Das kann nicht jeder sein. Zwischen Widerspruch und Zustimmung: Flattr, Thilo Sarrazin, Meinungsfreiheit, Bolz und Broder, "Junge Freiheit"
Die deutschen Flattr-Charts für September sind draußen. Carta hat sie wie gewohnt veröffentlicht, Ulrike Langer kommentiert auf MedialDigital unter anderem, was daraus abzulesen ist
"In diesen Rankings sieht man, dass nur wenige Beiträge über 100 Mal geflattert werden. Bisher genieren auch nur wenige Webseitenbetreiber einen dreistelligen Eurobetrag mit Flattr. Netzpolitik verkündete für den August Brutto-Einnahmen von 738,90 € (wovon 19 Prozent Umsatzsteuer noch abzuziehen sind). Das Webportal der 'taz' kam im August auf 1.302 € – und damit auf knapp neun Prozent weniger als im Juli. Insgesamt klickten die Nutzer 5.791 Mal klickten auf den Button – vier Prozent häufiger als im Juli."
Tendenz steigend heißt auch bei den Flattr-Charts der Flattr-Charts (also die Flattr-Zahlen unter den jeweiligen Veröffentlichungen der Flattr-Charts), wie die hier eigens erstellte Übersicht deutlich macht:
Carta/Die deutschen Flattr-Charts im Juni: 9
Carta/Die deutschen Flattr-Charts im Juli: 13
Carta/Die deutschen Flattr-Charts im August: 16
In ganz anderer Münze bekommt dagegen Thilo Sarrazin Zuneigung heimgezahlt: Die Szenen von einer Diskussion im Münchner Literaturhaus mit Münchner Bürgertum, die Peter Fahrenholz in der SZ beschreibt, verbreiten mulmige Gefühle.
"Da wurde gezischt, gebuht und lautstark dazwischengerufen, wenn die beiden anderen Podiumsteilnehmer, Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingart und der Soziologie-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Armin Nassehi, es wagten, Sarrazin zu kritisieren. In der Münchner Reithalle herrschte ein Hauch von Sportpalast. Gut gekleidete Grauköpfe ereiferten sich nicht nur, sie geiferten. 'Ich bin wirklich erschrocken gewesen', sagt Nassehi am Tag danach. Nassehi ist ein geübter Diskutant und Vortragsredner, aber so etwas, bekennt er, 'habe ich noch nicht erlebt'."
Ein Interview, wie Frank Schirrmacher es jetzt mit Sarrazin geführt hat (zwei Seiten im FAZ-Feuilleton, Nr. 33 und 35), hat man ebenfalls selten gelesen – weil weder Münchner noch Frankfurter Bürgertum noch überhaupt ein Publikum anwesend war, konnte detailliert diskutiert werden.
"Es geht aber um die Politisierung von in der Wissenschaft umstrittenen Thesen.
Die Aussage, dass menschliche Eigenschaften zu einem bestimmten Grade erblich sind, ist wissenschaftlich nicht umstritten.
Warum haben Sie denn nicht einfach geschrieben: Ich bin mir bewusst, dass es hier eine ganze Traditionskette gibt, die in die Irre führte? Dann wäre ja gar nichts passiert.
John Lockes Aussage „All men are born equal“ ist normativ, und sie ist zu Recht die Grundlage der westlichen Demokratie. Zu der empirischen Feststellung, dass Menschen mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Potentialen geboren werden und dass sie diese Unterschiede teilweise über das Erbgut an ihre Kinder weitergeben, steht dies nicht im Widerspruch. Um eine Brücke zu bauen, ist es umso wichtiger, in der Gesellschaft Chancengerechtigkeit zu sichern."
Es geht also: Man kann miteinander reden, man kann auch Fragen diskutieren, die nicht jeden Tag gestellt werden, wobei der Eindruck bleibt, dass Schirrmacher in seiner Kritik sehr genau ist, während Sarrazin sich in solchen Momenten eher hinter dem Aufzählen von Quellen verbirgt.
Man könnte, folgt aus diesem Interview, also Norbert Bolz Bescheid geben, dass es mit der Meinungsfreiheit und der Diskussionskultur vielleicht doch noch nicht vorbei ist. Wobei Norbert Bolz das vermutlich gar nicht wissen will, denn anders ist die Weltsicht, die Norbert Bolz pausenlos ventiliert, nicht zu erklären.
[listbox:title=Die Artikel des Tages[Flattr und Charts (via Carta)##Bolz, Broder, Klump: der Irrsinn (DLF)##"Junge Freiheit" relauncht (TAZ)##9 von 20 Mal Brandenburg (Berliner)##]]
Letzter Höhepunkt: die DLF-Sendung "Zur Diskussion" am Mittwoch, schon jetzt eine legendäre Folge, mit Bolz und (sic!) Broder zum Thema "Meinungsfreiheit zwischen Tabubruch und politischer Korrektheit" gleich zwei Böcke als Gärtner. Dazu eine in zeitlosen Anekdoten irrlichternde Buchautorin namens Brigitte Klump und der wenig pointierte Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung, Bernd Hilder, der diesem ganzen Irrsinn ebenso wenig gewachsen war wie die bedauernswerte Alexandra Gerlach als Moderatorin.
Man sollte sich eine ruhige Stunde für das Nachhören dieses Dokuments für Argumentieren am Rande intellektueller Unzurechnungsfähigkeit reservieren: Bolz steckt bis zum Hirn in Verschwörungstheorien (Politik und Medien werden von 68er gesteuert), während Broder sich in ein und dem selben Statement praktisch widerspricht, mit großspurigen Thesen ("Das Feuilleton der SZ gehört zu dem Erbärmlichsten seit dem Völkischen Beobachter") ebenso wenig geizt wie mit dem umgehenden Dementi ("seit dem Neuen Deutschland"). Dabei ist Broder eigentlich ein Kabarettist, der versucht, lustig zu erzählen, was ihm zuletzt aufgefallen ist ("Tafel der Demokratie"), – ob es zum Thema passt, kann sich der Zuhörer aussuchen.
Wenn wir flattern könnten: 100 Klicks. Das Leipziger Publikum tendenziell tendenziös.
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+++ "Fotos sind schein-objektiv. Nicht so sehr weil sie gelegentlich digital verändert werden. Die Lichtbilder täuschen, weil man die Wirklichkeit gar nicht abbilden kann. Sie ist zu flüchtig, zu widersprüchlich und oft einfach zu unspektakulär um ein Foto zu werden. Malerei ist ehrlicher", haben die beiden Welt-Autoren Dirk Marxeiner und Michael Miersch herausgefunden. Folgt demnächst die bahnbrechende Erkenntnis, dass alles subjektiv ist? +++ Es geht freilich nur um PR für die von Georg Baselitz gestaltete Welt-Ausgabe heute. +++
+++ Große Namen: Sowohl Michael Hanfeld (FAZ, Seite 39) als auch Stefan Winterbauer (Meedia) wissen Details von der Helmut-Markwort-als-Chefredakteur-Verabschiedung zu berichten. Die Burda-Begeisterung schwappt durchaus über, vor allem bei Winterbauer: "44 Jahre lang war er als Chefredakteur im Amt. Daneben sieht selbst Helmut Kohl mit seinen 16 Jahren Kanzler blass aus." +++ Die "Junge Freiheit" erscheint in neuem Gewand. Der Tagesspiegel spricht der rechtskonservativen Zeitung trotz Auflagensteigerung Relevanz ab, was die FR ähnlich sieht. Steffen Grimberg ist etwas besorgter in der TAZ und hat bei dem Termin ein Beobachtung gemacht: "Das könnte man beruhigt als spinnert abtun, würde die JF-Auflage nicht tatsächlich mäßig, aber stetig steigen - und würde sich nicht leicht verspätet der legendäre Exparlamentskorrespondent der FAZ, Karl Feldmeyer, in den Saal schieben. Heute schreibt er in der Jungen Freiheit, devot wird ihm der Mantel abgenommen." +++ Egon Krenz ist dagegen nicht gekommen zu Jochen Wolff, dem Chefredakteur von Burdas 20 Jahre alt gewordener Super-Illu, den Antje Hildebrandt im KSTA portraitiert. +++
+++ Fernsehtipps: Das große Brandenburg-Projekt des RBB – 20 Dokumentarfilme à 15 Minuten, heute abend, von Filmemachern wie Thomas Heise, Rosa von Praunheim, Andreas Kleinert – und Andreas Dresen. In der Berliner stellen 9 Autoren 9 Filme vor. +++ Diana Aust hat für die TAZ mit Dresen, dem Leiter und Initiator des Projekts gesprochen und am Schluss eine drängende Frage gestellt – "Sie selbst kommen aus einer Künstlerfamilie, Mutter Schauspielerin, Vater Theaterregisseur. Ist Ihr Interesse für die 'kleinen Leute', die immer wieder in Ihren Filmen vorkommen, eine Rebellion gegen das eigene Elternhaus?" –, weil man sich als Künstlerfamilienherkommer ja naturgemäß nur mit Künstlerfamilien beschäftigt. +++
+++ Flemming Rose (what a Name! - unser Bild oben), Kulturredakteur von Jyllands Posten und Initiator der Mohammed-Karikaturen, will jetzt zu diesem Thema schweigen, hat aber vorher noch mal ein Buch darüber geschrieben (FR). +++ Im KSTA ein Nachruf vom Chef persönlich, Sir Alfred Neven DuMont, auf den einstigen Chef Thomas Meyer (what a Bild!): "Im Jahre 1990, also in einer Hochzeit der deutschen Politik, wurde er zum stellvertretenden Chefredakteur der Zeitung berufen, in Personalunion mit seiner langsam auslaufenden Zeit in Bonn." +++
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