Die folgende Szene spielt in Berlin-Mitte, aber man könnte sie gegenwärtig praktisch von jeder großen Universität, von Hamburg bis Heidelberg, von Münster bis Leipzig erzählen: Auf dem harten Kunststoffboden des Auditorium maximum, des größten Hörsaals der Humboldt-Universität zu Berlin, kampieren nun seit über einer Woche Nacht für Nacht rund zwanzig Studierende in Schafsäcken, mal mehr, mal weniger. Und abend für abend treffen sich weit mehr als nur zwanzig Studierende zu einem "Plenum", um gemeinsam darüber zu diskutieren, ob es Sinn macht, die Besetzung weiterzuführen und was an der Universität zu ändern ist.
Berechtigte Kritik an verpatzten Reformen
Ende vergangener Woche prallten die Positionen wieder hart aufeinander und man stritt Stunden: Da sind zum einen die Praktiker, Studierende aus den vor einigen Semestern eingeführten beiden Bologna-Studiengängen Bachelor und Master, die unzufrieden sind über die Patzereien, die teilweise (durchaus nicht überall) bei der größten Umstellung an den deutschen Universitäten passiert sind: Studiengänge mit viel zu wenig Lehrpersonal, viel zu großen Lehrveranstaltungen, viel zu vielen Prüfungen, aber auch mit viel zu viel Lerninhalten, die nicht entschlossen genug entrümpelt wurden. Diesen Studierenden im Auditorium maximum, die gleichsam die "Versuchskaninchen" der Reform waren und sind, fehlt eine wirklich entschlossene Reform der Bologna-Reform, eine zweite Stufe, und sie befürchten, von ihren Professoren nur hingehalten zu werden.
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Dann schlafen im Auditorium maximum zum anderen aber auch die, die schon lange mit der bundesrepublikanischen Gesellschaft und ihrem Bildungssystem unzufrieden sind. Sie wollen freie, kostenlose Bildung für alle, die Abschaffung von Instrumenten der Leistungskontrolle wie Anwesenheitslisten in Seminaren (die man allerdings für das BAföG-Amt braucht, falls man durch eine Prüfung gefallen ist), einige wollen sogar die Abschaffung des ganzen Bologna-Systems und ganz neue Universitätsverfassungen, um den Einfluß der Professorinnen und Professoren auf die Universitäten zurückzudrängen. Noch ist der Protest diffus, man kampiert und diskutiert (glücklicherweise auch mit den Universitätsleitungen und in den akademischen Senaten), aber das kann sich natürlich schnell ändern.
Auf keinen Fall zurück zum alten System
Wenn mich die Studierenden in unserem Auditorium maximum fragen, was ich über den Protest denke, dann sage ich: Vollkommen berechtigt ist die Kritik an den gepatzerten Bologna-Studiengängen. Die gehören schleunigst reformiert. Insgesamt gehören die Studiengänge im Blick auf den Stoff entschlackt, die Zahl der Prüfungen muss reduziert und die Menge des Lehrpersonals nachhaltig gesteigert werden. Und das muss zügig geschehen, denn eine gute Universität darf sich in diesem Bereich keine handwerklichen Fehler leisten. Zurück zum alten System sollte man aber in keinem Fall.
Vor der Einführung des Bologna-Prozesses brach an Deutschlands Universitäten - leider auch an der Humboldt-Universität - rund die Hälfte derer, die das Studium begonnen hatten, dasselbe vor dem Examen einfach ab, weil sie sich in der großen Freiheit nicht orientieren konnten. Ein Universitätsstudium in England und in Deutschland war weitgehend inkompatibel. Und niemand fragte mehr, ob berufsbildende Studiengänge wie Jura, Medizin oder Theologie wirklich auf Berufe der Gegenwart vorbereiteten oder nur auf die Bilder, die die Professoren von diesen Berufen hatten.
Beharrlichkeit und Entschlossenheit statt Aktionismus
Deutsche Universitätsreformen tendieren zu Extremen. Das galt für die Reformen, die nach 1968 eingeleitet wurden, ebenso wie für die Bologna-Reform. Übereifrige Menschen haben die gesetzlichen Reglungen so umgesetzt, daß vielfach Bedarf für eine Reform der Reform besteht. Aber nun darf man bloß nicht wieder in ein Extrem verfallen und den ganzen Reformprozeß stoppen. Dazu gab es viel zu viel Reformbedarf. Und genauso, wie deutsche Universitätsreformen zu Extremen tendieren, tendiert auch der öffentliche Diskurs zu Extremen. Im Jubiläumsjahr der Humboldtschen Universität in Berlin mehren sich wieder die Kassandra-Rufe: "Humboldt ist tot". Ja, gewiß. Schon ziemlich lange. Aber seine Universität ist in den vergangenen zweihundert Jahren auch immer wieder verändert und reformiert worden, war auch schon vor Bologna längst nicht mehr die Universität, die der große Bildungsreformer 1810 intendierte.
Und das Problem, wie wir angesichts der perniziösen, verhängnisvollen Spezialisierung in allen Disziplinen die Allgemeinbildung retten, bestand längst vor der Einführung der Bologna-Studiengänge. Einige der Ideale Wilhelm von Humboldts – wie sein Eintreten für eine allumfassende, wahrhaft allgemeine Bildung – sind bis heute für eine gute Universität bedeutsam. Man pflegt sie nicht durch hektischen Aktionismus oder dramatische Weltuntergangsrufe, sondern durch beharrliche, sorgfältige und entschlossene Arbeit an der Qualität von Lehre und Forschung. Dienen die Studierendenproteste dieser Tage jenem Zweck, haben sie sich in jedem Fall gelohnt.
Der Autor, Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies, ist Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin und Professor für Ältere Kirchengeschichte. Er ist studierter evangelischer Theologe und ordinierter Pfarrer.
Zur Bildungsproblematik hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein Votum des Hochschulbeirats herausgegeben.