Von der Aufblähung einer Angelegenheit: Lena Meyer-Landrut ist das Medienthema des Tages. Aber bedeutet sie all das, was sie bedeuten soll?
Diese Sängerin da hat nun also tatsächlich als erste Deutschland vertretende Teilnehmerin seit 1982 diesen Wettbewerb da gewonnen, bei dem singende Handwerker gegen traurige Clowns und Luder aus Armenien und Aserbaidschan antreten (Luder-Recherche: Hamburger Morgenpost). Und nicht dass wir uns missverstehen: dafür ein absolut megafettes YEAH auch von dieser Stelle!
Aber irgendwie wirkt die entspannt-patriotisch-herzliche Coolness, die "wir" seit 2006 ja bekanntlich pflegen, die sich jetzt wieder in die Deutungen schleicht und von dem jüngst gegründete Facebook-Gruppen wie "82.000.000 gegen Boateng" eindrucksvoll Zeugnis ablegen, doch ein wenig aufgewärmt. Beispiel: "Wie nebenbei hat Lena beim 'Eurovision Song Contest' ein neues Bild von Deutschland gezeichnet", schreibt etwa die FAZ im Porträt - eine Leistung, die vor erstaunlich kurzer Zeit auch schon den Herren Poldi und Schweini zugeschrieben worden war und die vor kurzem auch mal Mesut Özil (links) erbringen sollte. "Sicher ist", leitartikelt die taz und klingt da ebenfalls, als wäre es 2006, "dass sie ein positives Stereotyp über Deutschland mit neuem Leben füllt."
Man kann das allerdings auch ein wenig erden: Lena Meyer-Landrut hat ein Lied gesungen, das insgesamt besser herüberkam als die anderen. Schön, dass das jemandem gelingt, der keinen Exklusiv-Vertrag mit Bild hat, wie u.a. Die Welt kommentiert (die die Verlagsschwester Bild dabei allerdings lieber als "Bunte-Gala-RTL-Diktatur" umschreibt). Meyer-Landrut hat damit aber nur bei einem Wettbewerb gewonnen, der bis vor einem Jahr noch als so grundbieder galt wie er ist - das ist die Erneuerung, für die sie steht: die Erneuerung dieses altbackenen Wettbewerbs. Was auch die Süddeutsche auf Seite 3 andeutet:
"Dass sie mit einem für ihre Verhältnisse eher schwachen Auftritt punkten konnte, ist indes auch den Konkurrenten geschuldet, von denen viele so wirkten, als hätten sie die Entwicklung der modernen Popmusik schlichtweg verschlafen."
Vielleicht muss man die Übertragung des Wettbewerbs also gar nicht so sehr überhöhen, wie auch die (oben schon verlinkte) FAZ andeutet: "In Oslo ging es nicht um Rettungsschirme, Milliardenbürgschaften, Euroskepsis und Inflationsängste." Wäre nur noch gut zu wissen, ob das auch Spiegel Online mitbekommen hat. Der - ansonsten formulierungsstarke ("Georgien. Presswehen als Song.") - Live-Ticker las sich zeitweise wie ein Bild-Artikel über die dort sogenannten Pleite-Griechen:
+++21.52: Griechenland. Die Pleitegeier. Und wir haben jeden Quadratmillimeter von diesen Fummeln bezahlt. Und falls es mit dem Sieg nicht klappt, auch die Rente der Band.
+++21.53: Wundert einen, dass die überhaupt länger als zwei Minuten singen.
+++21.54: Die Musiker haben im letzten Jahr genau 21,46 Euro Steuern bezahlt.
+++ 23.33: Griechenland und Deutschland Kopf an Kopf. Lena, das gute Kind, wird die Rente unserer überalterten Gesellschaft UND den Staatsbankrott der Hellenen schultern müssen.
+++ 23.40: Griechenland. Zahlen die jetzt eine der 122 Milliarden in 12 Punkten zurück?
Die wohl doch etwas übertriebene "Aufblähung der Angelegenheit", als das Fernsehen sich am Sonntagnachmittag gleichschaltete, um live die Rückkehr von Lena Meyer-Landrut auf den heiligen Boden der Stadt der Scorpions zu übertragen, fiel auch Sueddeutsche.de auf, einem Onlinedienst, der (genau wie natürlich wir hier) bereitwillig mitblähte:
"mit einer Sonderausgabe der Tagesschau hat die ARD am Sonntag, kurz vor 16 Uhr, Maßstäbe gesetzt. 'Lena ist wieder da' lautete die Schlagzeile, die Susanne Holst als Spitzenmeldung verlas. Es ging um den simplen Umstand, dass die Gewinnerin des Eurovision Song Contest wieder auf deutschem Boden gelandet war. Danach wurde noch ein bisschen etwas erzählt von der Ölpest im Golf von Mexiko, bevor eine Schalte zurück zum Flughafen Hannover führte."
Und die Berliner Zeitung bemerkte sie auch: "Während die ARD vor ein paar Tagen noch auf einen 'Brennpunkt' zum Rücktritt von Roland Koch verzichtete" - was in der ARD selbst angesichts eines ausgestrahlten Michael-Ballack-"Brennpunkts" für Unmut sorgte, wie Der Spiegel (S. 138) berichtet -, "behandelte sie Lenas Rückkehr nun wie einen Staatsbesuch. Als Moderator Opdenhövel vor Lena auf die Knie ging, war ein Tiefpunkt öffentlich-rechtlicher TV-Unterhaltung erreicht. Alles in allem ein typischer Fall von Überkompensation".
Immerhin eines ist definitiv auszuschließen, trotz Staatsempfang und Sondersendung: Den Ölteppich hat BP nicht speziell für sie ausgerollt.
Aber es gibt auch viel Schönes. Etwa diesen Tweet von Jeff Jarvis: "Europa! Du kannst dir dieses Getanze nicht leisten! Du hast Schulden! Zurück an die Arbeit!" Nicht die schlechtere Unterhaltung als ein ganzer Sonntagnachmittag voller Deutschlandfahnen. Und weniger zeitintensiv!
[listbox:title=Artikel des Tages[Über Midas (FAZ)##Über Stefan Raab (TSP)##Über die Beliebigkeit (Freitag)]]
Oder einige der Artikel über Stefan Raab - vielleicht, weil man da nicht so viel herumeiern muss, für was er nun genau steht. Zum Beispiel Michael Hanfelds FAZ-Feuilletonaufmacher vom Montag, eine kritische Würdigung von "Raab (...), der nicht nur der König Midas, sondern vor allem der Herkules der deutschen Fernseh- und Popunterhaltung ist. (...) Er ist der 'Dirty Harry' der Szene, der 'Last Man Standing', der an Widerständen nicht zerbricht, sondern wächst." Auch die Seite 3 des Tagesspiegels und nachträglich noch Der Freitag sind hervorzuheben - letzterer für die Tatsache, dass er das Geschehen gegen den Strich bürstete und über das oft zitierte "Fräuleinwunder" schrieb:
"Fräuleinwunder ist ein Begriff aus den Fünfzigern und das Miefige der Epoche schwingt immer ein bisschen mit, zumindest wenn man geneigt ist, die Welt etwas kulturkritischer zu sehen. Vor einigen Jahren hat der Literaturbetrieb eine ganze Reihe junger Autorinnen mit diesem Etikett beklebt, jetzt ist also die Popmusik dran."
Nur eines wäre dann doch noch kritisch anzumerken: Was einige besonders beliebte Formulierungen und Bilder der Song-Contest-Nachberichterstattung angeht - sagt mal, Freunde, die sind doch nicht am Ende schon mal beinahe wortgleich verwendet worden, oder? Beispiele:
"Der Sonntag hatte gerade begonnen, da verkündeten erste, kluge Rechner: 'Wir sind durch.' Wir sind Lena." (Sueddeutsche.de)
"Was keiner für möglich gehalten hatte: Wir sind Grand Prix." (FAZ.net unter der doch auch schon mal irgendwann gehörten Überschrift "Du bist Deutschland".
"Ja, wir sind Lena! "(Bild.de - aber gut, die haben's ja auch erfunden)
"Deutschland ist jetzt schwarz-rot-lena" (Bild.de, Link nicht wiedergefunden)
"Sommermädchen" (FAZ, S. 10)
"nach Lenas überraschendem Sieg feierten die Fans in Oslo still und verwundert ihr Sommermärchen" (Spiegel Online)
Aber wiederum: nicht dass wir uns missverstehen. Es ist ja schön, wenn sich alle freuen können! Und diese Slogans sind ja auch alle total griffig! Gute Arbeit von der Deutschland-PR-Agentur! Aber wenn da draußen der Konsens tobt und man zu viele Artikel mit immer derselben Stoßrichtung liest, dann bekommt man einfach so ein Gefühl von: ARGH! Die Sätze "Du bist..." und "Wir sind..." sowie alle Variationen des Worts "Sommermärchen" werden daher hiermit für die Liste der Floskeln vorgeschlagen, die nur noch sehr überlegt verwendet werden sollten.
Einzige Ausnahme: "Wir sind Mesut". Das hätte eine ganz andere Fallhöhe - schon wegen der aktuellen Statistik der beliebtesten Vornamen: Lena ist schon jetzt auf Platz vier. Aber der schöne alte Name Mesut? Ganz aus der Mode gekommen!
Altpapierkorb
+++ Interessant wäre, zu erfahren, wer am Samstag den Kioskverkauf-Contest in München gewonnen hat: die Abendzeitung mit "Ein bisschen siegen" oder doch die Süddeutsche mit einem - auf welcher Zeitung hat es das zuletzt gegeben, wenn kein Krieg, keine Wahl, kein WM-Finale und nicht einmal ein tagesaktueller Anlass war? - Titelfoto zu einem Afrika-Thema, also quasi einem Thema vom anderen Ende des Aufmerksamkeitsrankings. +++ Das unter Bernd Neumann dann also wohl keinen Stich machen würde: Die Funkkorrespondenz über "unseren neuen Quotenminister": "dessen Ansichten zu Quoten und Gebühren stellen die Daseinsberechtigung eines Kulturexperten der Bundesregierung ganz grundsätzlich in Frage – wenn 'Kultur' nur das ist, was viele wollen, braucht man dafür jedenfalls keinen Minister." +++ Zu besagtem SZ-Afrika-Feuilleton-Schwerpunkt: "Es liegt in der journalistischen Verantwortung, Klischees und Zerrbilder Afrikas nicht weiter zu bedienen, sondern sie zu korrigieren. Es wäre falsch, daraus zu folgern, dass man künftig weniger über die Gewalt in Afrika berichten sollte. Wer schwere Verbrechen totschweigt, hilft nur den Tätern. Wahr ist aber auch: Es gibt noch ein ganz anderes Afrika, das in Europa recht wenig zur Geltung kommt", schreibt Korrespondent Arne Perras +++ Um das zur Geltung zu bringen, müsste sicher ein Fernsehmotiv ersetzt werden: "Dass sich ein Unterhaltungsfilm an schwere Themen wie Aids wagt, ist begrüßenswert. Doch wie es hier geschieht, ist leider unfreiwillig komisch, wenn nicht sogar ärgerlich. Nicht nur, dass das Krankheitsbild falsch dargestellt wird, die Schwarzen sind auch mal wieder gänzlich hilflos auf die Hilfe des weißen Mannes angewiesen", schreibt die FAZ (S. 31) über den Film "Auftrag in Afrika" (20.15 Uhr, ZDF) +++ Der auch vom Tagesspiegel besprochen wird +++ Der FR / Berliner ist ebenfalls eine Schieflage aufgefallen: "Seit Wochen stimmen die TV-Sender mit allen möglichen Naturdokus und Reisereportagen über Afrika auf die Fußball-WM in Südafrika ein. (...) Auch die Spielfilme, die schon seit einigen Jahren gern Südafrika als exotische Kulisse benutzen, kommen selten ohne Wildhüter und Löwenbabys aus." +++
+++ Der Spiegel (S. 139) meldet, der N24-Betriebsrat habe sich gegen einen Verkauf des Senders an das eigene Management ausgesprochen +++ Der Tagesspiegel vom Sonntag über den N24-Interessenten und Ex-Spiegel Chef Stefan Aust +++ Die SZ (S. 15) über ein Gesetz in Italien, "das die Pressefreiheit beschränken würde" +++ Über das neue Regionalbuch der SZ schreibt Kress +++
+++ Die Fragen, die sich nach dem Song-Contest für Medienjournalisten stellen, sind, erstens: Wer moderiert denn 2011 die Veranstaltung, wenn sie aus Deutschland kommt? Wo wird die ARD wohl wildern, falls sie nicht Herrn von Hirschhausen oder Florian Silbereisen einsetzt? +++ Zweitens: Wie war die Quote? (Kress u.a.: knapp 15 Millionen) +++ Und drittens: Wer hat denn nun gewonnen? Stefan Raab oder die ARD oder beide? Zeit Online meint: Raab +++ Die taz meint: auch die ARD +++ Die FTD wiederum sieht auch eher Raab als Gewinner +++ NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber meint aber natürlich im DWDL-Interview: "die Zusammenarbeit mit ProSieben war für beide Seiten ein Gewinn" +++
+++ Und das soziale Web kommt auch vor: im FAS-Interview mit Soziologe Dirk Baecker über Facebook, im Spiegel-Medienaufmacher über die aktuelle Facebook-Debatte (S. 140ff.), in zwei taz-Texten zum heutigen Facebook-Quit-Day +++ Und in den "Nachrichten aus dem Netz" der SZ (S. 11) über Stephen Frys Technikleidenschaft und seine jüngste Kommentatfunktionsabstellung +++