Für sie sei der Bummel durch ein Modegeschäft so, als ob ein Alkoholiker in einer Kneipe stünde, sagt Anja B. (Name geändert): "Das ist, als ob der ein Bier vor sich stehen hat und es nicht trinken darf", sagt die 42-Jährige. Anja B. ist nicht alkoholkrank, aber ebenfalls süchtig. Die Hausfrau aus der Nähe von Gießen leidet unter Kaufsucht.
Schätzungen zufolge sind 800.000 Menschen in Deutschland kaufsüchtig. Astrid Müller, Oberärztin in der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen, geht davon aus, dass zwischen sechs und acht Prozent der Bevölkerung in Deutschland stark kaufsuchtgefährdet ist - Tendenz steigend.
Männer und Frauen sind gleich gefährdet
Für Kaufsucht gebe es verschiedene Auslöser: Trauer, Depressionen, Ängste, körperliche Erkrankungen, Verlusterlebnisse oder Langeweile. "Außerdem spielt die zunehmende Konsumorientierung in unserer Gesellschaft eine große Rolle", urteilt Müller. Kaufsucht gebe es in allen Einkommens- und Altersgruppen, Männer und Frauen seien in etwa gleich gefährdet.
Bei Anja B. begann die Krankheit vor rund 18 Jahren, als die Beziehung zu ihrem damaligen Partner in die Brüche ging. "Das hat mein Selbstwertgefühl dermaßen in den Keller getrieben, dass ich daran zerbrochen bin", sagt sie, und in ihrer Stimme klingt noch immer Verletzung mit.
Verheimlichen führt zu neuem Druck
Mehrere Versuche, einen neuen Partner zu finden, scheiterten. "Damals wollte ich ein perfektes Bild abgeben, von dem ich glaubte: Das mögen die Leute", erinnert sie sich. Vor allem Kleidung kaufte sie immer öfter, von der Bluse bis zu Dessous. "Bis zu 3.000 Euro habe ich im Monat dafür ausgegeben."
Sie kaufte immer weiter - obwohl ihre Schränke bereits überquollen und der Schuldenberg stetig wuchs. Ihre Eltern sprangen zwischenzeitlich für ihre Tochter ein. Die Gesamtsumme ihrer Schulden liege im sechsstelligen Bereich, sagt Anja B..
Sie versuchte, ihren Kaufzwang zu verheimlichen, doch das verstärkte nur den psychischen Druck. Schnell folgten auf den Kick des Kaufes starke Reuegefühle. "Oft landeten die Einkäufe hinten im Schrank, so dass sie niemand sah", erzählt sie.
Depressionen und Angstzustände nahmen zu. Es kam zu Klinikaufenthalten, wo die Kaufsucht aber nicht therapiert wurde. Erst seitdem sie in ergotherapeutischer Behandlung ist, hat sie ihre Kaufattacken besser unter Kontrolle.
Zur kaufsucht kommen oft andere psychische Störungen
"Häufig sind es erst die Schulden oder der finanzielle Ruin, der die Betroffenen dazu bringt, sich professionelle Unterstützung zu holen", weiß Oberärztin Müller. Die Medizinerin hat nach eigenen Angaben die europaweit erste Studie zur Therapie von pathologischem Kaufverhalten geleitet. Dabei handelte es sich um wöchentliche ambulante Gruppentherapien, in denen mit verschiedenen verhaltenstherapeutischen Techniken gearbeitet wurde. "Die Behandlung führte bei den meisten Patienten zu einer Reduktion der Kaufattacken", berichtet Müller. Bei knapp der Hälfte der 60 Teilnehmer habe sich das Kaufverhalten normalisiert.
Ob Kaufsucht tatsächlich eine echte Sucht ist oder wie etwa Pyromanie zu den sogenannten Impulskontrollstörungen zählt, darüber streiten die Experten noch. Häufig trifft das zwanghafte Kaufen mit anderen psychischen Störungen zusammen.
Freunde und Verwandte können helfen
Behandelt werden kann die Kaufsucht nach Angaben der gesetzlichen Krankenversicherungen im Rahmen der ambulanten Psychotherapie. Die Kosten tragen die Kassen. Da es bislang nur wenige spezielle Therapiezentren für Kaufsucht gebe, sollten sich Betroffene zunächst an einen Psychotherapeuten in ihrer Nähe wenden, rät Ärztin Müller.
Doch auch Freunde und Verwandte können Kaufsüchtigen helfen - "indem sie ihnen zuhören und sie ernst nehmen", weiß Anja B.. Der Hilfegedanke steht auch am Anfang ihrer kürzlich gegründeten Selbsthilfegruppe für Kaufsüchtige in Siegen. Das Ziel der Teilnehmer: "Einen Ort zu finden, an dem Kaufsüchtige sich verstanden fühlen", sagt Anja B..