Ein Gespenst geht um in der Medienwelt. Das Gespenst heißt Bürgerjournalismus. In Zeiten des Web 2.0 sollen neben den "richtigen" Journalisten auch die ganz normalen Bürger an die Schreibblöcke, Mikros und Kameras. Lieschen Müller statt Edelfeder. In den Redaktionsstuben riecht es schon nach Angstschweiß. Die veröffentlichte Meinung ist nicht die öffentliche, hat auch der Außenminister vor kurzem entdeckt. Die Journaille zählt ja sowieso zu den sehr übel beleumundeten Berufsgruppen, dicht vor oder hinter den Lehrern.
In Deutschland ist der Trend allerdings noch nicht richtig angekommen. Hier lästert es sich fröhlich über jene "Leserreporter", die vom Boulevard mit Handykameras auf drittrangige Promis gehetzt werden – das mediale Prekariat streicht dafür Kopfgeld ein. Währenddessen dürfen die Professionellen weiter vom Pulitzerpreis träumen – und merken angesichts der laienhaften Konkurrenz spitz an, dass man sich ja auch nicht das Haus von einem Bürgerarchitekten bauen oder die Kinder von Bürgerlehrern unterrichten lassen würde.
Ein Bürgerpilot im Cockpit
Werner D'Inka, Herausgeber der altehrwürdigen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ), wendet das Argument gar ins Existenzielle: "Würden Sie sich von einem Bürgerpiloten fliegen lassen?" fragte er bei dem Symposion "Am Wendepunkt – Mit Community Medien in die Zukunft", das die FAZ gemeinsam mit der Personalentwicklungsfirma inWEnt diese Woche in Berlin ausrichtete. Die Leitfrage: Bringen Citizen Journalism (CJ), so der international eingeführte Fachbegriff, und User Generated Content (UGC) Medien und Gesellschaft des 21. Jahrhunderts voran, oder sind sie ein Fall für Kulturpessimisten?
Eine einfache Antwort gab es bei der Konferenz erwartungsgemäß nicht, dafür aber die Erkenntnis, wie stark sich auch in medialen Fragen die europäische Perspektive von jener der Entwicklungs- und Schwellenländer unterscheidet. Dort nämlich, wo die Demokratie auf wackeligen Beinen steht, wo good governance fehlt, wo Polizei und Justiz käuflich sind, kann der Web-2.0-Journalismus eine wichtige Rolle übernehmen und die klassischen Medien unterstützen. Der von politischen Unruhen erschütterte Iran dieser Tage ist ein Beispiel dafür.
Recherche auf eigene Faust
Auch in Indien trotzen Bürger der Macht der Gewohnheit, die Regierung wie Medien träge werden lässt. Ein Beispiel ist Rakesh Singh, der seinen 16-jährigen Sohn bei einem schweren Unfall verlor. Ein überladener Lastwagen hatte ihn überfahren. Da die Polizei keine Anstalten machte, nach dem flüchtigen Fahrer zu suchen, zog Singh selbst los, befragte Trucker und suchte Hinweise auf das Unglück. Schließlich fand er den Täter – und brachte ihn sogar dazu, sein Geständnis in die Videokamera zu sprechen, bevor er ihn den Behörden übergab. Für seine "Recherche", die auf CNN gezeigt wurde, erhielt Singh einen Preis für Bürgerjournalisten.
Der geplante Einspielfilm zu dem indischen Fall musste bei der Tagung ausfallen – die Technik funktionierte nicht, wie auch so manches andere. So gab es an den Plätzen weder Strom noch W-Lan, die Akustik war erbärmlich und die Sichtverhältnisse katastrophal. Einige der ausländischen Gäste dürften ihr Klischee von den gründlichen, zur Perfektion tendierenden Deutschen zu den Akten gelegt haben. Dafür wurde fleißig getwittert, auch wenn die an der Saalseite angebrachte Twitterwall eher als Spielerei belächelt wurde, als dass man sie ernsthaft in die Diskussionen einbezog.
"Global Voices" verbindet Blogs
Bei Solana Larsen hörten auch die Twitterer genau zu. Die junge US-Amerikanerin ist für "Global Voices" tätig – die vor fünf Jahren gegründete Website fasst Blogs aus aller Welt zusammen, die der Verständigung dienen und vernachlässigte Themen aufgreifen. Wo sonst würde man etwas über Umweltschutz in der Mongolei erfahren? "Threatened Voices" widmet sich zudem Bloggern, die im Gefängnis sitzen, etwa im Iran oder China. Auch Deutschland wird mit einem Fall genannt, allerdings ist der wegen notorischer Beleidigung inhaftierte Jörg Reinholz alias "fastix" schon längst wieder in Freiheit.
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Als gutes Zeichen wertet Larsen, dass die klassischen Medien ihre Berührungsängste gegenüber Bürgerjournalisten und Blogosphäre abzulegen scheinen. So kooperieren die BBC oder die italienische Zeitung "La Stampa" mit Global Voices, veröffentlichen dort entdeckte Geschichten, etwa über die Mapuche in Chile oder über ein Bücherprojekt in Kolumbien. Die junge Internetaktivistin plädiert für ein sachliches Verhältnis von Medien und Web 2.0: An einem Blog sei "nichts Magisches", und auch Bürgerjournalisten produzierten "nicht immer die aufregendsten Geschichten".
"Nebliges Wahrheitsgelände"
Eine ähnlich weise Einsicht hatte zu Beginn der Tagung Hans-Jürgen Beerfeltz verkündet, Parteifreund des Außenministers und jüngst zum Staatssekretär in Dirk Niebels Entwicklungsministerium befördert. Die Meinungsbildung werde zusehends unabhängig von den klassischen Medien, meinte er - in den neuen Kommunikationsformen liege eine "unglaubliche Chance", zugleich bewege man sich in einem "nebligen Wahrheitsgelände". Unabhängige und professionelle Journalisten blieben unverzichtbar, so auch FAZ-Geschäftsführer Roland Gerschermann. Fallen die Standards, tun sich PR-Strategen wie etwa die der Atomlobby einfacher, ihre Botschaften unters Volk zu bringen.
Ein Beispiel für die Ambivalenz dessen, was Citizen Journalism genannt wird, lieferte prompt Steven Lang, Chef der Zeitung "Grocott's Mail" im südafrikanischen Grahamstown. In einer Art affirmative action bietet das Blatt Bürgern einen medialen Crashkurs an, in dem sie den Umgang mit Computer und Handy sowie Grundzüge des Journalismus lernen sollen. Ergebnis: ein spekakuläres Unfallfoto, das ein Leserreporter geschossen hatte, sowie Krach an einer Schule. Jugendliche hatten sich per SMS, die in der Zeitung abgedruckt wurden, bitter über Lehrer beschwert. Daraufhin waren sie ihre Handys los.
Zensur in 60 Ländern
Ist das schon der Beginn von Zensur? In weltweit 60 Ländern werden Internet und Blogosphäre rigide kontrolliert. Paradoxerweise sind es gerade die neuen Medien, mit denen die Regierungen ihren webaffinen Kritikern hinterherschnüffeln, wie ein FAZ-Bericht just am Tag der Konferenz offenlegte. Es ist wohl das Los aller technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften, dass sie niemals nur dem Guten, Wahren und Schönen dienen. Mit einem Flugzeug kommt man schnell von einem Ort zum anderen, kann aber auch im Meer landen. Dazu braucht es nicht einmal einen Bürgerpiloten.
Doch je mehr Stimmen, desto lebendiger die Demokratie – das zeigte auch die von Sigrun Rottmann (in der Bildmitte) geleitete Podiumsdiskussion. Hier legte der pakistanische Medienwissenschaftler Saqib Riaz dar, was der CJ zum Ausgleich mit Indien beitragen könne, und Daoud Kuttab, Gründer des Internetradios "AmmanNet", steuerte das Bonmot bei, die Araber glaubten, die ganze arabische Welt sei frei – nur zufällig ihr eigenes Land nicht. Kuttab widersprach dem Skeptizismus D'Inkas gegenüber dem Bürgerjournalismus zwar heftig, bekannte aber am Ende freimütig: "Wir sollten nicht übertreiben. Jeder hat seinen Platz."
Wo ist das Publikum?
Am Schluss blieb die irritierende Frage, welches Publikum es für Blogs und Bürgerjournalisten eigentlich gebe. Niemand wusste so recht eine Antwort darauf. Geht es um Information, Unterhaltung - oder einfach um eine nette Form der Zeitverschwendung, wie so vieles in der schönen neuen Welt des Web 2.0? Vielleicht passt der Vergleich mit dem Theater am besten: Den Othello sieht man sich statt auf der Laienbühne dann doch lieber im Staatsschauspiel an. Da geht das Gespenst einfach eine Spur gruseliger um.
Was halten Sie vom Journalismus für Jedermann? Stärken diese neuen Formen die Kommunikation und die Beteiligung, oder sind die Risiken größer? Würden Sie selbst gerne Bürgerjournalist sein? Und vielleicht sogar für evangelisch.de tätig werden? Wir freuen uns auf Ihre Meinung und Anregungen in der Kommentarspalte!
Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Religion.