Maritanas kleiner Sohn quengelt, er will auf ihren Arm. Doch die 26-Jährige kann ihn nicht mehr alleine hochnehmen. Sie hat bei dem schlimmen Erdbeben vor drei Wochen in Haiti ihre rechte Hand verloren. Der Stumpf ist dick mit Verband umwickelt. "Ich kann fast nichts mehr allein tun", sagt Maritana leise und blickt zum Boden. Ihr Haus ist bei dem Beben am 12. Januar eingestürzt. Sie konnte sich allein aus den Trümmern befreien und fand schnell Hilfe. Wer ihre Hand amputiert hat, weiß sie nicht genau. "Weiße", sagt sie schüchtern.
Maritana gehört zu den schätzungsweise 6.000 Menschen, denen nach dem Erdbeben Gliedmaßen abgetrennt wurden. Die herunterstürzenden Decken und Wände haben ihnen Finger, Arme oder Beine zerquetscht. In vielen Fällen dauerte es Tage, bis sie medizinisch versorgt werden konnten. Bis dahin waren die Wunden oft infiziert und die zersplitterten Knochen nicht mehr zu retten.
Andere Maßstäbe in der Katastrophenregion?
"In der ersten Zeit haben die Ärzte hier unter katastrophalen Bedingungen amputiert", erzählt der Berliner Unfallchirurg Michael Winter, der für die Organisation Ärzte ohne Grenzen in Haiti im Einsatz ist. Baumstümpfe dienten als Operationstische, Taschenmesser mit Säge als Operationsinstrument, Stirnlampen als einzige Beleuchtung. Häufig konnten die Patienten nicht einmal betäubt werden.
Als mehr und mehr Hilfsorganisationen ins Land kamen, entbrannte eine Debatte, ob all die Amputationen nötig gewesen seien. "Die Leute haben zu viel amputiert", meint Winter. "Wenn man einmal dabei ist, dann geht es schnell. Für einen Arzt ist es ein rascher Eingriff, aber der Patient ist für den Rest des Leben gezeichnet", meint der Chirurg. Auch wenn die Wunde stark infiziert sei, könne man Antibiotika geben und abwarten, ob nicht doch etwas zu retten sei.
Andere meinen, in einer Situation wie in Haiti müssten andere Maßstäbe angelegt werden. "Vielleicht hätte man manche Gliedmaßen in Europa oder den USA retten können. Aber hier können viele Patienten nach der Operation nicht weiter betreut werden", sagt der österreichische Arzt Chris Schimanek. Es bestehe die Gefahr, dass die Wunde verschmutzt und infiziert werde und das Gewebe absterbe. "Viele Patienten wehren sich gegen den Eingriff, zum Beispiel, wenn sie ihre Zehen noch bewegen können. Aber wenn der Knochen hin ist, dann ist eine saubere Amputation die bessere Lösung", meint er.
Helfer streiten um die Notwendigkeit von Amputationen
In manchen Fällen war die Amputationsfrage sogar Anlass für Streit zwischen Helfern verschiedener Länder. "Le Monde" berichtete von einer Frau, deren Arm gebrochen und entzündet war. Amerikanische Ärzte empfahlen die Amputation, französische Ärzte protestierten und brachten die Patientin schließlich per Hubschrauber auf ihr Lazarettschiff, um sie dort zu versorgen und den Arm zu retten.
Während das Land sich allmählich vom Erdbeben erholt, müssen die Amputierten lernen, für immer ohne die fehlenden Gliedmaßen zurechtzukommen. Hilfsorganisationen bemühen sich, Prothesen ins Land zu bringen und Prothesen-Werkstätten aufzubauen. Maritana versucht unterdessen, ihre drei Kinder einhändig zu versorgen. "Meine älteste Tochter ist schon elf", sagt sie. "Sie muss sich jetzt um ihre kleinen Geschwister kümmern."
Massen werden geimpft, Wahlen verschoben
Wegen Seuchengefahr in der haitianischen Erdbebenregion haben Hilfsorganisationen am Mittwoch eine Massenimpfung gestartet. Etwa 700.000 Menschen in etwa 500 provisorischen Lagern sollen gegen Masern, Tetanus und Diphtherie geimpft werden, darunter auch 140 000 Kinder. Die für Ende Februar geplanten Wahlen in Haiti wurden inzwischen offiziell verschoben. Ein neues Datum stehe noch nicht fest, hatte die Wahlkommission am Dienstag in Port-au-Prince mitgeteilt.