Anatom des Auschwitz-Traumas: Imre Kertész wird 80

Anatom des Auschwitz-Traumas: Imre Kertész wird 80
Der ungarische Schriftsteller Imre Kertész wird an diesem 9. November 80 Jahre alt. In seinen Büchern griff der Auschwitz-Überlebende auch das Trauma der Judenvernichtung auf. Sein Geburtstag fällt nicht nur zusammen mit dem Jubiläum des Mauerfalls, sondern auch mit der "Reichspogromnacht" in der Nacht des 9. November 1938, die den Beginn der ersten großen Verhaftungswelle gegen Juden durch das Nazi-Regime markierte. Porträt eines Schriftstellers, der selbst ein Opfer der totalitären Katastrophen Europas geworden ist.
09.11.2009
Von Gregor Mayer

"Auch wenn ich von etwas ganz anderem spreche, spreche ich von Auschwitz. Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz, Auschwitz spricht aus mir", notierte Imre Kertész in seinem "Galeerentagebuch". Der 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete ungarische Schriftsteller überlebte als Jugendlicher das nationalsozialistische Vernichtungslager. Die existenziellen Erfahrungen des Überlebenden ließ er in eine Prosa einfließen, die nicht auf Betroffenheit abzielt, sondern - wie in einer Vivisektion - die unterschiedlichen Traumatisierungen seiner Erzählfiguren sichtbar macht.

Kertész, der am 9. November 1929 geboren wurde, wuchs in einer Budapester jüdischen Familie auf. 1944 wurde er nach Auschwitz und Buchenwald deportiert und bei Kriegsende aus dem KZ befreit. In den Jahrzehnten, die folgten, schlug er sich als Redakteur, Autor von Unterhaltungsstücken fürs Theater und Übersetzer der Werke von Nietzsche und Wittgenstein durch. Doch die Erfahrungen der Schoah ließen ihn nicht mehr los. Von 1960 bis 1973 arbeitete er unentwegt und besessen an seinem Hauptwerk, dem "Roman eines Schicksallosen".

Versuch der Aufarbeitung eines Tabus

Das Opus Magnum zeichnet den Lebensweg eines 15-Jährigen durch die deutschen KZ nach. So sehr hat dieser die "Ordnung" des Lagers verinnerlicht, dass er sogar "Glück" zu empfinden vermag. "Mit diesem Roman habe ich kein Anliegen an die Gesellschaft gestellt, sondern geschildert, wie der Holocaust erlebt wurde", erklärte Kertész 2005 in einem dpa-Interview. Der Roman sei so aufgebaut, dass "am Ende nicht der Junge sein Leid beklagt, sondern der Leser diese Last zu tragen hat."

In Ungarn rührte die Thematisierung der Ausrottung von fast 600.000 ungarischen Juden an ein Tabu. Ihre Verschleppung in die deutschen Vernichtungslager hatte Hitler-Deutschland angeordnet, vollstreckt wurde sie von den willfährigen ungarischen Behörden. Im nachfolgenden Kommunismus war wiederum eine offene Vergangenheitsdiskussion nicht möglich. So kam es, dass Kertész erst 1996, als der "Roman eines Schicksallosen" in einer autorisierten deutschen Übersetzung erschien, auf internationale Beachtung stieß - und damit für Furore sorgte.

Streitbar für ein deutlicher erklärtes Europa

Die nachfolgenden Romane "Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind" (deutsch 1992), "Fiasko" (deutsch 1999) und "Liquidation" (deutsch 2003) verknüpfen sich mit dem "Roman" zur "Tetralogie der Schicksallosigkeit". Obgleich Kertész' erzählerische Prosa sich immer wieder von Auschwitz herschreibt und fortschreibt, ist das Ergebnis alles andere als monotone Betroffenheitsliteratur. Im "Galeerentagebuch" (deutsch 1993), den Aufzeichnungen aus den Jahren 1961 bis 1991, spürt der Autor den Fragen nach Determiniertheit und Freiheit des Individuums unter der kommunistischen Herrschaft nach.

In seinen Essays setzt sich Kertész streitbar für ein Europa ein, das seine totalitären Katastrophen - Nazismus und Kommunismus - überwunden hat, aber seine eigenen Werte "deutlicher erklären" müsste. Über seine Heimat Ungarn, in der neuerdings ein hässlicher Nationalismus sein Haupt erhebt, ist er weniger glücklich. Eine echte Aufarbeitung des ungarischen Holocausts blieb auch nach der Wende aus. "Sich der Vergangenheit zu stellen, ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch ein befreiendes Erlebnis", erklärte Kertész in diesem Frühjahr bei einem Podiumsgespräch in Budapest. "In Ungarn verzichtet man auf dieses Erlebnis."

Letztes Buch über die Unvermeidlichkeit des Todes

Seit einigen Jahren leidet der vor allem in Berlin lebende Schriftsteller an der Parkinson-Krankheit. "Ich schreibe mein letztes Buch über die Tatsache, dass man akzeptieren muss, dass man stirbt", sagte er im Mai dieses Jahres der französischen Wochenzeitung "Le Nouvel Observateur". Ein erster Teil dieses Werkes mit dem ungarischen Titel "A vegsö kocsma" (Die letzte Kneipe) soll zu seinem 80. Geburtstag in einer Sonderausgabe der ungarisch-jüdischen Wochenzeitschrift "Mult es jövö" (Vergangenheit und Zukunft) erscheinen.

Nach dem, was bisher bekannt wurde, monologisiert darin ein Ich-Erzähler namens Sonderberg über das nahende Sterben, "unsere letzte Aufgabe noch im Leben". "Die Frage ist nicht, wer wir sind", schrieb die Philosophin Agnes Heller, die die ersten Seiten des Manuskripts las, "sondern ob es egal ist, was wir hinterlassen. Sonderberg sagt (zu sich selbst), dass es nicht egal ist." Der Tod, meint Sonderberg und mit ihm Kertész, ist "das letzte, was wir besitzen".

dpa/han