Sascha Lobo berichtet in seinem Geschenkpapier zum zehnten Altpapier-Geburtstag über Medienberichte über Medienberichte, die u.v.a. um die erfolgreichste PR-Agentur der Welt (Apple) sowie um Markus Schenkenberg & Angela Merkel kreisen. Quelle: Papier.
In der Ära Facebook gelingt es nur noch sehr wenigen Leuten, keine Medienschaffenden zu sein. Der Rest ist also zumindest ein wenig mitverantwortlich dafür, was den ganzen Tag geschrieben, gesagt und gesendet wird. Es ist deshalb auch Selbstkritik, wenn man sich die auf die Medienlandschaft bezogen naheliegendste Frage stellt: Sind eigentlich die Medien total bescheuert oder publizieren sie bloß für ein total bescheuertes Publikum? Sind wir Publizisten so doof wie unsere Facebook-Statusnachrichten oder Schlagzeilen?
Als Teil der Antwort muss leider eine Meldung gelten, die es über die dpa in bedrückend viele Qualitätsmedien geschafft hat: "Die Jury des Schlemmeratlas verleiht Boris Becker den Titel Genießer des Jahres 2011". Wer schon mal bewusst oder unbewusst im Bereich PR gearbeitet hat, die meisten Journalisten also, erkennt, wie geschickt diese Meldung auf mediale Resonanz gebürstet ist. Es fängt an mit dem Namen Boris Becker, dessen Nennung grundsätzlich ein Zeichen dafür ist, dass es ausschließlich um mediale Erwähnung geht. Der Titel "Genießer des Jahres" liegt auf einer Ebene mit dem Titel "Krawattenmann des Jahres" und macht Hoffnung, dass demnächst der "Absurdeste "Des-Jahres"-Titel des Jahres" gekürt werden wird und sich hier ein Teilnehmer für diesen Wettbewerb schon mal warmmacht. Die Jahreszahl 2011 macht nur den Anfänger stutzig, denn es ist ja noch gar nicht 2011, wie ein kurzer Blick auf den Kalender beweist. Aber der Kenner weiß: hier wurde eine Meldung produziert, die man als Journalist ohne Aktualitätsschmerzen innerhalb der nächsten 12 Monate immer wiederverwenden kann und zwar in jedem Kontext, in dem man irgendwie Boris Becker erwähnen kann, also in jedem Kontext. Auf der Verleihung des Preises in der nach Frankfurt und Berlin drittglamourösesten deutschen Exhauptstadt der letzten 200 Jahre, Bonn, sagte Boris Becker, er habe den Preis verdient, denn: „Ich wurde jahrelang öffentlich kritisiert für meine Lust auf Leben.“ Und diese Begründung wiederum sieht fast aus wie eine Bewerbung um den Titel "Euphemismus des Jahres".
Allerdings eine völlig chancenlose, denn Uwe Vorkötter sprach Anfang des Jahres im "Journalist" davon, dass Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung "ihre Eigenständigkeit behalten werden". Heute drückt sich auf den Medienseiten dieser zwei Zeitungen die Eigenständigkeit dadurch aus, dass drei große, identische Artikel darauf zu finden sind. Der buchstäblich einzige Unterschied ist die Überschrift der "Bella Vita"-Kritik (ZDF) von Torsten Wahl, die in der FR lautet: "Multikulti von unten" und in der Berliner Zeitung "Kreuzberger Sketch-Parade". Zwanzig bzw. fünfundzwanzig Zeichen sind inzwischen also für eine journalistische Eigenständigkeit ausreichend, eine gute Nachricht für diejenigen, denen Twitter mit 140 Zeichen noch arg lang erscheint.
Ebenfalls immer kürzer scheint die Frist zu werden, nach der eine Berichterstattung zum Medienhype erklärt werden kann. Gefühlt gab es bisher in diesem Jahr um die 50 Hypes, von denen allein die erfolgreichste PR-Agentur der Welt mit ihrer angeschlossenen Merchandising-Abteilung, Apple, etwa die Hälfte verantwortet. Einer dieser Hypes war der Krake Paul, der nun gestorben ist. Bereits am Tag nach seinem Tod steht im gedruckten Magazin der FR mit einem Redaktionsschluss nur Stunden nach dem Ableben des Tiers eine Sammlung von Pressestimmen zum Tod, Hamburger Abendblatt ("Oberhausen trauert"), La Nacion aus Argentinien ("Abschied von einem Idol"), De Telegraaf, New Zealand Herald, Huffington Post, The Guardian – alle, alle, alle werden zitiert und das wichtigste Kennzeichen des Hypes ist schliesslich die Metaberichterstattung. Selbst, wenn man den sommerlichen Hype um Pauls seherische Fähigkeiten in Betracht zieht, gibt der ziemlich sicher morgen wieder vergessene Hype um seinen Tod Anlass zur Sorge: Sind die immer schneller auf- und wieder zurückpoppenden Hypes am Ende? War der umwerfende Erfolg der Hypes der letzen Jahren selbst nur ein Hype? Wird der Hype-Hype je wiederkommen? Das vielleicht interessanteste im Magazin der FR ist nicht die Antwort auf diese platonische Frage, sondern dass die Auflistung der weltweiten Medienzitate mit zwei Twitterzitaten endet ("Wir hätten ihn gleich grillen sollen") und vor allem, dass als Quellenangabe darunter steht: Deutscher Twittereintrag. Das entspricht der Medienpraxis, bei irgendwelchen im Fernsehen gezeigten Amateuraufnahmen "Quelle: Youtube" einzublenden oder gleich zu schreiben: "Quelle: Internet". "Qualität" kommt vielleicht nicht von "Quelle", sollte es aber. Oder man ist wenigstens konsequent und schreibt bei den Zeitungszitaten "Quelle: Papier".
Das multipel gestörte Verhältnis zwischen Internet – einer ausgedachten Umfrage unter netzbegeisterten Bloggern zufolge das zehnte Mal in Folge Medium des Jahres – und Print hat bei den Machern des US-amerikanischen Blogs Politico offensichtlich keine Spuren hinterlassen. Munter probieren sie aus, womit sich die große Frage des Journalismus im 21. Jahrhundert beantworten lässt: Wie zum Teufel oder anderreligiösen Äquivalenzfiguren lässt sich Qualitätsjournalismus refinanzieren? Nach einer eigenen, aus dem Blog entstandenen Papierzeitung wagen sie sich in den Bereich Paid Content, der nach wie vor alle Chancen auf den Titel "Verbrannteste Medienerde 1999 bis 2011" hat. Politico möchte einen Spezialinformationsdienst namens Politico Pro schaffen, der sich mit politischen Insiderinformationen beschäftigt. Er wird für den Leser zwischen 1500 und 2500 Dollar jährlich kosten und mit den Themen Energie, Technologie und Gesundheit starten. Das sind nicht nur zufällig die politischen Bereiche, in denen die Lobbyisten mit Abstand über das meiste Geld verfügen. Bei einem von Branchenkennern geschätzten jährlich neunstelligen Lobbying-Etat allein der deutschen Pharmaindustrie könnte das auch für Deutschland ein interessantes Finanzierungmodell werden.
Wobei trotz allem die Geldfrage ausserhalb von Deutschland noch wesentlich ungeklärter scheint: gerade hat der AP-Chef Tom Curley laut Poynter.org seinen Angestellten per Mail erklärt, dass er sich wirklich Mühe gegeben habe, ihre Rentengelder zu sichern, aber es hat einfach nicht sollen sein. Kann man diese Information in direkten Kontrast stellen mit dem häufiger mündlich kolportierten Gerücht, es gäbe noch aus Zeiten des SFB beim RBB Rentenverträge über 120% des letzten Nettogehalts? Eigentlich kann man das nicht, ohne den "Äpfel-mit-Birnen-Vergleichspreis des Jahres" zu bekommen. Den Gegenpreis für den Naheliegendsten Vergleich des Jahres hingegen bekommt Daniel Haas, der in der FAZ den A-Team-Wrestler Mr. T. als "Sascha Lobo auf Anabolika" bezeichnet, weil es in dem Artikel nämlich um Twitter geht und Mr. T einen Irokesenschnitt trägt und an dieser Stelle steht in der großen Excel-Tabelle der amtlich vorgeschriebenen Vergleiche mein Name.
Wie auch beim Stichwort "sonderbarer Jungverleger" zwangsweise Konstantin Neven DuMont erwähnt werden muss. Dessen Freunde haben auf Stefan Niggemeiers Blog so oft kommentiert, dass er stellvertretend für seine Freunde zurücktreten wird, was er eigentlich schon seit dem Sommer wollte, aber was ihm jetzt erst eingefallen ist. Über diese verwickelten Verwicklungen und ihre Wirkung auf die DuMont-Dynastie schreibt anlässlich der heutigen Familienzusammenkunft die taz im Artikel "Der Gesalbte hebt ab" und berichtet damit über Medienberichte über Medienberichte über Medienberichte. Das wirft zwei Fragen auf: Kommt der Hype-Hype wieder als Hype-Hype-Hype? Und: wer schreibt mit dieser furios-grandiosen Vorlage den großen, medienironischen Familienroman des Dritten Jahrtausends, auf den so sehnlich praktisch keiner wartet? Joachim Lottmann? Oder doch Moritz von Uslar in der neuen Form des Reality-Romans zum selbst Nachrecherchieren?
Den Titel "Am wenigsten romanwürdige Internet-Plattform des Jahres" hingegen bekommt MySpace, das beinahe ganzseitig in der Welt besprochen wird. Für die Jüngeren oder später Hinzugekommenen: MySpace war früher Facebook und ist jetzt AOL. In der Welt steht, dass der Erfolg von Facebook auch etwas Gutes habe für MySpace, denn die negativen Schlagzeilen würde jetzt Facebook bekommen. Neben Vorkötters Eigenständigkeit ist dieses Argument sicher auch unter den Anwärtern der Euphemistischsten Betrachtungsweise des Jahres. In diesem Kontext muss unbedingt einer der lustigsten Fakenews-Beiträge der jüngeren Mediengeschichte erwähnt werden, natürlich auf The Onion, mit dem Titel "Internet Archaeologists find Ruins of 'Friendster'-Civilization". Hintergrundinformation für Late Adopters: das soziale Netzwerk Friendster war für MySpace, was jetzt MySpace für Facebook ist.
Das Titelrennen für die "Unüberraschendsten Beiträge des Tages" ist hingegen noch nicht entschieden. Im Rennen sind die folgenden drei Meldungen: Die Spur der gehackten Internetseite des Friedensnobelpreises führt fast nach China, nämlich nach Taiwan (dpa). Edmund Stoiber schlägt mit Horst Seehofer den amtierenden CSU-Vorsitzenden als seinen Nachfolger im ZDF-Verwaltungsrat vor (überall). Und mindestens ein ehemaliger Beschäftigter der BILD-Zeitung hat schon mal mit Methoden gearbeitet, die zumindest ein Gericht als Nötigung ansieht (überall außer Springermedien; bitte beachten Sie die sehr geschickt abmahnsicher gemachte Formulierung).
[listbox:title=Geschenkpapier-Container[Nr. 1 von Perlentaucher-Medientickerer Rüdiger Dingemann##Nr. 2 von sueddeutsche.de-Chefredakteur Hans-Jürgen Jakobs]]
Was aber bleibt medienhistorisch von diesem Tag? Zum einen die Erkenntnis, dass laut Spiegel Online unter Außenminister Westerwelle Joschka Fischers Praxis aufgeweicht wurde, dass Nazis aus den Reihen des Auswärtigen Amts keine ehrenden Nachrufe bekommen dürfen. Abgesehen davon, dass die Fälle, um die es konkret geht, sich vermutlich an einer zum Gruß erhobenen Hand ablesen lassen würden, hat diese Entscheidung – wie auch immer sie zustande gekommen sein mag – alle Zutaten für einen Diplomatenskandal. Diplomaten sind Menschen, die ein Loch in der Hose als "noch nicht ganz zugenäht" bezeichnen würden, und auf Protokoll und Titel ungeheuren Wert legen, daher ist alles mit spiegeltitelverdächtigem Hitlerbezug ein schieres Skandalon. Mein Vorschlag für eine diesbezügliche Glosse von Daniel Haas: "Nachrufmord".
Zum anderen bleibt eine Meldung aus der Welt Kompakt, samt Foto, die sich auf die Werbetätigkeit von Profimodel Marcus Schenkenberg bezieht. Dieser wirbt für eine eigene Schlafanzugkollektion und allein das ist schon mal lustiger als alles, was an einem durchschnittlichen Comedy-Freitag im Fernsehen läuft. Schenkenberg hat schon mal geäußert, dass er gerne mit Angela Merkel zusammenwäre und schreckt auch sonst vor praktisch nichts zurück. Auf die Frage, welches sein schönstes Körperteil sei, sagte er: "Mein Penis." Diese Antwort verdient zweifellos den Titel "Penis des Jahres" oder eher "Penis aller Jahre". Vielleicht könnte man den Preis in Anlehnung an ein Medienphänomen der Neunziger Jahre auch "Mutter aller Penisse" nennen – eventuell ist die Spitze der Titelfahnenstange damit dann doch erreicht. "Penis des Jahres", das ist sogar für Boris Becker eine Nummer zu groß und gleichzeitig der Titel, den heimlich alle Männer tragen wollen, ob rechts oder links. "Penis des Jahres", "Penis des Jahres", man muss es immer wieder schreiben – Medienschaffende! Tragt diesen Titel in die Welt, auf dass alle anderen Preise "Des Jahres" dagegen verblassen. Ob das allerdings eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Bescheuertheit von Publikum oder Medien ist, muss jeder selbst entscheiden.
Sascha Lobo ist, äh..., Sascha Lobo. Das nächste Geschenkpapier kommt am Donnerstag von Stefan Niggemeier.