Wofür Wikileaks jenseits von Tratsch noch gut ist: Romane, Wissenschaft, Filme, Witze, Selbstermannung, Zäsuren. Und ein Quiz.
Das, mit Verlaub, Öde an Enthüllungen, wie Wikileaks sie großen Zeitungen und Magazinen gerade wieder serviert hat, ist zweierlei.
Zum einen die kritische Routine, mit der sich an solchen "Neuigkeiten" abgearbeitet wird.
"Die Geschichte des Verrats und der Verräter ist eine der ältesten, zwiespältigsten."
Erinnert Peter von Becker dankenswerterweise im Tagesspiegel, wo er aus gegebenem Anlass eben eine "Geschichte des Verrats" schreibt. Die Geschichte des Hackers ist vermutlich auch eine der ältesten, zwiespältigsten – jedenfalls schreibt Andrian Kreye dazu etwas im SZ-Feuilleton.
Von den Feuilletonanwendungen zum Großenganzen, das einen ja immer schon skeptisch macht, weil sein Tonfall so unnachgiebig ist. Ines "Weiter so, Wikileaks" Pohl weiß auf Seite 1 der TAZ jedenfalls, dass es sich hierbei um nichts weniger als eine Zäsur handelt:
"Eingeübte Verbandelungen zwischen Meinungsmachern und Politikbetrieb werden problematisch. Das ist die eigentliche Zäsur, die derzeit stattfindet."
Äh, ja. Mit Aufwand verbunden ist die Interpretation der Lage, die Arno Widmann in der FR "für uns" beschlossen hat:
"Wir Bürger werden immer weniger uns darauf hinausreden können, wir hätten nichts gewusst. Wir werden genau wissen, und wir werden darum auch viel stärker einbezogen werden in das, was getan werden muss. Das Leben wird unbequemer werden. Wir werden uns öfter engagieren müssen."
Damn! Wird's wieder nichts mit Decke anstarren und versonnen in der Nase puhlen nach getaner Arbeit. Ein bisschen Trost gibt's bei Clemens Wergin auf Welt-Online, weil "wir" ja zur unendlich großen Mehrheit von Nichtdiplomaten gehören und also nicht betroffen sind:
"Was Wikileaks nun zerstört hat, ist die Freiheit des vertraulichen diplomatischen Gesprächs."
Ganz lustig ist, dass Wergin zur verantwortungslosen Freiheit im Internet auch die "anonymen Hetzer(n)" rechnet, "die sich in den Kommentarspalten von Webseiten austoben" – eine Ahnung von denen kann man sich bei Welt-Online bekanntlich nicht selten machen. Ebenfalls beruhigend ist, dass Wergin wie auch Michael Hanfeld in der FAZ (Seite 35) Wikileaks den anderen an den Hals wünscht:
"Bisher gingen Wikileaks-Enthüllungen fast ausschließlich zu Lasten von demokratischen Staaten, die ohnehin ein vergleichsweise hohes Maß an Transparenz aufweisen."
Vielleicht sollten FIFA und IOC künftig die jeweils nächsten Wikileaks-Veröffentlichungen vergeben, die haben da ja eine gewisse Kompetenz. Dass es nach diesem Muster nicht funktionieren wird, legt das etwa das Handelsblatt nahe. Das verkündet im Stile des James-Bond-Abspanns, wo Julian Assange demnächst returnen will:
"Nach der Veröffentlichung von US-Regierungsdokumenten solle Anfang nächsten Jahres eine amerikanische Großbank das nächste Ziel werden, sagte der Australier in einem Interview des US-Magazins 'Forbes.'"
Die SZ zitiert ausführlicher. Bis es so weit ist, muss mit den "Interpretationen" (Widmann) vorlieb genommen werden, die da sind. Auf Grundlage derer bieten sich folgende Modelle an.
Allein in ihrem Korrespondentenschwenk around the world präsentiert die FAZ folgende Erklärungen:
Es könne sich bei dem Material allenfalls um Vorarbeiten zu einem Roman handeln
"Kein geübter Leser käme in Versuchung, Skizzen für einen Roman mit dem künstlerischen Endprodukt zu verwechseln. In Skizzen spiegeln sich erste Gedanken, Gedankenexperimente und Eindrücke, die oft wieder verworfen oder zumindest abgeändert werden, die mögliche Wege aufzeigen, aber bestimmt nicht vorschreiben, dass der Autor sie auch einschlägt."
Bei der Geschichtswissenschaft knallen derweil die Sektkorken:
[listbox:title=Die Artikel des Tages[Wikileaks around the world (FAZ)##He will do it again (SZ)##Die Enttäuschung von Tim Berners-Lee (FAZ)##BamS kämpft öffentlich für seine Reporter (SZ)##Basel und seine Zeitung (NZZ)##]]
"Was für Historiker die Erfüllung eines Traums darstelle, sei der Albtraum des Diplomaten, schreibt der Oxforder Zeithistoriker Timothy Garton Ash. Normalerweise müssten Forscher zwei oder drei Jahrzehnte warten, um derartige Schätze aufzudecken."
Es darf gelacht werden:
"'Kaiser ohne Kleider' lautet die Legende zu Sarkozy. Über die wilden Partys bei Berlusconi, die 'epileptischen Anfälle' von Kim Jong Il und 'Hitler I.' haben die Franzosen sich sehr amüsiert. Es ist das Niveau, auf dem die Politik von den Humoristen, Komikern und Karikaturisten dargestellt wird."
Dieser Befund stammt aus Frankreich und weicht damit vom Korrespondentenbericht in der SZ ab, in dem die Lage etwas ernster geschildert wird.
Alternativ bietet sich noch der Film als Interpretationsraum für die Wikileaks-Veröffentlichungen an – entweder über den "verratenen Verräter" Bradley Manning (SZ: "Die Geschichte beginnt am 22. Mai filmreif") oder gleich über Assange (TSP: "Eine solche Geschichte hätte kein Drehbuchautor besser erfinden können.")
Die FTD präsentiert Wikileaks kurzerhand als Quiz.
Zum anderen haftet gerade der Berichterstattung über das "typische Berliner Cocktail-Geschwätz" (Horst Seehofer) eine merkwürdige Redundanz an: Medien berichten über Wahrnehmungen, die sie wenn nicht gar mitgeprägt, so doch zumeist teilen würden.
Was anderes als eine "schräge Wahl" soll ein Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel denn sein?
Altpapierkorb
+++ Es gibt noch mehr wie Enthüllung auf der Welt. Enttäuschung etwa: Tim Berners-Lee, "Erfinder des World Wide Web", sieht laut FAZ-Netzökonom Holger Schmidt die Freiheit desselben durch Facebook und Apple verraten. +++ Oder Demission: Kachelmann-Verteidiger Reinhard Birkenstock macht, wie man früher sagte, die Fliege, Johann Schwenn soll übernehmen, was für Birkenstock, der keine Gründe angab, dennoch teuer werden könnte, wie Gisela Friedrichsen auf SpOn zu bedenken gibt: "Werden Sachverständige von einem Verteidiger als präsente Beweismittel in einem Strafverfahren gestellt, trägt die Kosten dafür erst einmal der Rechtsvertreter. ... Fragt sich nun, ob Birkenstock auf diesen Kosten sitzenbleibt." +++
+++ In der Sache der beiden im Iran verhafteten BamS-Reporter erkennt die SZ eine Kursänderung. Springer setzt nicht mehr auf stille Diplomatie, sondern auf Öffentlichkeit (weiterhin ohne allerdings die Namen zu nennen) – "Am Sonntag zuvor stand auf der Titelseite ein Kommentar des Chefredakteurs Walter Mayer, in dem die Freilassung der Journalisten gefordert wurde" – und Weihnachten: "'Unsere Hoffnung stützt sich nicht zuletzt darauf, dass Jesus Christus auch in der islamischen Religion eine wichtige Rolle spielt.'" +++ Gleich darunter ein Artikel (Seite 17) darüber, wie ausdauernd in Frankreich an in Afghanistan entführte Journalisten erinnert wird: "Es ist bereits ein Ritual, an das sich die Zuschauer gewöhnt haben: Abend für Abend blendet das französische Staatsfernsehen während der Hauptnachrichten die Fotos zweier Journalisten ein." +++
+++ Daniel Bouhs zieht in der Berliner eine Bilanz des ARD-Vorsitzes von Peter Boudgoust ("Schlankredner"). +++ Und amüsiert sich in der TAZ über die Staatsangelegenheit, zu der die Tagesschau-App beim upcoming Treffen der ARD-Granden geworden ist. +++ Die NZZ vermeldet einen neuen Besitzer der Basler Zeitung, die erst kürzlichen einen neuen Besitzer vermelden konnte, weshalb der eigentlich interessante Text der über das Verhältnis der reichen, auch kulturvollen Stadt zu ihrer Zeitung ist, das, wenn nicht schon immer, doch länger zwiespältig war. +++
+++ Die Berliner hat Kati "Ich weiß, wie ein Mikrofon aussieht" Wilhelm interviewt, die beim Biathlon künftig selbst interviewen wird. +++ Und den eigentlich Burner des Tages hält der KSTA bereit: "Im holländischen Fernsehen werden fortan regelmäßig Operationen live zu sehen sein." +++
Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.