Die Partei, die Partei, die hat immer recht - nur welche Partei? Diesmal im Streit um die Wahrheit: Feuilletonisten vs. Reporter, Die Linke vs. Das Erste, Deutsche Blogger vs. FAZ.
7 Uhr 18 zeigte die weiß lackierte Küchenuhr, die unter dem Altpapierberg auf dem Boden lag. Zu dem Zeitpunkt war sie vom Aufprall einer durch den Raum geworfenen Kirchentagsbeilage vom Nagel gefallen. Rundherum lagen verstreut Pizzaschachteln, umgefallene Whiskey-Flaschen und die Bücher über Gartenarbeit, die beim letzten Interview so hilfreich gewesen waren...
Boah, Altpapierstapel durchwühlen nervt... Wo is das Ding jetzt... Blöde Papierzeitungen, blöde... HA! Da isses:
das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 9. Mai.
In der aktuellen Ausgabe, der vom 16. Mai, schreibt Stephan Lebert, Reporter der Zeit und selbst nicht der unbekannteste Reportageautor - für seine Starnberg-Reportage, verfasst mit Stefan Willeke, erhielt er etwa den Herbert-Riehl-Heyse-Preis -, eine Antwort auf Claudius Seidl.
In der Ausgabe vom 9. Mai hatte Seidl, Feuilletonchef der FAS, aufgeschrieben, wie unseriös Reportagen seien (siehe auch Altpapier vom vergangenen Montag). Anlass war die Verleihung des Henri-Nannen-Preises. Seidl kritisierte, gerade für Reportagepreise nominierte Journalisten erlägen allzu häufig "den Versuchungen, mit den Mitteln der Sprache zu blenden, zu bluffen, zu tricksen". Manche Reportage sehe dann "auf den ersten Blick so aus wie echte Literatur. Und ist noch nicht einmal seriöser Journalismus."
Dass er das Angela-Merkel-Porträt von Alexander Osang als Beispiel wählte, veranlasst Lebert zu einer Frage: "Was treibt den Feuilletonisten, derart unpassende Beispiele für eine nachdenkenswerte These zu präsentieren?" Und er wirft ihm - neben einigem anderen, etwa verletzter Eitelkeit - vor, weggelassen zu haben, was nicht zur These gepasst hätte: "Forget the facts, push the story, lass weg, was die Geschichte stört. Nicht nur die ganz harten Reporter wussten das schon immer."
Reporter gegen Feuilletonisten - wow: Ein neuer Mediensport. Wie als Antwort auf die Antwort druckte Seidl in seinem FAS-Feuilleton eine Reportage von - Feuilletonist? Reporter? - Nils Minkmar aus Griechenland.
Auf noch mehr Mediensport macht Carta aufmerksam. Dort wird das FAZ-Feuilleton als Internet-Bashing-Maschine enttarnt - aufgezeigt an einem großen Text über den sogenannten Netzwerkpapst Peter Kruse vom Samstag. Carta:
"Absatz für Absatz wird Peter Kruse 'entlarvt' als oberflächliches, unseriöses Plappermaul, das seinen Lebensunterhalt mit den immer gleichen billigen 'Versatzstücken' verdient. Das FAZ-'Porträt' liest sich wie ein Vernichtungsversuch. Und dieser Versuch hat eine Vorgeschichte."
Die Vorgeschichte besteht laut Carta in Kruses Kritik an FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Wobei auch darauf hingewiesen werden sollte, dass auch Carta-Kritik am FAZ-Feuilleton eine Vorgeschichte hat: Marcus Jauers FAZ-Dossier "Deutsche Blogger", in dem Robin Meyer-Lucht von Carta nicht gerade gut wegkommt.
Jauers Blogger-Dossier, für das er in die Welt hinausging, um Blogger leibhaftig zu treffen, wirft allerdings, bezogen auf den Seidl-Lebert-Beef, noch eine andere Frage auf: Betrieb Jauer nun Feuilletonisten- oder Reporterwesen?
[listbox:title=Artikel des Tages[Neues vom Wundersalbenfilm (TAZ)##Miriam Meckel über den Zufall (FAZ) ##Mathias Döpfner über Whitney Houston (Welt)##Zur Google-Panne (SPON)##Die Funkkorrespondenz über Grafs "Im Angesicht des Verbrechens"]]
Antwort schwierig? Eben. Wichtiger vielleicht als diese Frage ist es, zu klären, ob Seidl und Lebert nicht eigentlich von etwas anderem sprechen als von der Reportage: von Thesenjournalismus. Das ist der, der schon fertig ist, bevor die Recherche beginnt. Dem ist es egal, ob sie lümmelnd vor dem Computer oder auf der berühmten Straße stattfindet, es kommt ja eh nur das raus, was rauskommen soll. Es geht also vielleicht gar nicht um Reporter oder Feuilletonisten - sondern darum, ob man nur zu verifizieren versucht, was man sich schon ausgedacht hat, oder ob man zulässt, dass die schöne Geschichte nochmal von der Wirklichkeit durchkreuzt wird.
Gerade von Politikern oft als Negativbeispiele für Thesenjournalismus nach dem Motto: "Bitte einen O-Ton, aber einen, der zum fertigen Beitrag passt" herangezogen: Politmagazine im Fernsehen (pdf).
Vergangene Woche etwa sendete der "Report Mainz" im Rahmen der Landtagswahlberichterstattung einen Beitrag über Die Linke in Nordrhein-Westfalen. Die interviewten Politiker kamen darin schlecht weg, das kommt vor und liegt auch an denen. Aber auch ein Mann war immer wieder zu sehen, der "Die Partei, die Partei, die hat immer Recht" singt und ein DDR-Fähnchen schwenkt (siehe Foto). Das Neue Deutschland nannte den Mann am Samstag den "running gag" des SWR-Beitrags. "Damit unterstreicht Report Mainz scheinbar den extremistischen Charakter der Linkspartei in NRW", heißt es auf dieser Webseite einer ganz anderen Partei - "Die Partei", die von Mitgliedern der Satirezeitschrift Titanic gegründet worden war. Der Fähnchenschwenker ist dummerweise deren Mitglied und Aktivist.
Ist einfach schwer in eine These zu packen, diese Wirklichkeit.
Das hätte vielleicht auch Klaus Martens berücksichtigen sollen, dessen Film "Heilung unerwünscht" das Erste im Oktober ausgestrahlt hatte (siehe Altpapier von damals) und der wohl eine Spur zu simpel konstruiert war, entlang des alten Mediensportmusters Gut vs. Böse. Es ging um eine Salbe, die Neurodermitis heilen solle, aber von der Pharmaindustrie nicht freigegeben werde. Dann stellte sich heraus: Das stimmt so nicht. Martens ist jetzt vom WDR freigestellt worden. Taz.de schreibt: "Kritiker hatten schon nach der Ausstrahlung der Doku Zweifel angemeldet und den schlichten Schwarz-Weiß-Stil vom Martens Argumentation gerügt."
Auch die Süddeutsche Zeitung schrieb am Samstag (S. 19) über die neuen Entwicklungen im Fall Martens. Wie kompliziert die Wirklichkeit manchmal ist, bewies die SZ im Oktober, als sie nach einem kleinen Anflug von Kann-das-sein? begeistert über Martens Recherchen geschrieben hatte:
"Das Ergebnis ist ein Beitrag, in dem sich die Guten und die Bösen sehr klar voneinander unterscheiden lassen, fast so, dass es einen schon wieder misstrauisch machen könnte. Dass man es am Schluss doch nicht ist, spricht für Martens Recherche und seine Art der Aufarbeitung."
Was nahelegt: Die Möglichkeiten des Blendens, Bluffens und Tricksens hat die gedruckte Reportage nicht exklusiv.
Altpapierkorb
+++ Mehr vom Mediensport: Die FAZ (S. 30) über die Rettung des Journalismus durch - Google: "Hörten Medienkonzerne auf, großen Journalismus anzubieten, so die durchaus eigennützigen Überlegungen im Hause Google, dann gäbe es auch für die tollste Suchmaschine nichts Interessantes zu verlinken. Einige der klügsten Köpfe des Unternehmens suchen darum nach einem Weg aus der gegenwärtigen Krise, und zwar gemeinsam mit Zeitungsverlagen." +++ Google bleibt aber erst einmal Bösewicht - wegen der Street-View-Datenpanne: Spiegel Online, der Tagesspiegel und die Financial Times Deutschland über die politischen Konsequenzen +++ Und die Berliner Zeitung meint: Misstrauen ist gut +++
+++ Noch mehr Mediensport: Zeit-Online-Chef Wolfgang Blau schreibt in der Sueddeutsche.de-Reihe "Wozu noch Journalismus?": "Der Skandal öffentlich-rechtlicher Nachrichtensites ist nicht ihre Existenz, sondern ihre unnötige und verwirrende Vielzahl. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, weshalb die ARD ihre föderale Struktur im Netz noch einmal nachbauen muss und weshalb Deutschland eine solche unüberschaubare Vielfalt überregionaler, gebührenfinanzierter Nachrichtenportale braucht." +++ Manchmal könnte man Sascha Lobo beinahe ein bisschen gern haben: "Massenmedien sind eine künstliche Welt, das Internet ist die echt Welt", sagte er beim ADC-Gipfel (Kress) +++ Mehr Mediensport: "Günter Netzer hört nach der Fußball-WM als Experte auf. Franz Beckenbauer nicht. 'Ich mache weiter. Es können ja net alle aufhören', sagte er dem Tagesspiegel." Schreibt der Tagesspiegel. +++ Mediensport in den USA: Jörg Häntzschel hat für die SZ (S. 15) Fox geschaut: "Früher wurden die Nachrichten ideologisch gebürstet, heute sind sie nur Illustration. Man pflückt sich aus den absurdesten Quellen zusammen, was die paranoide These stützt, Obama ruiniere das Land und nehme den Bürgern ihre Freiheit." +++ Und Neues vom Medienkampfsport: Bernd das Brot ist Brot und Spiele in einem Laib! +++
+++ Der Journalistenausbilder Walther von La Roche ist gestorben (Nachrufe: in TAZ und Samstags-SZ). Seinem Lehrbuch ist der Anfang dieses Textes, die berühmte Passage mit der weiß lackierten Küchenuhr, die in den Trümmern eines explodierten Hauses liegt, entlehnt. Bei von La Roche geht der bei ihm als exemplarisch zitierte Reportageeinstieg so: "7 Uhr 18 zeigte die weißlackierte Küchenuhr, die unter den Gesteinstrümmern auf der Straße lag. Zu dem Zeitpunkt war sie unter der Wucht einer der größten Gasexplosionen, die München nach dem Krieg erschütterten, durchs Fenster geflogen. Rundherum lagen verstreut noch andere Küchengegenstände, zertrümmerte Fernsehapparate, Möbel und ein blutiges Leintuch.“ +++
+++ Springer-Vorstandschef Mathias O. Döpfner hat Whitney Houston in Berlin singen hören und war entsetzt genug, um selbst eine Kritik zu verfassen. Seine Dissertation über die Musikkritik wurde bei Amazon noch von keinem Kunden rezensiert, nicht einmal vom Amazon-Toprezensenten Detlef Rüsch, dem die Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung, das SZ Wochenende, die Titelseite widmete +++ Der Leiter des SZ Wochenende, Gerhard Matzig, hatte sich schon im März einmal zum Amazon-Ranking geäußert: "Ich habe ein Buch geschrieben und das liegt seit letzten Montag bei den Buchhändlern, also auch bei Amazon." Ein Schelm, wer den Hinweis "In eigener Sache" darüber vermisst +++ Zufälle gibt's: Matzigs Buch wird in der aktuellen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung besprochen (S. 26) +++
+++ Zufälle? Frankfurter Allgemeine? Da schleudert uns der Algorithmus prompt zu Miriam Meckels Text in der Samstags-FAZ und auf FAZ.net, der eine gekürzte Version ihres Vortrags bei der Internetkonferenz re:publica im April ist. Auch ihr gelang dabei das kleine Kunststück, ihr eigenes Buch im Vortrag unterzubringen, ohne vorher laut "Werbepause!" zu rufen (etwa ab Minute 12 im Video) +++ Die Funkkorrespondenz berichtet über veränderte Produktplatzierungshinweise bei ProSieben-Sat.1 +++
+++ Das Personal: Jörg Pilawa soll möglicherweise beim ZDF "SternTV" Konkurrenz machen, allerdings natürlich nicht so "krawallig und seicht", schreibt Der Spiegel - was aber ja bedeuten würde, dass er etwas vollkommen anderes als "SternTV" machen soll +++ Katrin Bauerfeind for "3nach9" wünscht sich der Tagesspiegel in der Sonntagsausgabe, während die Berliner Zeitung vom Montag ihr Coolness beim Betatschtwerden attestiert +++
+++ Im Fernsehen: Die Funkkorrespondenz nimmt sich im Aufmacher Dominik Grafs "Im Angesicht des Verbrechens" an +++ Die TAZ über einen Abschiebungsfilm zu fortgeschrittener Stunde +++ "Ellas Geheimnis" (20.15 Uhr im ZDF) besprechen die FAZ (S. 31), die SZ ( S. 15), die Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau und der Tagesspiegel +++ Und die Themenwoche zum 100. Todestag von Robert Koch bei 3sat - in der Berliner / Frankfurter und, von einer anderen Autorin, in der dritten DuMont-Schwester, dem Kölner Stadt-Anzeiger +++
Frisches Altpapier gibt es am Dienstag um 9 Uhr.