Ein Mann sieht weg: Der erste Tag im Prozess gegen John Demjanjuk

Ein Mann sieht weg: Der erste Tag im Prozess gegen John Demjanjuk
Im Rollstuhl wird John Demjanjuk endlich hereingerollt. Eine Stunde verspätet beginnt am Montag vor dem Landgericht München II der Prozess gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher. Er soll als Wachmann im Vernichtungslager Sobibór von März bis September 1943 bei der Ermordung von mindestens 27.900 Juden in den Gaskammern geholfen haben.
30.11.2009
Von Bettina Scriba

Beinahe hätte man hier heute ein großes, weißes Nichts veröffentlichen müssen. Denn der Prozessauftakt in der Strafsache gegen John Demjanjuk erwies sich als kalter Durchhaltemarathon. 270 Journalisten aus aller Welt hatten sich im Vorfeld akkreditiert, um den Prozess zu verfolgen. Doch es war klar, dass der Große Sitzungssaal der 1. Strafkammer des Landgerichts München II nicht genug Platz für alle haben würde. Daher hieß es: Früh aufstehen. Um 7:15 Uhr sollten sich die Türen des Gerichts öffnen, doch tatsächlich warteten die Journalisten teilweise bis 10 Uhr in der Kälte. Und zeitweise sah es gar nicht mehr danach aus, dass eine Berichterstattung mit Eindrücken aus dem Saal möglich sein würde. Nach einer Verspätung von einer Stunde hatten fast alle doch noch Einlass gefunden.

Demjanjuk kommt im Rollstuhl

John Demjanjuk wird um 11:10 Uhr im Rollstuhl mit Kopfstütze in den Saal geschoben. Er trägt eine blaue Baseballkappe, ein graues T-Shirt, eine dunkle Lederjacke, Turnschuhe und Brille. Seine Beine sind mit einer blauen Decke zugedeckt. Seine Augen sind geschlossen. Es ist ganz still im Sitzungssaal, einige im Zuschauerraum wirken leicht bestürzt. Einen richtig gesunden Eindruck macht er nicht. Andererseits ist er schon 89 Jahre alt, da ist ein Rollstuhl nicht ungewöhnlich.

Der Sitzungssaal ist bis auf den letzten Platz belegt. Das Interesse an Demjanjuk, seinen Taten und einer gerechten Strafe ist groß. Neben Zuschauern und Presseberichterstattern gibt es viele Nebenkläger. Thomas B. ist einer von ihnen. Er verlor seine Eltern und seinen Bruder in Sobibór. Oder Judith A., deren Mutter, Vater und Bruder in Sobibór getötet wurden.

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Drei Sachverständige hatten im Vorfeld untersucht, ob Demjanjuk überhaupt verhandlungsfähig sei. Sie beschreiben ihn im Gericht als "sehr kooperativ", "sehr höflich" und "vollständig orientiert". Er habe zum Beispiel bei der Untersuchung am 11. November "eindeutige Fragen" gestellt und es sei "eindrucksvoll, wie gut er über die verschiedenen medizinischen Zustände informiert war." Sein Gesundheitszustand entspreche dem hohen Alter. Er leide unter mehreren Krankheiten, darunter Herzinsuffizienz und Gicht in den Händen. Demjanjuk nimmt die Beschreibung seines Zustandes ohne jegliche Regung zur Kenntnis. Alle drei Sachverständigen kommen zum gleichen Ergebnis: Er ist verhandlungsfähig. Allerdings empfehlen sie die Verhandlung auf zweimal 90 Minuten pro Tag zu beschränken, da er nach einer gewissen Zeit zur Ermüdung neige.

Tumulte oder Beschimpfungen im Saal blieben zum Prozessauftakt aus. Rechtsanwalt Ulrich Busch stellt gleich zu Beginn einen Antrag auf Austausch der Richter und Staatsanwälte wegen Befangenheit. Er argumentiert, dass John Demjanjuk als Wachmann auf der untersten Stufe stand und seinen Dienst tat. Viele seiner deutschen Vorgesetzten und andere Täter, die ähnliche Verbrechen begangen hätten, wurden im Nachkriegsdeutschland freigesprochen. Auch in München. "Wer die Vergangenheit bewältigen will, muss die Vergangenheit der Deutschen offen legen", sagt er. Die Staatsanwaltschaft und die Anwälte der Nebenkläger teilen die Besorgnis der Befangenheit nicht. Die Entscheidung über den Antrag wird zurückgestellt. Um 12:25 Uhr wird die Verhandlung unterbrochen.

Als es um 14:10 Uhr weitergeht, staunen die Anwesenden im Sitzungssaal nicht schlecht, als der Angeklagte auf einer Trage liegend in den Sitzungssaal geschoben wird. Er liegt nun auch noch unter einer weißen Decke. Im Gegensatz zum ersten Verhandlungsblock gestikuliert er ab und zu mit den Händen. Er könne schlecht sitzen und habe leichte Kopfschmerzen. Nach zehn Minuten wird die Verhandlung unterbrochen. Geht es John Demjanjuk tatsächlich schlecht oder simuliert er? Ein Journalist berichtet, er habe Demjanjuk in der Pause lebhaft sprechen gehört. Und in der Justizvollzugsanstalt spiele er Schach. Will er den Prozess hinauszögern?

Demjanjuk soll seine Schuld eingestehen

Louis van Velzen ist 74 Jahre alt. Er hat seine Eltern und Großeltern in Sobibór verloren und tritt als Nebenkläger auf. "Wir haben gesehen, wie Demjanjuk hereingebracht wurde. Wir dachten, das ist ein Scherz!" Auf die Frage, ob er sich wünsche, dass Demjanjuk eine Gefängnisstrafe erhalte, zögert er. "Wissen Sie, das Problem ist, ich habe meine Eltern verloren und musste alle Dinge alleine regeln." Das sei ihm sehr schwer gefallen, sagt er leise und traurig zugleich.

Siegfried B. Stranders verfolgt den Prozess im Auftrag des Auschwitz Komitees der Niederlande. Er ist Rechtsanwalt und Journalist. Vom Prozess erhofft er sich, dass zuerst tatsächlich festgestellt werde, dass Demjanjuk in Sobibór war, was dieser verneint. Außerdem solle das Gericht feststellen, dass Demjanjuk ein Kriegsverbrecher war. "Ich glaube auch, dass er das war. In welchem Maße weiß ich nicht", erläutert er. Demjanjuk sei alt, er brauche kein Gefängnis mehr. Aber er solle seine Schuld endlich eingestehen.

John Demjanjuk hat zum Prozessauftakt geschwiegen und die Augen geschlossen gehabt. Vielleicht ist er auch zwischendrin kurz eingeschlafen, man weiß es nicht. Allerdings würde er den Ausführungen der ukrainischen Dolmetscherin sehr aufmerksam folgen, hieß es.

35 Verhandlungstage bis Mai

Der vermutlich letzte große NS-Kriegsverbrecherprozess ist auf 35 Verhandlungstage bis Mai 2010 angesetzt. Weitere Termine können nach Bedarf anberaumt werden. Ob John Demjanjuk zur Anklage Stellung nehmen wird, ist völlig unklar. Für viele der Opfer und Hinterbliebenen wäre es sicherlich schon ein kleiner Trost, wenn er seine Gräueltaten eingestehen würde.

Demjanjuk wird vorgeworfen, an der Ermordung von 27.900 Menschen im Vernichtungslager Sobibór beteiligt gewesen zu sein. Die Anklage bezieht sich dabei auf 15 Transportzüge, die Juden vom niederländischen Lager Westerbork nach Sobibór transportierten. Dort wurden fast alle direkt in die Gaskammer geschickt. Das Prozedere wurde von Misshandlungen begleitet und gerade Wachmänner wie Demjanjuk hatten die Aufgabe, die Menschen zu äußerster Eile anzutreiben und ihnen Angst einzujagen, um jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken.

Iwan Nikolai Demjanjuk, so lautet sein Geburtsname, kam am 20. März 1920 in der Ukraine zur Welt. Am 15. September 1940 wurde er von der Roten Armee eingezogen, und geriet im Mai 1942 in deutsche Gefangenschaft. Um nicht zu verhungern und die Qualen im Kriegsgefangenenlager ertragen zu müssen, entschied er sich für eine militärische Ausbildung im Ausbildungslager Trawniki für die "Fremdvölkischen Wachmannschaften". Er war für die deutschen SS- und Polizeitruppen an verschiedenen Dienstorten tätig. Im März 1943 wurde er in das Vernichtungslager Sobibór abkommandiert. Dort hätten er und die anderen Täter in "gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung" gehandelt, lautet die Anklage. Er wird beschuldigt "aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch sowie grausam" Menschen getötet zu haben. Für die Beihilfe zum Mord könnte er eine Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jahren erhalten.


 

Bettina Scriba ist freie Journalistin aus München und beobachtet für evangelisch.de den Demjanjuk-Prozess.