Walsers "Jenseits": Reliquien von Religion und Liebe

Walsers "Jenseits": Reliquien von Religion und Liebe
Was ist Glaube? Eine Stütze oder eine Zwangsjacke? Befreit er Kreativität und Fantasie des Gläubigen oder schlägt er ihn in Fesseln? Diese Fragen wirft Martin Walser in seiner neuen Novelle "Mein Jenseits" auf - und hütet sich vor einer Antwort.
08.02.2010
Von Katrin Börner

Stattdessen malt er ein facettenreiches Bild mit folkloristischem Brauchtum, erhebender Kunst und Fetischverehrung, in dem sich sein Augustin Feinlein, Chef eines Psychiatrischen Landeskrankenhauses mit wachsender Altersmüdigkeit mal tänzelnd, mal taumelnd auf den persönlichen Bankrott zu bewegt. Aber scheitert er tatsächlich an der Wirklichkeit, oder hat er sich nicht vielmehr listenreich sein persönliches Paradies, sein Jenseits, konstruiert?

Der Novelle hat der 82-jährige Autor vom Bodensee einige Sätze des Mystikers Jakob Böhme (1575-1624) vorangestellt, die trotzig mit der Feststellung enden: "Ich habe für mich geschrieben." Das klingt sicher nicht nach einem elysischen "Jenseits" für einen Schriftsteller, schon eher nach einem Befreiungsschlag oder einer Kampfansage an den Leser. Die Novelle erscheint am Mittwoch (10. Februar).

Wie man eine Verlobte verliert

Die Handlung erinnert an frühere Bücher Walsers: Es geht um Beziehungsschwierigkeiten in gutbürgerlichen Kreisen. In jungen Jahren hat Augustin in einem Lateinkurs Eva Maria kennengelernt. Die beiden sind so gut wie verlobt, als er sie zu einem Besuch bei einem früheren Patienten mitnimmt - und verliert. Eva Maria heiratet den jungen Grafen, der bald darauf bei einer waghalsigen Bergtour umkommt. Und Eva Maria heiratet wieder, diesmal den 18 Jahre jüngeren Dr. Bruderhofer. Der aber ist ärztlicher Direktor an eben der Klinik, die Augustin Feinlein leitet. Die Rivalen führen 30 Jahre lang einen stillen, erbitterten Kampf um medizinische Fachfragen ebenso wie um die Anerkennung des Klinikpersonals.

Ob der liebe Augustin seiner Eva Maria jemals gestanden hat, dass sie seine große Liebe ist, wenigstens zur Zeit der Fast-Verlobung? Vermutlich tat er das nicht. Sie schreibt dem früheren Freund während ihrer Ehen in heiterer Unbefangenheit Karten, auf denen steht "Ich werde dich immer lieben" oder die sie mit "In Liebe" unterzeichnet. Für Augustin sind das Reliquien, die seinen Glauben nähren, dass es da noch Möglichkeiten für ihn gibt, jenseits der tristen Welt aus verstreichender Zeit und beruflichen Kämpfen.

Reliquien, wie sie fast jede Kirche im Bodenseegebiet aufweisen kann, faszinieren Augustin. Sein Vorfahr, der Abt in jenem Kloster war, das heute die Psychiatrische Klinik beherbergt, hat nach der Säkularisierung ein Buch über Reliquien-Verehrung geschrieben. Dessen Credo, es komme gar nicht drauf an, dass eine Reliquie echt ist, wichtig allein sei der Glaube, versucht Augustin noch zu beweisen, ehe er sich aus der Pestgrube des beruflichen und gesellschaftlichen Mobbings in sein Jenseits rettet.

Reizt zum wiederholten Lesen

Die kleine literarische Form der Novelle scheint in einer Zeit der dicken Thrillerbände bei einigen Autoren in Mode zu kommen. So hat Siegfried Lenz im vergangenen Jahr seine "Landesbühne" herausgebracht und Walter Kappacher in "Der Fliegenpalast" den alternden Hugo von Hofmannsthal beschrieben. Falls auch für Walsers Novelle wie bei der "Landesbühne" geschehen, ausgerechnet werden sollte, auf welcher Bahnreise sich "Mein Jenseits" bequem auslesen ließe, sollte hinzugefügt werden: Es ist möglich, dass sich der hastige Leser das Büchlein bei der nächsten Reise gleich wieder in die Tasche stopft. Denn die Novelle in schlichter Sprache wie ein Volkslied, aber gespickt mit Anspielungen auf Literatur und Geschichte, hat so etwas Hinterhältiges. Sie reizt zum wiederholten Lesen. Und einige starke Sätze prägen sich sofort ins Gedächtnis ein, diese etwa: "Das Jenseits muss schön sein. Sonst kannst du es gleich vergessen."

Martin Walser: Mein Jenseits, Berlin 2010. Berlin University Press, 132 Seiten, 19,90 Euro.

dpa