Richtlinienlackschaden

Richtlinienlackschaden

Die Lieblingsdisziplinen des Medienjournalismus: Dschungelcamp-Kritik, Personalien, Klatsch und Tratsch – und, so die FAS, Empörung über Schleichwerbung. So gesehen: ein guter Tag für den Medienjournalismus

Was wären also die Paradedisziplinen, wenn es Olympische Spiele der Medienjournalisten gäbe? Nun,

"Die Empörung über Schleichwerbung, Product Placement oder, wie das neuerdings gerne chiffriert wird, 'Produktionshilfen' ist die Lieblingsdisziplin des Medienjournalismus",

schreibt Harald Staun (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) in der Medienseitenrubrik "Die lieben Kollegen", die ihrerseits, weniger in der jüngsten Ausgabe als ganz allgemein, eine Favoritenrolle in der ungefähr zweitliebsten Disziplin des Medienjournalismus innehat: Metaklatsch.

Rang drei in der Battle der Lieblingsdisziplinen ginge qua Ergiebigkeit für Medien-, Gesellschafts-, Prominenten- und Zuschauerkritik womöglich an die RTL-Dschungelcamp-Kritik. Siehe hierzu auch Willi Winkler in der SZ (S. 15): "Damit", also mit der Show, "beginnt mitten im Januar wieder das Festival der knotigen Knie, der zickenden Schwulen jedweder sexuellen Orientierung und der beleidigten Primadonnen, die nie bessere Tage gesehen haben."

Aber bleiben wir fürs Erste bei der Topdisziplin: Product Placement, Produktionshilfen, Schleichwerbung.

Gleich mehrere Unstatthaftigkeiten machen dieser Tage Eindruck. Da wäre zunächst einmal der bereits durchgekaute Fall des Pflegeprodukts, dessen Logo, eine Schirmakazie, zugleich im real life einer Protagonistin und in ihrem fürs ZDF produzierten Film eine Rolle spielt (SZ vom Dienstag, Überblick über die Berichterstattung im Altpapier vom Donnerstag, Ergänzungen am Freitag).

Der streng feuilletonistische Blick führte am Sonntag zum Aufwurf der quasi-existenzphilosophischen Frage, ob Werbung für ein Produkt eigentlich auch dann Werbung ist, schleichend oder nicht, wenn sie keinem auffällt? In Harald Stauns (FAS) Worten:

"Angesichts der mittlerweile sehr strengen Gesetze müssen die Werber ihre Produkthinweise so gut verstecken, dass sie kaum einem Zuschauer auffallen würden, würden ihnen nicht ein paar kritische Journalisten bei der Suche helfen. Im Fall des Films 'Familiengeheimnisse' wird das besonders deutlich: Die Argumentation des ZDF, die Ähnlichkeit des Logos des fiktiven Parfüms 'Ayana' mit dem der echten Kosmetiklinie 'Iwalewa' von Schauspielerin Dennenesch Zoudé wäre deshalb nicht aufgefallen, weil es sich dabei um kein 'bekanntes Markenprodukt' handle, ist nicht von der Hand zu weisen. Seit dieser Woche ist das endlich anders."

So kann man's sehen. Die Frage wäre freilich: Soll der Mitwisser in Zeiten von Wikileaks lieber schweigen oder die große Glocke läuten, und sei es notfalls auch ein paar Jahre im Nachhinein?

Bild hat sich bekanntlich für letztere Alternative entschieden: Der gri-gra-"große Report" ("ZDF-Akte Schleichwerbung") der Nutella-Unternehmenszeitung, angereichert mit extra vielen leckeren geknackten Nüssen, begann vergangene Woche mit dem eben erwähnten Fall, wurde fortgesetzt mit einem Beitrag über „Die Affäre Semmeling“ und war mit jenem über "Wetten, dass..?" auf dem Höhepunkt.

Und nun lässt sich Bild auch die Focus-Recherchen zu der, worauf die SZ (S. 15) hinweist, "Doris-Heinze-Verfilmung" namens "Meine Familie bringt mich um" nicht entgehen.

Der Focus, der heute seinen 18. Geburtstag feiert, wozu die taz mit ein paar Gemeinheiten gratuliert, und der seine jüngst diagnostizierte Kioskschwäche mit wirklich auffällig blöden Mitteln zu therapieren versucht (aktueller Titel: " Die neue Sarrazin-Debatte: Verdummen unsere Kinder?" - NEIN, HERRJE!), dieser Focus also beschert uns den nächsten nicht ganz unbegründeten Verdacht: In besagter Familienkomödie (Ausstrahlung im ZDF am 31. Januar geplant) mit – Gruß an alle a) Verschwörungstheoretiker und b) investigativen Journalisten – Iris Berben seien in 20 Einstellungen Fahrzeuge des VW-Konzerns zu sehen. (Foto: Berben mit Thomas Gottschalk bei "Menschen 2010".)

Dass die Produktionsfirma dieselbe ist wie im erstgenannten Fall, Moovie von Oliver Berben, ist vielleicht Zufall, vielleicht aber auch nicht erwähnenswert. Focus Online:

"In einer ZDF-Stellungnahme hieß es: 'Die Überprüfung des noch nicht ausgestrahlten Fernsehfilms (...) durch die Clearingstelle des ZDF nach Ihrem Hinweis'" – also jenem des Focus – "'hat ergeben, dass der Produzent eine kostenlose Fahrzeugbeistellung vereinbart hat, ohne dies dem ZDF mitzuteilen und genehmigen zu lassen.' (...) Das ZDF erklärte, der fertige Film werde jetzt noch einmal daraufhin untersucht, 'ob der Einsatz der Fahrzeuge den Richtlinien' entspreche."

Heute scheint man einen Schritt weiter zu sein; die Rede (etwa in der SZ) ist davon, dass es sich laut ZDF wohl um eine kostenlose Fahrzeugbeistellung handle, die allerdings von Berbens Firma nicht vertragsgemäß gemeldet worden sei. Wodurch die Richtlinien dann, wenn wir das richtig verstehen, keinen Achsbruch erleiden, sondern nur einen schwereren Lackschaden davontragen.

Die Richtlinien? Ach ja, kompliziert: Was einmal verboten war, ist mittlerweile unter Umständen erlaubt. "Beistellungen sind in bestimmten Fällen zulässig", sofern sie die Produkte nicht werblich in Szene setzen, informiert etwa die SZ heute zum neuesten Fall. "Zulässigkeit und Programmverträglichkeit passen aber nicht immer zusammen", schrieb Christopher Keil am Samstag, ebenfalls in der SZ, in der er ebenso die Bild-Recherchen zu "Wetten, dass..?" zitierte wie Michael Hanfeld in der Samstags-FAZ.

Nebenbei ein hübscher Beweis für die Unabhängigkeit von FAS und FAZ (voneinander): Während die FAS am Sonntag gegen "den großen Bild-Report" lästert, "'aufzudecken'" gebe es in Sachen Schleichwerbung bei "Wetten, dass..?" nun nicht mehr allzu viel, schreibt Hanfeld,

"Die Produktionsumstände bei der Show 'Wetten, dass . . ?', von denen 'Bild' (...) erzählt, sind (...) so bislang noch nicht erhellt worden: 1,2 Millionen Euro soll die Brauerei Warsteiner in den Jahren 2004 bis 2006 dafür bezahlt haben, dass ihr Logo bei der Show im Bild auftauchte. Warsteiner baute in dieser Zeit Bierbuden auf, die im Hintergrund zu sehen waren, sobald die Kameras zu den Außenwetten der Show schalteten."

Auch ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut taucht in den Samstagsausgaben von SZ und FAZ auf. In der FAZ wird er mit den Worten zitiert, einen "Catering-Vertrag" würde man "bei einer Show wie 'Wetten, dass ..?' nicht mehr abschließen, wenngleich man es bei der Übertragung von Sportveranstaltungen nach der jetzt gültigen Rechtslage sogar dürfe (...): 'Diese Praxis haben wir beendet.'"

Und in der SZ heißt es über ihn: "Er genehmigt vieles nicht, das erlaubt wäre und geht wohl auch kompromisslos gegen Verstöße vor."

[listbox:title=Artikel des Tages["Glee" (taz)##VW in Aktion (Focus Online)##Zur Produktplatzierung (FAZ)##10 Jahre Wikipedia (SZ)]]

Bellut ist selbstredend auch Thema des Spiegel-Artikels über die bevorstehende Entscheidung von ZDF-Intendant Markus Schächter, ob er für eine dritte Amtszeit kandidiert oder nicht (S. 136 f.). Kandidiert Schächter nicht, könnte der Nachfolger Bellut heißen.

Lieblingsdisziplin vier des Medienjournalismus: Personalien.

"(E)s gibt unter den Landespolitiker nicht wenige, die ihn an der Spitze halten wollen", schreibt Markus Brauck über Schächter, doch den Grundtenor des Artikels bilden die Stimmen anderer. Kurzzusammenfassung:

"Mancher zweifelt, ob er noch der Richtige ist." / "Es ist nicht bloß irgendeine öffentlich-rechtliche Verwaltungspersonalie. Es geht darum, ob das ZDF endlich die Schatten der Brender-Affäre vertreibt." / "Wenn er antritt, wird Schächter gewählt. Ein Wunschkandidat ist er aber wohl nicht mehr." / "Schächter wird menschlich sehr geschätzt, aber er gilt als einer, der seinen Laden nicht mehr führt." / "Eigentlich wäre für den Intendanten jetzt der perfekte Zeitpunkt, um zu gehen."


Altpapierkorb

+++ Wikipedia wurde 10, am Samstag. Alphabetisch geordnet hier die Links zu einigen Einlassungen. C wie Carta, F wie FTD, M wie Meedia, N wie NZZ, S wie SZ, wo Andrian Kreye den Bogen zum nächsten Wiki schlägt: "Wikileaks ist nun die politische Fortführung. Wenn auf der Basis dieses Vertrauens die Netzgemeinschaft Politik und Wirtschaft zu Transparenz zwingen kann, so wird das soziale Experiment zu einer sozialen Norm. 'Die Revolution vollzieht sich nicht, wenn eine Gesellschaft neue Technologien, sondern wenn sie neue Verhaltensformen übernimmt', schrieb der Medienwissenschaftler Clay Shirky. Ob das soziale Experiment Wikipedia nach zehn Jahren ein Erfolg war, wird die weitere Geschichte von Wikileaks und dessen Nachfolgern zeigen" +++

+++ Bleiben wir bei Wikileaks: Erleben wir nach der Twitter-Revolution (Iran) und der Facebook-Revolution in Tunesien die erste Wikileaks-Revolution, weil "der Aufstand in Tunesien von der Veröffentlichung einschlägiger Depeschen aus der amerikanischen Botschaft in Tunis angestachelt worden sein könnte", wie die New York Times schrieb? "Das Magazin 'Foreign Policy' bezeichnete den Sturz Ben Alis" so, zitiert FAZ.net, während die SZ in den "Nachrichten aus dem Netz" schreibt: "Eine Revolution 2011 wird in einem auch nur halbwegs an die Moderne angeschlossenen Land (...) notwendigerweise auch auf Twitter und bei Facebook stattfinden. Was aber noch lange nicht heißt: wegen Twitter oder Facebook." +++

+++ ARD-Nahostkorrespondent Patrick Leclercq ist 60-jährig in Kairo gestorben (TSP, SZ, S. 15, Welt Online, FR online) +++

+++ Die taz-eigene Transparenz-Initiative opentaz beschert uns auf Leseranregung – und das ist wirklich mal eine lustige Brechung der Wikileaks-Undichte-Welt-Metapher – einen Text über Inkontinenz: "Noch ganz dicht" +++

+++ Mehr von Lieblingsdisziplin vier: Claus Strunz, Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, moderiert den neuen Polit-Talk auf Sat.1, berichtet Der Spiegel (S. 135) +++

+++ Sarrazin bleibt sicher dabei: Seine Interpretationen werden von niemandem bestritten. Außer natürlich von ziemlich vielen. Die taz berichtet von einer Lesung Sarrazins in Dresden: "Eine Asiatin überführt ihn der Unkenntnis von Goethes 'Wanderers Nachtlied', so wie der deutsche Kulturbürger Sarrazin zuvor schon ein Hölderlin-Zitat fälschlich Schiller zuschrieb." +++ Wäre nicht der Rede wert, würde das FAZ-Feuilleton nicht gerade ressortintern eine "Divan-Debatte" zum Abdruck bringen, die auch von Sarrazins Goethe-Kenntnissen handelt. Neueste Folge im Feuilletonaufmacher vom Samstag (S. 31, "Die Divan-Debatte geht weiter"): "Das hat sich Goethe nicht träumen lassen, dass ihn die Gedichte aus seinem 'West-östlichen Divan', die er 1819 erstmals gesammelt gedruckt hat, nach fast zweihundert Jahren in einen politischen Streit um den Machtanspruch islamischer Kultur verwickeln könnten. Denn die Behauptung Thilo Sarrazins in seinem Beitrag für diese Zeitung an Heiligabend, dass schon Goethes erstes Spruchgedicht aus den 'Talismanen' 'Ausdruck des umfassenden Machtanspruchs des Islam' sei, enthält nicht nur einen Auslegungsirrtum, sondern auch einen methodischen Fehler." +++

+++ DRadio Wissen wird ein Jahr (BLZ, TSP) +++ Wie steht's bei Viva? BLZ vom Samstag +++

+++ Und das Fernsehprogramm natürlich. Zum einen vielfach gewürdigt wird die – Zusammenfassung der Kritiken – schlaue, hintersinnige Highschool-Musicalserie "Glee" (Super RTL, 20-15 Uhr), etwa in der FAS (S. 28), in TSP, SPON und taz +++ Zum anderen besprochen wird "Nachtschicht – Ein Mord zu viel" im ZDF (TSP, FAZ, S. 29, BLZ / FR) +++

+++ Und nicht zu vergessen: Die Funkkorrespondenz mit einem umfassenden Rückblick aufs Fernsehjahr +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.
 

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