evangelisch.de: Sie haben mal gesagt: „Wenn ich mein Image wäre, hätte ich mich schon umgebracht.“ Was wird Ihnen zugeschrieben, was Sie gar nicht sind?
Reinhold Messner: Dass ich mir alles nehme, dass ich über Leichen gehe. Lauter Klischees: Mir soll mal ein Journalist nachweisen, dass ich meine Leute habe hängen lassen.
evangelisch.de: Später haben Sie sich mehrfach mit Ihren Gefährten zerstritten.
Messner: Immer dasselbe Lied. Bei allen waren Dritte im Spiel. Als es nicht mehr reichte, der Partner von Messner gewesen zu sein, hieß es: Der Messner ist ein Kameradenschwein. Ich sollte geschlachtet werden, damit andere besser dastehen. Es geht dabei nur um Aufmerksamkeit.
evangelisch.de: In einem Stern-Interview – das auch in Ihrem Buch "Mein Weg" nachzulesen ist – sagen Sie: "Hoch oben am Berg gibt es keine besondere Moral. Jeder von uns würde, wenn es hart auf hart kommt, den anderen liegen lassen." Wer Ihnen übel will, liest hier das Kameradenschwein raus.
Messner: Aber das bedeutet doch nicht, dass ich nicht versuche, den anderen zu retten, wenn es irgend geht. Das ist doch selbstverständlich! Ich spreche Tatsachen aus. Aber man kann allein keinen Sterbenden vom Gipfel des Mount Everest runterschleppen. Das geht nicht! Wer etwas anderes behauptet, war nie oben. Ich habe bisher alle Leute, die ich retten konnte, gerettet. Bis Mitte der 80er-Jahre war ich bei der Bergrettung, ich habe Dutzende runtergebracht. Oswald Oelz und ich haben 1979 Peter Hillary und zwei andere Neuseeländer aus der Ama Dablam-Westwand geholt.
"Aggressionen in mir"
evangelisch.de: "Es war wie im Krieg, ständig sausten Steine an uns vorbei. Reinhold hetzte wie ein Wahnsinniger, der hatte auch die Hosen voll“, beschreibt Oswald Oelz die Situation.
Messner: Trotzdem haben wir geholfen. Wir waren in einer wahnsinnig gefährlichen Wand, sind mit einem 200 Meter langen Seil geklettert. Das hätte einen Sturz von 400 Meter bedeuten können. Ich hatte Aggressionen in mir, um unser Leben und das der anderen retten zu können.
evangelisch.de: Ihr öffentliches Bild hat auch durch den Yeti gelitten. Häufig hieß es: "Der Messner spinnt."
Messner: Weil die Kritiker an ihren Vorurteilen festhalten. Ich habe eine eindeutige Antwort gegeben. Die Legendenfigur, die in der Fantasie der Europäer vorkommt oder in einer Zwischenwelt als Vielleicht-Wahrheit in der asiatischen Welt hat eine zoologische Entsprechung. Damit habe ich die Yeti-Geschichte aufgeklärt. Man wird erst in zehn oder zwanzig Jahren erkennen, was das eigentlich bedeutet.
evangelisch.de: Was stört Sie noch an Ihrem Image?
Messner: Dass ich der einsame Wolf sei. Ich bin ja gesellig, selten allein, ich bin kein Alleingänger.
evangelisch.de: Aber gerade für die Alleinbesteigung des Mount Everest sind Sie bekannt und berühmt. Chris Bonington sieht darin eine der wichtigsten alpinistischen Leistungen überhaupt.
Messner: Das ist sie auch, aber ich musste mich dazu zwingen.
evangelisch.de: Warum machen Sie es dann?
"Spielfeld allein beherrschen"
Messner: Weil ich meine Spielfelder auch allein beherrschen will. Es ist immer eine Selbst-Prüfung dabei. Die Frage: Kann ich es auch allein?
evangelisch.de: Wozu diese Selbst-Prüfung?
Messner: Vielleicht ist es die Einsamkeit! Den horizontalen Grenzgang im Alleingang habe ich ewig vor mir hergeschoben. Ich habe versucht, die Takla Makan der Länge nach allein zu durchqueren. Bin aber nicht durchgekommen.
evangelisch.de:Ist vieles, was Sie machen, eine Selbst-Prüfung?
Messner: Ja.
evangelisch.de: Sind sie bei einer Selbst-Prüfung – nach Ihren eigenen Maßstäben – durchgefallen?
Messner: Ungefähr ein Drittel meiner Touren sind nicht gelungen: Sei es im Fels, wenn ich Erstbegehungen geplant hatte. Oder im Eis. Ich wollte an der Matterhorn Nordwand die zweite Begehung der Bonatti-Route machen – ist nicht gelungen. Bei 31 Achttausender-Expeditionen waren nur 18 erfolgreich.
evangelisch.de: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie scheitern?
Messner: In jungen Jahren war das schwierig, das gebe ich gerne zu. Aber heute fühle ich mich nach einer gescheiterten Tour genauso gut wie nach einer erfolgreichen. Heute habe ich kein Problem mehr mit dem Scheitern.
evangelisch.de:Das klingt sehr entspannt.
Messner: Ich habe nichts mehr zu beweisen, auch mir selber nicht.
"Eleganz und Stil"
evangelisch.de: Welche Momente der vielen Expeditionen sind Ihnen am intensivsten in Erinnerung geblieben?
Messner: Meine Expeditionszeit ist noch nicht abgeschlossen. Ich lebe mit jener Reise am intensivsten, die ich gerade plane.
evangelisch.de: Wo wollen Sie hin?
Messner: Nach Nepal, mehr erzähle ich nicht. Eine Idee verliert an Kraft, wenn ich sie herausplaudere.
evangelisch.de: Sie haben 1978 mit dem Nanga Parbat als erster Mensch allein einen 8000er bestiegen. Ist das nicht eine ganz starke Erinnerung?
Messner: Das ist eines meiner Highlights – an Eleganz und was den Stil angeht. Aber ich sitze nicht da und sage: Dieser Alleingang füllt mich aus. Das ist ein ganz kleiner Teil meiner Biografie, aber diese Biografie trägt mich nicht, sie gibt mir keine Energie und keine Kreativität.
evangelisch.de: Warum gerade der Nanga Parbat, an dem Ihr Bruder acht Jahre zuvor umgekommen war?
Am Nanga-Parbat
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Messner: Ich war der Meinung, dass es dort geht.
evangelisch.de: Nach der Katastrophe von 1970 hätten vermutlich viele gesagt: Alle Berge besteige ich, aber diesen sicher nie mehr!
Messner: Aus einem inneren Zwang heraus bin ich 1971 wieder zum Nanga gefahren, um nach Günther zu suchen. Damit konnte ich auch Trauerarbeit leisten. Dann war der Alleingang denkbar.
evangelisch.de: Sie haben mehrere Versuche gebraucht.
Messner: Bei meinem dritten Anlauf 1977 bin ich gar nicht erst ins Basislager gekommen.
evangelisch.de: Warum?
Messner: Ich habe schon vorher Angst gekriegt. Ich habe gemerkt: Es geht nicht, ich kann es nicht. Mir war klar, dass ich noch viel zu lernen hatte. Um einen 8000er im Alleingang zu meistern, braucht es vor allem mentale Kraft.
evangelisch.de: Werner Herzog hat 1984 einen Dokumentarfilm über Sie gedreht, in dem er Sie fragt, wie Ihre Mutter den Tod des Bruders aufgenommen hatte. Ihre Stimme stockt, Sie weinen heftig, können kaum antworten. War Ihnen das später peinlich?
Der größte Schmerz
Messner: Nein, Herzog hat nur den Schwachpunkt gefunden. Ich weiß natürlich, dass Günthers Tod für die Mutter der größte Schmerz war – und nicht für mich, der überlebt hat.
evangelisch.de: Wann hatten Sie den Zustand erreicht, an dem Sie sagen konnten: Jetzt ist es gut, jetzt kann ich akzeptieren, dass mein Bruder tot ist.
Messner: Dass mein Bruder tot ist, war eine Tatsache.
evangelisch.de: Das wirkte in dem Herzog-Film anders.
Messner: Als Herzog die Frage stellte, habe ich mich in den Schmerz der Mutter hineingefühlt. Meine Mutter ist seit zwölf Jahren tot, heute kann ich mit ihrem Schmerz umgehen.
evangelisch.de: In den vergangenen Jahren wurde Ihnen vorgeworfen, Sie hätten Ihren Bruder Günther aus Ehrgeiz im Stich gelassen.
Lügen in die Welt gesetzt
Messner: Es war selbstverständlich, dass ich versucht habe, meinen Bruder vom Nanga Parbat runterzuholen – auch weil ich gar nicht anders konnte. Es wurden Lügen in die Welt gesetzt. Andere haben sie nachgebetet.
evangelisch.de: Sie meinen das Buch "Zwischen Licht und Schatten. Die Messner-Tragödie am Nanga Parbat".
Messner: Ja. Und ich frage mich: Warum hat kaum ein deutscher Journalist oder Alpenverein je gesagt, diese Art Rufmord können wir nicht dulden. Niemand wurde gezwungen, Lügen nachzuplappern, die sich irgendwelche Leute ausgedacht haben. Die Kitsch-Kameraden haben viele Häscher gefunden.
evangelisch.de: Warum war die Presse Ihrer Ansicht nach so unkritisch?
Messner: Weil die Messner-Demontage ein gutes Geschäft ist.
evangelisch.de: Reinhold Messner zu demontieren...
Messner: ... bringt Auflage, Aufmerksamkeit und bei vielen Neidern Applaus.
2005 wurden auf der Diamir-Seite die sterblichen Überreste Ihres Bruders gefunden. Damit war eindeutig bewiesen, dass die Kitsch-Kameraden Unrecht getan haben.
evangelisch.de: Die Knochen und Kleiderreste waren über eine Fläche so groß wie ein Zimmer verteilt.
Messner: Der Gletscher zerstört eine Leiche, er zieht, schiebt. Wir haben mit den Resten eine Feuerbestattung nach tibetischem Brauch zelebriert.
In Träumen existent
evangelisch.de: Haben Sie heute manchmal das Gefühl, Günther sei bei Ihnen?
Messner: In meiner Erinnerung, in meinen Träumen ist er natürlich existent.
evangelisch.de: Träumen Sie von ihm?
Messner: Nicht oft, aber es kommt vor. Wir klettern zusammen, wir reisen zusammen.
evangelisch.de: Vermissen Sie ihn?
Messner: Vermissen ist der falsche Ausdruck. Die Tragödie ist passiert, er ist tot, aber in mir ist etwas von ihm lebendig.
evangelisch.de: Halten Sie zuweilen stille Zwiesprache mit ihm?
Messner: Ich habe nach wie vor Kontakt, wobei das schon wieder esoterisch klingt. Ich rede nicht mit ihm, aber in meinen Gedanken beschäftige ich mich mit ihm.
evangelisch.de: Haben Sie Angst vor dem Tod?
Grabmahl schon gebaut
Messner: Das kann ich nicht sagen, weil der Tod weit weggerückt ist. Ich war ihm auch nur selten nah, 1970 am Nanga Parbat oder auch 1982 am Kangchendzönga. Dort hatte ich einen Amöben-Abszess in der Leber und war langsamer als sonst. Auf 8000 Meter, beim Abstieg, hat der Jet-Stream unser Zelt zerrissen. Ich war in meinem Zustand ungeschickt, brachte meine Steigeisen nicht an die Schuhe, es kam ein Einverständnis mit dem selbstverständlichen Tod.
evangelisch.de: Auf Schloss Juval steht ein Tschorten, in dem Sie bestattet werden möchten. Warum haben Sie sich Ihr Grabmal schon jetzt gebaut?
Messner: Es ist nie zu früh.
evangelisch.de: Mit welchem Gefühl gehen Sie daran vorbei?
Messner: Mit großer Gelassenheit.
Reinhold Messner (geb. 17. September 1944) gehört zu den bekanntesten Bergsteigern der Welt. Bei der Besteigung des Nanga Parbat (8125 m) stirbt 1970 sein Bruder Günther, er selbst verliert sechs Zehen; extremes Felsklettern ist ihm damit nicht mehr möglich. In den folgenden Jahren gelingen ihm an den höchsten Bergen der Welt außergewöhnliche Besteigungen: 1975 machen er und Peter Habeler mit dem Hidden Peak (8068 m) erstmals einen 8000er im reinen Alpinstil. 1978 gelingt Messner am Nanga Parbat die erste Alleinbegehung eines Achttausenders. Im selben Jahr stehen er und Peter Habeler als erste Menschen ohne Sauerstoffgerät auf dem Gipfel des Mount Everest. 1980 folgt die erste Alleinbegehung des höchsten Berges der Erde. 1984 macht er mit Hans Kammerlander die erste Achttausender-Doppelüberschreitung: Gasherbrum I (8068 m) und Gasherbrum II (8035 m). 1986 vervollständigt Messner mit dem Lhotse (8516 m) seine 8000er-Liste und hat damit als erster Mensch alle 14 Achttausender bestiegen hat. 1999 bis 2004 ist Messner des Europa-Parlaments. In den folgenden Jahren baut Reinhold Messner sein Berg-Museum ("MMM Messner Mountain Museum") mit fünf Standorten auf, 2006 öffnet das Herzstück auf Schloss Sigmundskron bei Bozen. Er unterstützt mit seiner Stiftung MMF (Messner Mountain Foundation) die Bergvölker weltweit. Und nicht zuletzt ist Messner ein fleißiger Autor: Rund 50 Bücher hat er veröffentlicht (in zwei Dutzend Sprachen übersetzt). Er lebt in Meran und auf Burg Juval.
Dirk von Nayhauß ist freier Journalist und lebt in Berlin. Der Absolvent der Journalistenschule Axel Springer hat Psychologie studiert und ist spezialisiert auf Porträts von Prominenten. 2008 erschien sein Buch "Extrem am Berg - Mit 20 Alpin-Stars im Gespräch".