In der Hauptstadt Port-au-Prince stürzten am Dienstagabend (Ortszeit) viele Gebäude ein, darunter ein Kinderkrankenhaus und der größte Supermarkt der Stadt, wie die vor Ort tätige Diakonie Katastrophenhilfe berichtete. "Es sind zahlreiche Häuser zerstört. Es wird sicherlich viele Hunderte Tote gegeben haben, wenn nicht sogar deutlich mehr", sagte Projektleiterin Astrid Nissen. Die Informationslage ist nach Angaben von Hilfsorganisationen desolat.
Behördenangaben über Opferzahlen und Schäden gab es zunächst nicht. Fernsehberichte zeigten gigantische Staubwolken über der Hauptstadt, in der schätzungsweise zwei Millionen Menschen leben. Große Teile des Stadtzentrums sind verwüstet. Das Beben hatte die Stärke 7,0, es folgten mehr als zehn Nachbeben.
Slums betroffen - "Die Menschen beten oder singen"
"Ich denke, das ist eine Katastrophe größeren Ausmaßes", sagte der haitianische Botschafter in Washington, Raymond Joseph, dem US-Fernsehsender CNN. Haitis Regierung bat die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Die USA, Brasilien und die Interamerikanische Entwicklungsbank kündigten sofortige Hilfsleistungen für das verarmte Land an. Die Bundesregierung stellt eine Million Euro Soforthilfe für die Notversorgung der Opfer zur Verfügung. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) ließ einen Krisenstab einrichten. Die Bundesregierung wird weitere 500.000 Euro für Nahrungsmittel zur Verfügung stellen. Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) sagte dies dem Inselstaat am Mittwoch zu. Das Bundesentwicklungsministerium will damit den Menschen helfen, die unmittelbar von den Auswirkungen und Zerstörungen des Erdbebens betroffen sind. Die Nahrungsmittelversorgung soll über die vor Ort im Bundesauftrag tätige Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) erfolgen. Zudem solle geprüft werden, ob weitere Maßnahmen notwendig sind - hierzu müsse aber das Ausmaß des Bebens abgewartet werden.
Ein Sprecher des Entwicklungsministerium sagte in Berlin, Spezialkräfte des Technischen Hilfswerks (THW), unter anderem ein Bergungsteam mit Hunden, würden derzeit zusammengezogen, um im Bedarfsfall sofort in den Karibikstaat reisen zu können. In Haiti halten sich auch Deutsche auf - über mögliche Opfer sei aber noch nichts bekannt. Der haitianische Botschafter in Berlin, Jean Robert Saget, hatte die Deutschen zu schneller Hilfe aufgerufen. Vor allem medizinische Hilfe, Zelte und Lebensmittel würden gebraucht. "Jede Hilfe ist willkommen im Moment."
Stark betroffen sind laut Diakonie-Helferin Nissen auch die dicht besiedelten Slums an den Hängen der Hauptstadt, wo es zu Erdrutschen kam. Die noch funktionierenden Krankenhäuser seien überfüllt. Die Stimmung in Port-au-Prince sei vom Schock über die unerwartete Katastrophe geprägt. "Die Menschen sitzen auf der Straße und beten oder singen", sagte Nissen. Strom und Telefon fielen in der gesamten Stadt aus. Völlig unklar ist die Lage im wahrscheinlich ebenfalls betroffenen Südosten des Landes, zu dem sämtliche Verbindungen unterbrochen sind.
Etwa zwei Stunden vor Ausbruch des Erdbebens gab es nach Augenzeugenberichten erste Anzeichen: "In Port-au-Prince sind alle Hähne durchgedreht, sie krähen zu jeder Tageszeit", notierte die kanadische Journalistin Chantal Guy in ihrem Facebook-Profil. Etwas später fügte sie hinzu: "Und die Hunde heulen, dass es einem das Herz zerreißt." Guy war zusammen mit dem Fotografen Ivanoh Demers nach Haiti gereist. Sie wollten bei einem Literaturfestival eine Reportage über den Schriftsteller Dany Laferrière machen. Als das Erdbeben einsetzte, konnten sie gerade rechtzeitig aus dem Hotel Villa Créole im Stadtviertel Le Carrefor fliehen.
Journalistin lief um ihr Leben
"Die Mauern sind überall zusammengestürzt. Ich bin um mein Leben gelaufen. Menschen schrien: Jesus! Jesus! Es war völlig irreal. Völlig abgedreht. Ich bin aus meinen Hotelzimmer gelaufen, und die Mauer ist direkt neben mir zusammengebrochen", berichtete Demers über Satellitentelefon dem kanadischen Online-Magazin cyberpresse.ca. "Es ist ein Alptraum. Wir sind froh, dass wir leben, aber wir beten, dass uns die Katastrophe nicht noch erwischt", sagte er. "Hoffentlich gibt es kein zweites großes Beben."
Überall herrsche völliges Chaos. Die Menschen liefen verzweifelt durch die Straßen. "Die Stadt ist zerstört. Die Straßen sind nicht mehr befahrbar", beschrieb er die Szene. Mehrere Hubschrauber seien im Einsatz. Alle höheren Gebäude seien eingestürzt, überall seien Risse in den Mauern. "Die Menschen sind draußen, sie können nicht zurück in ihre Hotels. Alle schreien." Der Schriftsteller Laferrière sei in einem anderen Hotel gewesen. Er habe sich auf Umwegen per SMS bei seiner Frau in Kanada gemeldet.
"Es gibt keine medizinische Versorgung für die Bevölkerung"
Auf rasche Hilfe der eigenen Behörden können die Menschen in Haiti einer Sprecherin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) zufolge nicht hoffen. "Es gibt keine medizinische Versorgung für die Bevölkerung und die wird es jetzt natürlich auch nicht geben."Zudem gebe es keinerlei Katastrophenvorsorge, die Menschen seien auf sich gestellt. Das DRK habe derzeit drei Mitarbeiter im Land, die aber noch keine Informationen geliefert hätten. Ein gewisser Vorteil könnte sein, dass die Hütten in den Elendsvierteln nicht massiv gebaut seien. Wegen der fehlenden medizinischen Versorgung könnten aber auch leichte Verletzungen tödlich enden, etwa durch Blutvergiftungen.
Mitarbeiter anderer Hilfsorganisationen berichteten, dass Menschen verzweifelt versuchten, in der Dunkelheit Verschüttete aus den Trümmern zu retten.
Der haitianische Präsident René Préval und seine Frau überstanden das Erdbeben unbeschadet. Dies bestätigte die First Lady, Elisabeth Debrosse Delatour, nach Angaben Josephs in einem Telefonat. Ihren Angaben zufolge seien aber der Präsidentenpalast und das Handelsministerium in Port-au-Prince beschädigt worden. "Wenn diese (stabilen) Gebäude beschädigt sind, können sie sich vorstellen, was mit all den wackligen Behausungen an den Hängen rund um Port-au-Prince passiert ist."
Heulende Sirenen und verzweifelte Menschen
Die Vereinten Nationen teilten mit, dass auch das Hauptquartier der UN-MINUSTAH-Mission stark beschädigt worden sei. In dem rund neun Millionen Einwohner zählenden Land sind seit 2004 UN-Friedenstruppen im Einsatz. Die Einheit setzt sich aus rund 7.000 Soldaten aus 18 Ländern und 1.600 Polizisten zusammen. Laut UN werden zahlreiche UN-Mitarbeiter in Haiti vermisst. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon zeigte sich "sehr besorgt".
Der Sprecher der Botschaft der Dominikanischen Republik Port-au-Prince, Pastor Vásquez, sagte: "Viele Gebäude sind zusammengestürzt, viele Menschen suchen nach ihren Angehörigen." Es herrsche sehr großes Chaos, die Sirenen heulten und die Menschen liefen verzweifelt umher.
Ein Mitarbeiter einer amerikanischen Hilfsorganisation sagte, Menschen suchten in den Trümmern nach Überlebenden, jedoch die Hoffnung sei nicht sehr groß. Nach anderen Berichten stürzte ein Krankenhaus in der Umgebung von Port-au-Prince zusammen, jedoch gab es zunächst keine Informationen über mögliche Verletzte oder Tote.
Obama sichert Hilfe zu
Der stellvertretende Sprecher des US-Außenministeriums, Philip Crowley, sagte nach Angaben des Fernsehsenders CNN, die USA befürchteten eine große Zahl von Todesopfern. Crowley sagte, der US-Diplomat David Lindwall habe von zusammengestürzten Mauern und vielen Verletzten und Toten berichtet. Die Mitarbeiter der Botschaft hätten verschiedene eingestürzte Gebäude gesehen und auch zahlreiche Leichen. Die Zahl der Toten und die Größe der Schäden sei schwer einzuschätzen, sagte Crowley.
Am Mittwochmorgen müsse zunächst geklärt werden, wie der Zustand des Flughafens sei und wohin Hilfsmannschaften geflogen werden könnten. Ein Spezialteam arbeite während der Nacht daran, wie Hilfe zu den Opfern gebracht werden könne, sagte Crowley. Die Telekommunikation in Haiti sei äußerst schwierig, da die Telefonverbindungen von dem Beben stark in Mitleidenschaft gezogen worden seien. Die USA sagten Haiti ihre volle Unterstützung zu. US-Präsident Barack Obama sagte: "Meine Gedanken und Gebete sind bei denen, die von dem Erdbeben betroffen sind." Die US-Regierung beobachte die Situation genau und sei bereit, den Menschen auf Haiti zu helfen.
Nach Angaben des seismologisch-geologischen Institutes der USA lag das Epizentrum etwa 16 Kilometer westlich der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince in 10 Kilometer Tiefe. Das Beben habe sich am Dienstag um 16.53 Uhr Ortszeit (22.53 Uhr MEZ) ereignet. Für mehrere Karibikstaaten galt zunächst eine Tsunami-Vorwarnstufe, die aber im Verlauf der Nacht wieder zurückgenommen wurde. Mehr als zehn Nachbeben versetzten die Menschen in Angst und Schrecken. Sie erreichten eine Stärke von mehr als 5,0.
Spendenkonten für die Menschen auf Haiti:
Diakonie Katastrophenhilfe: Konto 502 707, Postbank Stuttgart, BLZ 600 100 70, im Internet www.diakonie-katastrophenhilfe.de
Caritas International: Konto 202, Bank für Sozialwirtschaft Karlsruhe, BLZ 660 205 00, im Internet www.caritas-international.de