Am frühen Abend klingelt das Telefon alle paar Minuten. "Ärztlicher Bereitschaftsdienst, guten Abend", antworten jedes Mal die Mitarbeiter der Frankfurter Leitstelle und hören sich erst einmal den Grund des Anrufs an. Name, Alter, Straße, Stockwerk – das sind Fragen, die dann geklärt werden. Vier Mediziner im hausärztlichen Notdienst koordiniert die Leitstelle im Stadtgebiet Frankfurt und Offenbach, die sie zu den Anrufen schicken können. Einer von ihnen ist Uli Weitz, sein Dienst beginnt um 20 Uhr. Kaum hat der Arzt die Leitstelle betreten und die Kollegen begrüßt, schon wird er losgeschickt.
Der erste Einsatz führt in eine Wohnung im vierten Stock eines Mietshauses in einem Frankfurter Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt gilt. Die Luft im Treppenhaus ist stickig. Langsam steigt Weitz die Stufen auf, so als würde er sich mit jedem Schritt auf das vorbereiten, was ihn gleich erwartet. In der Wohnung, in der ihn ein junges Paar auf Polnisch begrüßt, ist die Luft nicht besser. Er wird in das Zimmer geführt, wo der Kranke liegt. Das Zimmer ist vollgestellt mit drei Betten, Schränken, Fernsehapparat und einem Tisch, auf dem ein voller Aschenbecher und ein Teller mit undefinierbaren Essensresten stehen.
Im Notfall auch ohne Honorar
"Guten Abend", sagt der Arzt. Bevor er sich ganz dem Patienten widmet, öffnet er erst einmal das Fenster. "Was haben Sie?", will Weitz sodann von Kranken wissen, der auf einer Matratze ohne Laken und unter einer Decke ohne Bezug liegt. Der Mann ist sehr aufgeregt, zittert am ganzen Körper und sagt im gebrochenen Deutsch immer wieder, dass er Magenschmerzen habe und auch Blut ausgeschieden hätte.
Untersuchen kann ihn der Arzt erst, nachdem er ihm Valium gespritzt hat. Weitz misst Blutdruck und Puls, tastet den Bauch ab. Weil er eine Magenblutung nicht ausschließen kann, weist er ihn ins Krankenhaus ein. Aus den radebrechenden Erklärungen des Patienten erfährt der Arzt, dass dieser aus Polen stammt und Bauarbeiter ist, keine Krankenversicherung und auch kein Geld hat. Weitz füllt zwar den Zettel für die Abrechnung aus, weiß aber, dass er auf sein Honorar verzichten wird. Gute Besserung wünschend verlässt der 56-jährige Mediziner die Wohnung mit dem Arztkoffer in der Hand. Tabletten, Tropfen, Ampullen, Spritzen, Verbandszeug, Blutdruckmessgerät und Stethoskop befinden sich in der knapp zehn Kilo schweren Tasche, mit dem Weitz unterwegs ist.
Notdienst statt Weihnachtsblues
Im Auto atmet er erst einmal tief ein, dann wählt er die Nummer der Leitstelle. "Salus 4 ist schreibbereit", erklärt er und notiert den nächsten Auftrag. Hauptberuflich ist Weitz als Oberarzt im Kreiskrankenhaus Gelnhausen tätig; als Notarzt ist er im Einsatz, seit er seinen Beruf ausübt, also sein mehr als 25 Jahren. Er macht das, um seine Finanzen aufzubessern, aber auch aus Überzeugung, sagt der 56-Jährige. Während der Hausbesuche erlebe er das, was für ihn zum Arztsein gehöre: "Es ist dieses Gefühl, helfen zu können."
Seit zehn Jahren lässt sich Weitz für den Dienst am Heiligabend einteilen. Für den geschiedenen Vater von drei Kindern ist es eine willkommene Gelegenheit, dem Weihnachtsblues zu entkommen. Seine Kinder dürfen das Fest nicht bei ihm verbringen, also verbringt er den Abend auch nicht zuhause, sondern am Bett von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen den Arzt rufen. Selbstmordgedanken, Einsamkeit und Verzweiflung gehören auch dazu.
Pizza und Steak, Depression und Schokolade
Das ist wohl auch der Grund für den Hilferuf eines Mannes, der den Arzt für seine Freundin gerufen hat. Weitz notiert sich Namen und Adresse, gibt sie ins Navigationsprogramm ein und fährt los. Die 77-jährige Frau, stellt er schnell fest, leidet an Depressionen. Es ist ein kurzer Besuch, den er abstattet, aber einer, der Wirkung zeigt. Immerhin konnte er den Freund der Kranken beruhigen. Als Dankeschön bekommt er eine Tafel Schokolade.
Der nächste Einsatz führt zu einem jungen Mann, in dessen Wohnung nichts an Weihnachten erinnert. Leere Pizzakartons stapeln sich im Flur auf dem Boden, auf dem Tisch im Wohnzimmer liegen Versicherungskarte und zehn Euro bereit. Weitz setzt sich zu dem 21-Jährigen, fragt, was er denn habe und erfährt, dass ihm übel sein. Mittags hätte er ein Steak gegessen und fühle sich nun gar nicht wohl. Eine Tablette gegen Übelkeit, ein paar beruhigende Worte und ein Plausch – nach einer Viertelstunde sitzt Weitz wieder im Auto und teilt den Kollegen von der Leitstelle mit: "Salus 4 ist schreibbereit."
120 Anrufe - ein ruhiger Abend
Helfen kann er beim nächsten Einsatz nicht mehr. In einer Altenwohnanlage ist kurz nach 21 Uhr eine Frau gestorben. Eine Stunde später steht der Arzt vor dem Bett, in dem die 88-jährige Tote liegt. Nach dem er sie untersucht und sich vergewissert hat, dass es sich um einen natürlichen Tod handelt, stellt der Arzt den Totenschein aus.
Im Laufe des Abends besucht Weitz sechs Patienten. Als er sich kurz nach Mitternacht vom Auto aus bei der Leitstelle für den nächsten Einsatz meldet, wird ihm mitgeteilt, dass er nach Hause fahren könne. Es sei ein ruhiger Abend, erklärt ihm der Kollege. Ein ruhiger Abend, an dem zwischen 20 und 24 Uhr etwa 120 Anrufe eingingen. Nicht zu allen wurde der Arzt geschickt, manches Weh-Wehchen ließ sich über Telefon abklären. Dafür ist das Team in der Leitstelle zuständig. Für diesen Dienst lässt sich Weitz aber nicht einteilen. Er ist lieber mit Arztkoffer unterwegs. Das nächste Mal schon zwei Tage später - am Abend des zweiten Weihnachtstags.
Canan Topçu lebt und arbeitet als Journalistin und Buchautorin in Frankfurt am Main und arbeitet unter anderem für die Frankfurter Rundschau.