Bevor sich die Kanzlerin allerdings die Bühne für sich einnahm, eröffnete der Kirchentag das Podium mit einem dramatischen, die Krise betonenden Angstvideo – 3,7 Millionen Arbeitslose, Griechenland, sexueller Missbrauch, die großen Kirchen in der Vertrauenskrise. "Wir konnten vor Monaten, als wir das Programm geplant haben, nicht ahnen, wie aktuell es sein würde", sagt ÖKT-Präsident Alois Glück, sein Co-Präsident Eckhard Nagel dankt Merkel, dass sie überhaupt gekommen ist.
Und dann darf die Kanzlerin loslegen. Die Krise dominiert nicht nur das Weltgeschehen, sondern auch den Merkel-Vortrag: Griechenland und der Euro, gierige Banken, bedrohliche Staatsschulden – da ist die Politik gefragt: "Ohne Regeln gibt es keinen guten Zusammenhalt in der Gesellschaft", und die Regeln werden von der Politik gemacht. Der Zusammenhalt allerdings, das weiß die Kanzlerin auch, kommt nicht von oben, sondern von unten. "Toleranz ist die Vorraussetzung dafür, dass Zusammenhalt entstehen kann, denn wenn ich nur mich toll finde und nicht die anderen, dann kann ich auch keine Kompromisse eingehen", sagt sie und bekommt Applaus von der ganzen Halle. Es ist der Kern ihrer Antwort auf die Frage, wie man den Zusammmenhalt der Gesellschaft bewahren kann.
Schuldenbremse und "Fordern und Fördern"
Dann liefert die Kanzlern den politischen Teil ihrer Rede ab. Die Bänker zur Rechenschaft ziehen, die deutsche soziale Marktwirtschaft in die ganze Welt exportieren, die Wirtschaft stärken und in Bildung, die Zukunft unserer Wirtschaft und erneuerbare Energien investieren. Dazu den Alten, Kranken, Behinderten und Arbeitslosen helfen – die Ziele sind klar. Besonderes Augenmerk lenkt Merkel auf die beschlossene Schuldenbremse, die neue Schulden des Staates ab 2016 komplett verbietet. "Wir müssen darauf achten, dass wir zu einem Leben kommen, bei dem wir nicht dauernd über unsere Verhältnisse leben", sagt sie, aber das Publikum bleibt skeptisch, für diese Pläne gibt es kaum Applaus.
Beifall bekommt die Kanzlerin aber für ihre Schlussfolgerung daraus, dass in unserer Gesellschaft denen geholfen wird, die Hilfe brauchen: "Aber das kann nur funktionieren, wenn diejenigen, die sich selber helfen können, auch dazu angetrieben werden." Merkel verbindet dieses "fordern und fördern" mit christlichen Werten, die "unsere Gesellschaft, den ganzen europäischen Kontinent" geprägt haben: Zusammenhalt entstehe aus einem gemeinsamen Menschenbild, und das ist christlich. Die Politik hat die Regeln dafür jedenfalls nicht gemacht. "Liebe lässt sich nicht verordnen", weiß die Kanzlerin, ebenso wenig wie gemeinsame Werte auf Kommando entstehen: "Für dieses Verständnis müssen wir arbeiten, und dafür ist die Bibel eine gute Grundlage."
Ganz volksnah gegen die Bänker
Die Kirchentagsbesucher honorieren das mit anhaltendem Applaus. Schließlich sind sie für die Kanzlerin gekommen, da nehmen die anderen Menschen auf dem Podium nur eine Nebenrolle ein. Neben Merkel und den beiden Kirchentagspräsidenten sitzen dort Johanna Hofmeir, Gründerin und Leiterin des Projektes "Lichtblick Hasenbergl" für benachteiligte Kinder und Jugendliche, und Pfarrer Hans-Georg Filker, Leiter der Berliner Stadtmission und Präsident des Weltverbandes der Stadtmissionen.
Sie haben allerdings zum ersten Thema – Griechenland – wenig zu sagen. Merkel lobt erneut die Vorzüge Europas, und als das Publikum nur verhalten klatscht, macht sie ein Versprechen: "Die Krise wird uns lehren, dass wir die Probleme auf den Tisch packen und dann auch lösen müssen." So wie die Zügellosigkeit des Bankwesens, ein Thema, bei dem sich Merkel ganz als Volkskanzlerin gibt: "Bänker und ihre Boni müssen stärker rangenommen werden als das bisher der Fall ist." Statt einer Finanz-Transaktions-Steuer zieht sie allerdings höhere Steuern auf Bankgewinne, Boni und Gehälter vor.
Beim Thema Sozialsystem hält sie sich dann wieder zurück. Da haben Filker und Hofmeir das Wort. Die beiden Praktiker erzählen, wie sie in ihren Projekten immer wieder mit der Bürokratie zu kämpfen haben. "Es ist ein Netz, und ein Netz hat Löcher," sagt Stadtmissions-Chef Filker ud plädiert für mehr Flexibilität für die Helfer. ÖKT-Präsident Glück kommt ihm zu Hilfe: Er sieht hier eine Aufgabe der Kirche, diese Strukturen einzufordern. "Wenn wir uns nur als Reparaturbetrieb und letzte Instanz begreifen, werden wir unserem Anspruch nicht gerecht."
Nagel: "nichts Trennendes" zwischen den Konfessionen
Aber dabei geht es natürlich auch ums Geld, deswegen hält sich die Kanzlerin vornehm zurück. Sie erklärt zwar gern, dass Griechenland gar kein Geld vom Staat bekommt, sondern die Steuergelder nur bürgen, falls Griechenland die Sanierung nicht schafft und den Kredit nicht zurückzahlt. Aber konkrete Sparpläne verrät sie nicht. Auch beim Thema Missbrauch bleibt die Kanzlerin unverbindlich. Stattdessen sind die beiden Kirchentagspräsidenten gefragt. Der Katholik Glück begrüßt ebenso wie Merkel, dass die Opfer im Mittelpunkt stehen und sieht die Kirche an einem Scheideweg: "Ist die Reaktion der Rückzug in eine Wagenburg, oder ist die Krise eine Chance für einen neuen Aufbruch?" Eine neue Partnerschaft zwischen Amtsträgern und Laien könnte dieser Aufbruch sein.
Sein evangelischer Kollege Nagel sieht in der Krise ebenfalls eine Chance, und zwar für beide Kirchen: "Wenn ein Fall in unserer Kirche vorkommt, sind wir genauso betroffen wie unsere katholischen Schwestern und Brüder." Eine Reform ist "unabdingbar, und ich hoffe sehr, dass wird as gemeinsam werden realisieren können." Da ist er wieder, der Zusammenhalt, den Merkel so sehr betont hat, diesmal in der Ökumene: "Hier auf dem Kirchentag erleben wir nichts Trennendes zwischen uns", sagt Nagel über Protestanten und Katholiken und erntet donnernden Applaus aus der Halle. Nagel: "Wir haben ein gemeinsames Herz, wir haben einen gemeinsamen Glauben, wir wissen uns getragen von einem gemeinsamen Gott. Und das muss doch genug sein, um tatsächlich die Dinge, die wir als Menschen getrennt haben, wieder zusammenzuführen."
Die Managerin der Krise
Was also bleibt von Angela Merkels Auftritt auf dem Kirchentag? Sie macht jedenfalls den Eindruck einer ehrlichen Managerin der Krise, einer von uns, die nicht überhastet, aber mit Nachdruck den Moloch bekämpft, die christlichen Werte immer im Hintergrund. Und ein bisschen menschlich ist sie auch, als die letzte Frage des Publikums kommt: "Gibt es eine Möglichkeit für jeden von uns, etwas gegen die Krise zu tun?" Ja klar, sagt Angela Merkel: Wir sollen ihr beim Sparen helfen. Wenn an zehn Stellen gespart wird, sollen wir nicht zehnmal sagen: hier nicht. "Es würde mir das sehr erleichtern", sagt Merkel. Ob's auch klappt? Vielleicht, schmunzelt die Kanzlerin: "Man soll ja Hoffnung haben."
Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Gesellschaft und Umwelt + Wissen.