Fiktives Geschichtsfernsehen ist Gangsta-Rap, Jürgen Rüttgers wärmt eine 14 Jahre alte Phrase auf, und Anke Schäferkordt von RTL denkt über den Einsatz des Testbilds nach.
Jürgen Rüttgers malte auf dem NRW-Medienforum den Teufel noch einmal an die Wand: "Das Internet drohe zum rechtsfreien Raum zu werden", zitieren ihn heute, indirekt, FAZ (S. 35) und Kölner Stadt-Anzeiger. Dass keiner zu zittern begann, lag vielleicht daran, dass Rüttgers dieses Bedrohungsszenario schon vor mehreren Wochen Monaten 14 Jahren entwickelt hat. Am 27. Juli 1996 schrieb er als Bundesforschungsminister in der Frankfurter Rundschau: "Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein."
Positiv gewendet: Das kann Rüttgers keiner nehmen - die öffentliche Erstbesteigung dieser Floskel.
Seine Abschiedsrede auf dem Medienforum fand die FAZ "weder neu noch sonderlich durchdacht". Die taz fand sie "blutarm", zitierte aber als Abschiedsgruß im grammatikfreien Raum noch einmal den Arbeiterführer in ihm: "Was aus dem Internet, oder vielleicht war auch Europa gemeint, werde, 'kommt es auf jeden von uns an - und nicht nur auf die da oben', ruft Rüttgers."
Man kann also vielleicht sagen, dass die Medienkonferenz bereits mit Rüttgers' Rede ganz bei sich ankam: eine kleine Stecknadel reinpieksen und - piuuuh!
Bevor wir nach NRW zurückkehren, kurz zu den Medientagen München, denn wenn schon Medienkonferenz, dann kommt's ja immer gleich ganz dick. Die Süddeutsche Zeitung (S. 13) berichtet über eine von der Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten (KJM) organisierte Veranstaltung zum Thema "Wenn Sport fast Mord ist: Käfigkämpfe - ein Fall für den Jugendschutz?"
"In einem an diesem Montag verschickten Brief an den KJM-Vorsitzenden und Medientage-Organisator Wolf-Dieter Ring beschwert sich der Ultimate Fighting Championship (UFC), weltgrößter Verband sogenannter Käfigkämpfe, bitter über den Titel der geplanten Debatte." Offenbar "seien die deutschen Medienaufseher nur 'an der Vermittlung der eigenen Sichtweisen interessiert'", es habe bei Kämpfen des Verbands noch nie einen Toten gegeben. Die Leiterin der KJM-Stabsstelle, Verena Weigand, verteidigt laut Mark Felix Serrao den Titel so: "'Ein Wortspiel', sagt sie." Dieses Argument aus der Kategorie "Oma für Pointe zu verkaufen" soll nicht untergehen.
Derweil überschlugen sich auf dem NRW-Medienforum die Ereignisse! Noch eine Abschiedsrede: die von Norbert Schneider, Direktor der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Medien. Er "hätte dabei von den Besuchern durchaus einen Kabarett-Zuschlag verlangen dürfen", findet der Stadtanzeiger, und auch DWDL hörte in Schneiders "Plädoyer für das Fernsehen" die "gewohnt launigen Worte". Leider vermittelt sich die Launigkeit nicht, was vielleicht ein Zeichen ist, dass die Zusammenfassung gesprochener Rede am besten gesprochen funktioniert. Auch das: ein Plädoyer für Fernsehen.
Medienkonferenz und Fernsehen? Richtig: ZDF-Intendant Markus Schäfer, RTL-Chefin Anke Schäferkordt und der Fernsehproduzent Nico "Qualität" Hofmann.
Zugegeben, heute morgen sind wir etwas auf Krawall gebürstet, aber irgendwann muss die Frage ja mal gestellt werden: Nico Hofmann ist wahrscheinlich echt ein okayer Typ - aber warum wird der, bei allem Respekt, eigentlich ständig interviewt? Weil er auch anderswo ständig interviewt wird? Im Stadtanzeiger spricht er über - natürlich - Qualitätsfernsehen:
"Man kann einen starken Film wie 'Scientology' produzieren und trotzdem Quote machen. Ich bin ein wenig ernüchtert durch die Erfahrung mit Filmen, an die ich sehr geglaubt habe, wie 'Die Grenze', wie 'Dutschke' und 'Kohl'. (...) Eine der größten Niederlagen war für mich 'Dutschke', den ich künstlerisch extrem gelungen fand. Aber wenn so ein Film nur eine Million Zuschauer hat, dann beginnt man darüber nachzudenken, wie belastbar das deutsche Publikum ist."
Das mag man nachdenkenswert finden in Zeiten, in denen sich Familien nicht mehr zwangsläufig um 20.15 Uhr auf dem Wohnzimmerteppich vor dem Lagerfeuer versammeln, sondern nur noch dann, wenn wirklich was los ist. Aber das deutsche Publikum hat eine Gegenfrage: Dutschke, Kohl, dann ersteht die DDR auf, was solln das auch? Das ewige Geschichtsfernsehen scheitert womöglich an derselben Spannung, die schon Rapper wie Sido und Bushido nicht ausgehalten haben: Den einen muss man erzählen, das sei alles echt, so sei das Leben da draußen nun mal. Den anderen muss man sagen, hey, nehmt es mal nicht so genau, das ist doch Kunst.
[listbox:title=Artikel des Tages[Nico Hofmann im Interview (KSTA)##Medienforum (DWDL)##US-Rolling-Stone-Chef im Interview (Welt)##Videogruß zum 90. Geburtstag des Trickspezialisten Ray Harryhausen (FAZ.net)]]
Nicht repräsentativer Vorschlag: Lasst doch einfach mal eure History- und Biopics stecken und haut auf den Putz.
So wie Anke Schäferkordt: DWDL berichtet, sie verteidige "das maue Gegenprogramm bei Spielen der deutschen Nationalelf (...) mit dem Verweis auf die Dominanz des Fußballs - und die lediglich verbleibenden 12 Prozent Marktanteil für alle anderen Sender zusammen. Da sei es ja fast schon eine 'valide Alternative, das Testbild nochmal feinzujustieren', so die RTL-Chefin."
Testbild, da würden wir vielleicht sogar mal reinzappen - einfach als Lohn für den Mut zur Innovation. Für diesen Vorschlag bekommt Schäferkordt von dieser Stelle jedenfalls Norbert Schneiders Kabarettzuschlag.
Altpapierkorb
+++ 11 Freunde, "ursprünglich der Indie unter den Fußballfanzines" (taz), hat 51 Prozent der Gesellschaft an Gruner + Jahr verkauft. Die restlichen Anteile verbleiben bei Geschäftsführer Matthias Hörstmann und Chefredakteur Philipp Köster. De SZ (S. 13) berichtet, an Kooperationen mit dem Tagesspiegel (Dieterholtzbrinck) und Spiegel Online ändere sich laut Köster nichts +++ Meedia befasst sich am ausführlichsten mit der Frage, warum +++ Bertelsmann-Chef Hartmut Ostrowski war auch auf dem NRW-Medienforum und sagte der Süddeutschen (S. 13) zufolge: "Wer jetzt nicht anfängt, der Kostenseite eine höhere Bedeutung beizumessen, der wird Probleme bekommen. Wir müssen uns mit neuen Marktrealitäten auseinandersetzen, die nichts mehr mit den fetten 80ern und 90ern zu tun haben. Und deshalb sollten wir uns daran gewöhnen, dauerhaft mit einer niedrigeren Kostenbasis zu arbeiten als in der Vergangenheit." +++
+++ Die Onlineangebote der Öffentlich-Rechtlichen bleiben in der Kritik. "Das ZDF will – nach einem gewissen Zögern – das gesetzliche Verbot sendungsunabhängiger Online-Presse ignorieren“, zitiert der Tagesspiegel Hubert Burda in seiner Funktion als Präsident des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ). "Der Trick besteht in der Behauptung, pressemäßige Artikel im Internet seien nicht einmal presseähnlich." +++ Auswendig gelernt, abgelesen oder Knopf im Ohr? Die Süddeutsche zitiert mit den exakt selben Sätzen Christoph Fiedler, Geschäftsführer für Medien- und Europapolitik des VDZ: "Das ZDF wolle offenbar 'nach einem gewissen Zögern' das gesetzliche Verbot sendungsunabhängiger Online-Presse ignorieren. 'Der Trick besteht in der Behauptung, pressemäßige Artikel im Internet seien nicht einmal presseähnlich.'" +++ Die FAZ (S. 35) meldet, der NDR-Rundfunkrat habe "die Online-Angebote von 'tagesschau.de' und 'eins.extra.de' abgesegnet", und sogar bestimmt, "dass Ausgaben der Sendung 'Brennpunkt', die 'von besonderer geschichtlicher Relevanz' seien, dauerhaft abrufbar bleiben"
+++ Die Welt interviewt Jann Wenner, den Verleger des US-Rolling Stone, zur McChrystal-Enthüllung (siehe Altpapier) +++ Vertriebswege, nächste Abzweigung: Dem deutschen Rolling Stone liegt Ende Juli die neue Prince-CD bei +++ Mehr aus der Axel-Springer-Pressestelle: Bild will ihre 1D-Berichterstattung voraussichtlich am 28. August in 3D präsentieren+++
+++ Special-effects-Filme: Trickfilmspezialist Ray Harryhausen, "der halb Hollywood inspiriert hat", wird 90, und Casrten Sommer ("Käpt'n Blaubär") gratuliert auf FAZ.net mit einem Film +++ Die "Lindenstraße" lief am Montag um 5 Uhr statt am Sonntag. "Ein historischer Sonntag", schreibt sueddeutsche.de +++
+++ Und zur WM: Die Funkkorrespondenz setzt ihr WM-Fernseh-Fußball-Tagebuch fort +++
Frisches Altpapier gibt es wieder am Mittwoch gegen 9 Uhr.