Selten hat ein Wahlgewinner so unglücklich ausgesehen wie Lothar de Maizière am Abend des 18. März 1990. Entgegen allen Wahlumfragen hatte die von ihm angeführte "Allianz für Deutschland" - ein von Altbundeskanzler Helmut Kohl (CDU) nur wenige Wochen zuvor zusammengeschmiedetes Parteienbündnis aus Ost-CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA) - soeben die erste freie Volkskammerwahl in der DDR mit über 48 Prozent deutlich gewonnen. Der haushohe Favorit aller Demoskopen, die Ost-SPD, landete abgeschlagen bei 22 Prozent.
"Konkursverwalter für 17 Millionen Mandanten"
De Maizière, der am 2. März seinen 70. Geburtstag feiert, war erst seit November 1989 Vorsitzender der Ost-CDU. Auf einen Wahlsieg der Blockpartei, die sich noch wenige Wochen zuvor als Systemstütze des maroden SED-Regimes verstand, schien er nicht vorbereitet. So wirkte er fast abwesend, als er sich im Blitzlichtgewitter und umzingelt von TV-Kameras durch das Gewühl im damaligen Ost-Berliner Palast der Republik schob, bedrängt von Fragen der Reporter aus aller Welt.
Ihm sei in diesem Moment deutlich geworden, was da auf ihn zukomme, sagt de Maizière 20 Jahre später. Als Anwalt für Wirtschafts- und Steuerrecht habe er die ökonomische Lage der DDR gut einschätzen können und gewusst, dass das Land wirtschaftlich kurz vor dem Kollaps stand. "Ich fühlte mich nicht als künftiger Ministerpräsident, sondern als Konkursverwalter für 17 Millionen Mandanten."
Umgang mit Kohl "respektvoller, als die meisten denken"
Das Wahlergebnis begriff er als Plebiszit "für ein einiges Deutschland, für den föderalen Aufbau des Landes, für Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung". Viel Gestaltungsspielraum blieb dem 1940 in Nordhausen geborenen Rechtsanwaltssohn in seiner nur achtmonatigen Regierungszeit aber nicht. Zu massiv war das Bestreben des Machtpolitikers Kohl, die Chance zu einer schnellen deutschen Wiedervereinigung nicht verstreichen zu lassen.
Richtig warm wurden Kohl und de Maizière in den folgenden Monaten nicht miteinander, auch wenn der Umgang "respektvoller war, als die meisten denken", sagt de Maizière. Der bullige Pfälzer konnte mit dem schmächtigen bekennenden Preußen wenig anfangen und bezeichnete ihn schon mal als "feinen Pinkel".
Kontakt zur Stasi war als Anwalt normal
De Maizière verstand sich als Vertreter eines Bildungsbürgertums, das es in der DDR eigentlich nicht mehr geben sollte. Nach dem Abitur am Ost-Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster 1958 studierte er zunächst Bratsche. Wegen einer Erkrankung musste er 1975 den Bratschisten-Beruf aufgeben, studierte in einem Fernstudium Jura an der Humboldt-Universität und wurde Rechtsanwalt.
1987 wählte das Kollegium der Berliner Rechtsanwälte de Maizière zum Stellvertreter des damaligen Vorsitzenden Gregor Gysi, einem "bis heute guten Freund", wie er betont. Zu seinen anwaltlichen Tätigkeiten gehörte nach eigenem Bekunden auch immer wieder die Verteidigung von Menschen in der DDR, die mit dem SED-Regime in Konflikt geraten waren. Dadurch habe er auch immer Kontakt zur Stasi gehabt, "das ist normal gewesen als Anwalt in der DDR".
Kirchenmitgliedschaft und aktive politische Mitarbeit
De Maizière gehörte zudem zu der seltenen Spezies von Christen in der DDR, für die sich Kirchenmitgliedschaft und aktive politische Mitarbeit nicht ausschlossen. Bereits 1956 trat der überzeugte Protestant der Ost-CDU bei, einer der vier Blockparteien in der DDR. Dort engagierte er sich in den 80er Jahren in der CDU-Arbeitsgruppe für Kirchenfragen. Von 1985 bis 1990 gehörte er zudem der Synode des Bundes der Evangelischen Kirche der DDR an.
In den turbulenten Monaten zwischen dem 18. März und dem 3. Oktober 1990 hatte de Maizière dem Kohlschen Fahrplan zur deutschen Einheit wenig entgegenzusetzen. "Das einzige, was ich hatte, war meine Halsstarrigkeit", sagt er rückblickend. So schmiedete er zwar mit SPD und Liberalen zunächst eine Regierungskoalition, die aber im Sommer 1990 wieder zerbrach. Das kreidet de Maizière der Politik Bonns an.
"Männer des Übergangs sind Männer mit Verfallssdatum"
Menschen wie der damalige Volkskammervize Reinhard Höppner (SPD) oder der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Berliner Theologe Richard Schröder, seien ihm viel näher gewesen als die politischen Akteure der West-CDU. "Das waren doch meine Leute." Die "Rheinprovinzler" dagegen hätten mit dem Osten noch nie etwas anfangen können.
Die Quittung für diese Haltung kam postwendend nach Wiedervereinigung und Bundestagswahl. Mitte Dezember 1990 wurden Vorwürfe bekannt, dass de Maizière als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) "Czerny" für die Stasi gearbeitet hat. Er legte daraufhin alle Ämter nieder. Obwohl die Anschuldigungen weitgehend entkräftet wurden, zog er sich in den folgenden Jahren weiter vom politischen Parkett zurück und arbeitete wieder als Rechtsanwalt. Männer des Übergangs seien immer Männer mit Verfallsdatum, sagt er rückblickend.