für Pfister gehen weiter. Im Fokus: Pfister, die Jury, der Spiegel, die Wirklichkeit. Und Wolf "Lebenswerk" Schneider macht den Franz Beckenbauer.
Einen Namen hat die ganze Chose noch nicht – zumindest war "Pfistergate", "Jurygate" oder "Henri-Nannen-Preisgate" noch nirgendwo zu lesen. Was dafür sprechen könnte, dass noch nicht so ganz klar ist, was aus der Aberkennung des Nannen-Preises für René Pfisters Spiegeltext (Altpapier von gestern und vorgestern) zu lernen ist.
Der Anfang spielt bei manchem Text eine nicht unwesentliche Rolle, weil es bei der Diskussion um den Anfang von Pfisters Text geht.
"Der Einstieg in eine Geschichte oder einen Kommentar müsse wie ein Lasso sein, mit dem der Leser eingefangen wird. Dieser müsse gleich überzeugt werden, dass sich das Weiterlesen lohne, hat vor Jahren ein Spiegel-Chefredakteur seinen Leuten geraten."
Beginnt Hans Leyendecker in der SZ seinen Text. Um sogleich fortzufahren:
"Also, ein Versuch: Die Jury des Henri-Nannen-Preises muss zurücktreten, weil sie zunächst eine falsche Entscheidung getroffen und dann den von ihr verliehenen Preis in eine Bestrafung des von ihr Ausgezeichneten verwandelt hat. Die Forderung nach dem Rücktritt fällt noch leichter, weil die Jury es nicht mal für nötig hielt, den Betroffenen anzuhören, und weil die berufliche Exekution durch eine Art Schnellgericht vollzogen wurde."
Das ist jetzt nicht so szenisch wie etwa bei dem Text im Freitag (Hinweis in eigener Sache: der Text ist von mir):
"Es ist Freitagabend, Schauspielhaus Hamburg, das größte Theater nördlich der Alpen. 'Henri Nannen Preis 2011' steht im Leporello des Theaters, 'Geschlossene Veranstaltung'. Ein Abendtermin wie ein Ritterschlag, Prominente aus Film, Fernsehen und Journalismus, Suzanne von Borsody, Cherno Jobatey. Wolf Schneider ist da, der Grandseigneur des Richtigschreibenkönnens, 85, sein weißes Haar leuchtet wie ein Spätsommerabend in der Toskana, so weise, so souverän, so lässig. Schneider soll für sein Lebenswerk geehrt werden."
Dafür spricht Leyendecker deutlich eine Auswirkung an, die der bislang beispiellose Fall haben könnte:
"Ein viel größerer Fehler allerdings war es, ein politisches Porträt mit einer Reportage zu verwechseln. Diesen Fehler hat die Jury begangen - jedenfalls die Mitglieder des Gremiums, die den Pfister-Beitrag für die beste Reportage des Jahres 2010 gehalten haben. Entweder gab es aus Sicht der Jury im Vorjahr zu wenig auszeichnungswürdige Reportagen. Oder einigen Juroren ist nicht ganz klar, was eine Reportage auszeichnet. Keller allein reicht als Stilmittel nicht."
Weiter unten heißt es außerdem:
"Für Unmut sorgt, dass der Nannen-Preis mit Smoking und rotem Teppich immer mehr an eine Bambi-Veranstaltung erinnert. Auch geistert der Verdacht umher, dass sich eine Seilschaft im Norden die Preise zuschustere."
Das Bambihafte wäre der Jury vermutlich nicht anzulasten, das Preisezuschustern schon. Eine Ahnung von der Preisvergabepraxis kann man bei Kai-Hinrich Renner in der Welt bekommen:
"Derweil wurde bekannt, dass in einer ersten Sondierungsrunde der Hauptjury nicht Pfisters Stück, sondern ein ganz anderer Text vorne lag: Susanne Leinemanns Reportage „Der Überfall“ aus dem „Zeit Magazin“. Die Geschichte ... war von der Vorjury Sonderpreis in die Kategorie Reportage überwiesen worden. Nachdem das Stück dort zunächst reüssiert hatte, landete es dennoch wieder in der Kategorie Sonderpreis, wohl auch um, wie mehrere Juroren erzählen, Platz für andere Texte zu schaffen."
Auch Christian Bommarius' Kommentar in der Berliner, der eine Ehrenrettung des Archivs ist, lässt sich zu den jurykritischen Beiträgen rechnen:
"Offenbar ist die Mehrheit der Henri-Nannen-Preis-Jury nicht über die Gepflogenheiten informiert, die in der Branche herrschen. Niemand hat der Darstellung Pfisters widersprochen - nicht Horst Seehofer, nicht Pfisters Kollegen - , aber die Jury interessiert sich offenbar nicht für die Wahrheit. Sie interessiert sich nicht einmal für die Wirklichkeit."
Anne Burgmer im KSTA befindet:
"Doch die Schuldfrage ist in diesem Fall gar nicht entscheidend."
Sondern – und damit leiten wir zur zweiten Fraktion der Nannen-Preis-Aberkennung-Exegese über:
"Viel wichtiger ist, dass Pfister sich lediglich einer Technik bedient hat, die seit einigen Jahren vor allem in Magazinen überhandnimmt: das Schildern von Ereignissen und Gesprächen, die der Autor nur aus Erzählungen kennt. Für den Leser hat das Vorteile... Er gewinnt den Eindruck, in die Köpfe der handelnden Personen zu blicken."
Im letzten Satz erkennt der aufmerksame Medienbeobachter das Echo der Claudius-Seidl-Schelte aus der FAS vor einem Jahr, die sich ebenfalls auf den Nannen-Preis bezog. Und aus der auch in der TAZ von David Denk und Philipp Gessler zitiert wird:
"'...und es liest sich ja sehr flüssig bis zu dem Moment, in dem es dem Leser auffällt, dass der Autor sich die Freiheit nimmt, in nahezu jeden Kopf […] hineinzukriechen und von dort drinnen zu berichten, wie es sich so denkt und fühlt in diesem Kopf.'"
Hier geht es also um die Kritik an einem "Spiegel-typisch psychologisierenden Text". In diesem Feld erkennt ein weiterer Text in der Berliner von Marin Majica und Ralf Mielke Besserung:
"Doch der Spiegel scheint bereits dazugelernt zu haben. 'Das Meer muss halbwegs friedlich gewesen sein am vergangenen Montagmorgen', beginnt die Titelgeschichte über die Erschießung Bin Ladens im aktuellen Heft."
Majica und Mielke haben übrigens auch einen sehr schönen Einstieg:
"Harald Schmidt will sich von Spiegel-Mann René Pfister nicht reinlegen lassen. Es ist Anfang Dezember 2010, und Harald Schmidt sitzt in einem Eckzimmer im Berliner Soho House. Es gibt Kaffee und Schnittchen, mit am Tisch sitzen auch die Regisseurin Doris Dörrie, der SZ-Kolumnist Axel Hacke, die Zeit-Reporterin Sabine Rückert und der Publizist Manfred Bissinger, sie alle gehören zur Jury des Reporterpreises 2010."
Wobei der Witz darin besteht, dass die Schilderung keine Parodie ist, sondern sich Beobachtung verdankte: Diese Jurysitzung war öffentlich. Schmidt hatte sich übrigens nicht am Anfang, sondern am Ende des Pfister-Texts gestört, an dem sich Seehofer im Wagen die Hände abwischt, die er gerade geschüttelt hat. Auch dieses Unbehagen zielt auf den Spiegel-Style:
"Der volksnahe Politiker, der mit dem Volk nichts zu tun haben will – die Botschaft dieser Szene ist Schmidt offenbar unbehaglich. Weil sie einfach zu gut passt. Weil sie manipulativ platziert ist."
Der Spiegel ist über den Vorgang übrigens alles andere als amused, zumindest wenn man dem Tagesspiegel Glauben schenken kann, wo Joachim Huber und Sonja Pohlmann enden:
"Jetzt wird beim 'Spiegel' überlegt, ob und wie weiter auf diese 'völlig überzogene Entscheidung' reagiert werden soll. Die Brandstwiete schäumt."
Für diese Lesart spricht, was Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo im Gespräch mit der SZ (Seite 15) sagt:
"Was immer der Spiegel entscheidet, wird er zunächst dem Haus Gruner+Jahr und der Jury des Nannen-Preises mitteilen."
Ein Gespräch mit René Pfister findet sich übrigens im Reporter-Forum.
"Gibt es etwas, dass Sie sich vorwerfen?"
"Nein. Dass man aus Erfragtem, Erzähltem und Gelesenem eine Schilderung macht, ist absolut übliches journalistisches Handwerk. Wenn man die Kisch-Preise der vergangenen Jahre durchgeht, findet man etliche Beispiele, bei denen genauso verfahren wird."
Dieser Hinweis kommt auch im dem Text von Jurymitglied Frank Schirrmacher in der FAZ vor (der Pfisters Portraittext-Einreichung als "handwerklichen Fehler" Pfisters bezeichnet) :
[listbox:title=Die Artikel des Tages[Nannen-Preis: Die Jury muss weg (SZ)##Nannen-Preis: Was in der Jury vor sich ging (Welt)##Nannen-Preis: Das in die Köpfe blicken (KSTA)##Nannen-Preis: Der Spiegel lernt (Berliner)##Nannen-Preis: Der Spiegel schäumt (TSP)##Nannen-Preis: Aberkennung ist bigott (Meedia.de)##Nannen-Preis: Was Wolf Schneider meint (TAZ)##]]
"Die Geschichte des Nannen-Preises kennt eine Vielzahl solcher Fälle. Sabine Rückerts zu Recht preisgekrönter Text 'Wie das Böse nach Tessin kam' operiert ganz ähnlich ('die Sonne füllte die Terrasse mit milchigem Licht'), der Unterschied liegt darin, dass der Leser natürlich weiß, dass die Autorin bei dem authentisch beschriebenen Mord nicht dabei gewesen sein konnte und dass es eine Rekonstruktion ist."
Sowie bei dem Gespräch mit Dummy-Herausgeber Oliver Gehrs, das Meedia.de geführt hat:
"Wenn man die ganzen preisgekrönten Reportagen der vergangenen Jahre anschaut, wird man womöglich viele Passagen finden, die ähnlich zustande gekommen sind."
Muss Roland Jahns Behörde jetzt auch noch alle Preisträger der letzten Jahre auf "szenische Rekonstruktionen" überprüfen? Schirrmacher hofft auf eine Debatte ("Ist die Motivforschung, das Psychologisieren, die Seelendeutung, aus der ein ganzes journalistisches Genre geworden ist, legitim oder nicht?"), and so ähnlich does Gehrs:
"Bestenfalls könnte das dazu führen, dass man von dieser Inflation der Reportagen und der unterhaltsamen Schreibe als einzig wahren Gradmesser im Journalismus ein bisschen wegkommt. Das wäre schön."
Zum Ende dieses womöglich längsten Altpapiers der langen Altpapier-Geschichte noch der klassische Beckenbauer (einfach jede Meinung vertreten), der von Lebenswerkpreisträger Wolf "Speak" Schneider in der TAZ überliefert wird.
"Der Verfasser vieler Bücher über Sprache und Journalismus findet es 'nicht richtig, René Pfister den Preis abzuerkennen'. Der habe unbestritten einen guten Text abgeliefert, die Jury habe ihn nur fälschlicherweise als Reportage eingestuft. Auch Schneider sagt allerdings, zu einer Reportage gehöre schon, 'dass man selbst gesehen hat, was man reportiert'."
Die TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester überrascht derweil mit einem im Pfister-Trubel völlig untergegangenen Preisträger:
"Ausgezeichnet wurde auch der Satz 'Qualität kommt von Qual' für sein Lebenswerk. Ein absoluter Scheißsatz, wenn man mich fragt, aber mich hat ja keiner gefragt."
Altpapierkorb
+++ Weil's oben so lang war, geht's hier fix. +++ Hat nichts mit dem Nannen-Preis zu tun: "China kritisiert deutsche Medien" (Es geht um Ai Weiwei). +++ Hammerschlagzeile: "Rekordjahr für Herbert Kloiber" (HB). +++ Skype ist populär, verdient aber kein Geld und wurde von Microsoft gekauft (SZ, FTD). +++ FAZ beobachtet Papst bei Dreharbeiten (Seite 33). +++ Streiks stehen an: "Der Tarifkonflikt in der Zeitungsbranche spitzt sich zu." (SZ). +++ Dass Thomas Gottschalk nach seinen 27 Abschiedssendungen "Wetten, dass...?" doch weiter moderiert, scheint auch denkbar (TSP). +++ Die schönste Aussage im Peter-Frey-Interview in der TAZ: "Wir wollen die filmische Dokumentation in 30 oder 45 Minuten als eine der Königsdisziplinen des Fernsehjournalismus überhaupt wieder stärken. 'ZDFzoom' soll aufklären, ganz dicht an Probleme unserer Gesellschaft herangehen, und das nicht mehr um 0.30 Uhr, sondern zur zweiten Primetime." Wenn nicht gerade Champions League ist. Die "zweite Primetime" beginnt übrigens 22.15 Uhr. +++
Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.