Wir erleben im Polit-Entertainment gerade das seltene Schauspiel einer ganz großen Koalition von Medien eigentlich unterschiedlicher Richtung. Sind wir denn schon Gauck?
Der Spiegel betitelt Joachim Gauck als "besseren Präsident"; "ein idealer", würde die FAS im Feuilleton sogar sagen (Nils Minkmar: "Es ist Sonne über Berlin"). Und den hochlustigen "Yes, We Gauck"-Titel der Bild am Sonntag, der nun wirklich aus allen Rohren der Volksbespaßung schießt ("Es riecht nach Ruck in Deutschland. Beginnt nun ein politisches Sommermärchen?", "Kandidat Mut"...) zu erwähnen, kommt natürlich auch niemand umhin, der heute über die Berichte vom Wochenende berichtet (Süddeutsche, S.1; TAZ, die aber auch auf Facebook schaut; unser Bild stammt von der über 7.000 Mitglieder starken Facebook-Gruppe "Joachim Gauck als Bundespräsident").
Ja, es würde wundern, wenn in den Haupstadtstudios von allerwenigstens ARD und ZDF nicht schon auf Hochtouren ein Fernsehduell zwischen Christian Wulff und Gauck angebahnt werden würde.
Was all die Wer-wird's-Fragen ein wenig verdrängen: die Wer-war's-Frage, also wer nun das Freiwerden des Bundespräsidenten-Postens verursacht hatte. Zur Erinnerung: In der Diskussion waren zuletzt
a) Jürgen Trittin, der als möglicher Originalurheber der Heinrich-Lübke-Vergleiche auf verschlungenen Wegen in die Diskussion geriet (siehe Altpapier vom Freitag), der laut aktuellem Spiegel aber auch den Nachfolgekaniddaten Gauck ins Spiel gebracht haben soll.
b) Jonas Schaible, der (natürlich auch twitternde) Blogger aus Tübingen, der laut ZDF zumindest "mitverantwortlich für das Schicksal Horst Köhlers" sein soll und sich mit amtlich klingenden Klarstellungen gegen diesen Eindruck wendet.
c) Christopher Ricke, jener Deutschlandradio-Reporter, der das Interview mit Köhler führte, dessen retardierte Rezeption Ursache oder mindestens Anlass des Abgangs war.
Den "Radioredakteur, dessen Interview Horst Köhlers Rücktritt auslöste", stellt der aktuelle Spiegel (S. 57) als einen wegen dieses Eindrucks gerade ebenfalls etwas unglücklichen Mann vor ("'Sind Sie Ricke?', fragt die Frau. Ricke streicht sich den dunklen Mantel zurecht. 'Ja', sagt Ricke, 'leider.'"). Ob Rickes Sakko wirklich "deutlich zu weit ist", wie Juan Moreno schreibt, geht aus dem illustrierenden Foto nicht eindeutig hervor. Es handelt sich beim Text aber auch um einen der kolumnenartigen aus der Rubrik "Ortstermin" im Gesellschaftsressort, in dem die Haupt- und Staatsaktionen eher nicht angesiedelt sind. Insofern bleibt noch ein Kandidat im Spiel:
d) der Spiegel selbst, der als erstes Online-Medium auf die von Schaible entfachte Debatte einstieg und in seiner Printausgabe vor einer Woche den Artikel mit der inzwischen vielfach als unpassend eingeschätzten Überschrift "Horst Lübke" publizierte.
Einen Hauch schlechten Gewissens könnte den Spiegel tatsächlich plagen. Zumindest wird in der "Rückspiegel"-Rubrik auf der letzten Heftseite, die gemeinhin lauter lobenden Spiegel-Zitationen vorbehalten bleibt, ein FAZ-Artikel zitiert, der den Lübke-Vergleich "ziemlich übel" nannte.
"Warum Horst Köhler zurücktrat", erläutert das neue Heft auf zwei Seiten (26). Dort erzählen Stefan Berg und Jan Fleischhauer in gewohnter Spiegel-Dramatisierung ("Das Letzte, was man von ihm sieht, sind die Rockschöße seines Jacketts") von den letzten Amtstagen des Präsidenten. Am Montag vorm Rücktritts-Dienstag war wie immer Lagebesprechung beim Chef des Präsidialamtes, Hans-Jürgen Wolff:
"Ein Thema sind die Berichte im SPIEGEL, 'Tagesspiegel' und in der Frankfurter Allgemeinen vom Wochenende über Köhler, alle im Ton kritisch. Wolff beklagt eine Verfolgung durch die Medien, aber dann wendet man sich der Wochenplanung zu."
Ein paar Absätze später wird eine Aussage Köhlers während eines Hintergrundgesprächs am Beginn seiner Reise nach China (also der, bei der er auf dem Rückweg in Afghanistan stoppte und Ricke sein Interview gab) zitiert:
"'Ich weiß gar nicht,was ich Ihnen sagen soll, mir wird ja jeder Satz im Mund umgedreht, ich dachte, es gabe noch so etwas wie journalistisches Ethos, aber was soll's' Es folgte ein bitteres Lachen.".
Zwei weitere Absätze dahinter wird jener Hans-Jürgen Wolff als der Bösewicht entlarvt,
"ein kluger, aber allen misstrauender Staatsrechtler, der binnen weniger Wochen das eigentlich offene und leutselige Haus" - das Bundespräsidialamt - "in eine Festung verwandelte. Wolff, der über das Thema 'Kriegserklärung und Kriegszustand' promovierte, witterte hinter jedem kritischen Wort von außen einen gezielten Angriff auf den Präsidenten."
Es waren also ein misstrauischer Politmanager einerseits (vgl. rolandberger-stiftung.org - nicht, dass diese mit Bundesrepublik oder Präsidialamt vollends identisch wäre, aber dort ist ein hübsches Wolff-Foto zu sehen), und die wichtige Presse andererseits, in der die Spiegel wie immer eine führende Rolle spielt, aber eben doch nicht allein war.
[listbox:title=Artikel des Tages[FAS-Politik u.a. zu Köhlers Verhältnis zur Presse##TAZ zur großen Medien-Koalition pro Gauck##meedia.de zum Medienkartell pro Gauck##TAZ über neue Merkwürdigkeiten zur Köhler-Satire##Süddeutsche über die MRR-Feierlichkeit]]
Die FAS bestätigte gestern in für die Verhältnisse ihres Politikressorts ziemlich eindeutiger Form ("Als die Bundespressekonferenz im vorigen Oktober ihren 60. Geburtstag feiert und Köhler als Gastredner einlädt, schleudert der den Hauptstadtkorrespondenten in seiner freundlichen Art entgegen, sie hätten weder 'Haltung' noch 'Ahnung'“) Animositäten zwischen Präsidentialmilieu und Presse.
Vielleicht hatte sich das "Medien-Kartell gegen Wulff und Merkel", das meedia.de angesichts der aktuellen Gauck-Kampagne wittert, ja schon warmgelaufen. Andererseits, wer oder was nun wirklich Köhlers Rücktritt auslöste, wird man sicher erst erfahren, wenn die Köhlers bei Reinhold Beckmann sitzen und entspannt darüber plaudern (was Horst Köhler zumindest zu wünschen ist).
Wenn nun aber wirklich Gauck statt Wulff gewählt werden würde - dann hätten wir zumindest einen schlagenden Beweis dafür, dass es politische Medienmacht à la Bild-Bams-Glotze, wie der vormalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sie einst nannte, trotz aller Finanz- und Strukturkrise immer noch gibt.
Altpapierkorb
+++ Lustigerweise kocht in den Nischen der Medienmedien gerade auch eine Debatte hoch, von der allenfalls Eingeweihte wussten, dass es sie noch gibt: die über den Einfluss und die mögliche Verwahrlosung des Hauptstadtjournalismus (siehe meedia.de und ViSdP/ PDF). Die FAS (nicht frei online) schlug sich auf die Seite der Weichert/ Kramp-Kritiker und sieht eine Dan Brown-artige Verschwörungstheorie in dem Buch. +++
+++ Ist denn niemand für Wulff oder wenigstens von dessen Erfolg überzeugt? Doch, der Focus "Die junge Republik"/ "Präsident mit 51: Das aufwühlende Leben des Christian Wulff" steht klein auf dem Titel. +++ Top-Titelstory allerdings selbstverständlich: "Die besten Tipps für ihr Geld". +++ Doch wenn der neue Chefredakteur Wolfram Weimer erstmal im Amt sein wird, bleibt beim Münchner Magazin "kein Stein auf dem anderen", vor allem in Hinsicht auf die Personalstärke (Hamburger Abendblatt). +++
+++ Zurück zur Köhler-Causa: "Siggi Pop" Gabriel hat seinen SMS-Wechsel mit Angela Merkel offenbar allen Leitmedien (Spiegel, FAS, Bild-Zeitung) zur Verfügung gestellt, die eine 1220-Zeichen-SMS teils vollständig zitieren. +++ Die TAZ ist dem Kuriosum des zwischenzeitlich weggeschalteten Internetauftritts horst-koehler-consulting.de (siehe Altpapier vom Donnerstag) nachgegangen: Da wurde "die Fake-Homepage offenbar mit einem Fake bekämpft". +++
+++ Das Topthema der Medienseiten von heute mutet angesichts der Gauckeuphorie ein bisschen dröge an. Am Mittwoch wollen oder sollen dieselben Ministerpräsidenten, die nun erstmal die Bundespräsidentenwähler "auf Linie bringen" müssen, sich auch mit der Zukunft der GEZ befassen. Siehe BLZ, TAZ. +++ Versöhnen statt spalten möchte Bernd Gäbler im Tagesspiegel die gegnerischen Lager der privatwirtschaftlichen und der öffentlich-rechtlichen Medien: "Warum finden die Großdebatten zu den wenigen wichtigen Themen... nicht zentral auf tagesschau.de oder heute.de statt? ... Warum soll es zur Großdebatte nicht eine redaktionell gewichtete Verlinkung zu Spiegel und Bild, SZ und Tagesspiegel, ... geben, die den Verlagen zugleich eine faire Verwertungschance eröffnet"? +++
+++ Zweites Topthema des aktuellen Spiegelheftes: Neues, Entlastendes zu Jörg Kachelmann. Siehe SPON, Christian Rath berichtet im KStA. +++
+++ Marcel Reich-Ranicki ist nun auch Träger der Ludwig-Börne-Ehrenmedaille. Das FAZ-Feuilleton feiert das ausgiebig mit noch mehr Laudatios, darunter der recht unsäglichen von Thomas Gottschalk ("Man stelle sich vor, die Bestsellerliste des deutschen Buchhandels würde nur die sogenannte werberelevante Zielgruppe der dreizehn- bis 39jährigen Buchkäufer berücksichtigen, wie das in meinem Geschäft inzwischen üblich ist..."). In der Süddeutschen berichtet Marc Felix Serrao distanzierter von der Zeremonie: "'Das wird keine langweilige Preisverleihung werden', gurrte Wolfgang Herles, Moderator des ZDF-Kulturmagazins Aspekte zur Begrüßung. Natürlich wurde sie es doch, zumindest in weiten Teilen. Aber das ist auch in Ordnung. Wer will schon eine aufregende Preisverleihung erleben, etwa eine, bei der vom Stromausfall bis zum Schlaganfall Dinge passieren...". +++
+++ Was hat das Berliner Schloss mit N24 zu tun? Michael Hanfeld beglossiert sie gemeinsam vorn auf dem FAZ-Feuilleton. +++ Dokumente zum Zustand des Onlinejournalismus: "Angrillen, aalen, aaah!" (SPON).
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag