Kruzifix-Urteil ist kulturfremd und geschichtsvergessen

Kruzifix-Urteil ist kulturfremd und geschichtsvergessen
Sollten nach dem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes Kruzifixe aus öffentlichen Schulen verbannt werden, dürfte dies den Zulauf zu evangelischen Schulen weiter stärken. Zu deren Merkmalen gehört, dass nicht nur Unterrichtsinhalte, sondern die gesamte Schulkultur christlich geprägt ist.
05.11.2009
Von Jürgen Frank

In einem Grundsatzurteil hat sich der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg gegen Kruzifixe in Klassenzimmern öffentlicher Schulen gewandt. Dieses am Dienstag veröffentlichte, gegen Italien gerichtete Urteil ist für Schulen in freier Trägerschaft auf den ersten Blick ohne Bedeutung. Denn gerade die Verwurzelung in der kulturgestaltenden Kraft der christlichen Tradition macht evangelische Schulen für Eltern und Schüler attraktiv. Entsprechend lang sind die Wartelisten, und entsprechend hoch ist die Zahl von Schulgründungen vor allem in atheistischen und entchristlichten Kontexten, also gerade dort, wo ein "säkularer Unterricht" – wie von der klagenden Italienerin – erteilt wird.

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In den vergangenen zehn Jahren wurden auf dem Gebiet der ehemaligen DDR über 200 evangelische Schulen gegründet. Es ist absehbar, dass die Nachfrage nach Plätzen in evangelischen Schulen steigen wird, falls das Erbe des christlichen Abendlandes mit seinen markanten Symbolen geschichtsvergessen und kulturfremd aus öffentlichen Schulen verbannt werden soll. Insofern mag dieses Urteil auf den zweiten Blick relevant werden für evangelische Schulen.

Schulkultur christlich geprägt

Zu den Merkmalen evangelischer und auch katholischer Schulen gehört, dass ihre christliche Prägung nicht nur in den Unterrichtsinhalten, sondern auch in der Schulkultur insgesamt erkennbar wird. Dem ganzheitlichen Bildungsideal evangelischer Schulen entspricht das Lernen mit allen Sinnen. Die Begegnung und die lernende Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition schließt die sinnliche Wahrnehmung christlicher Symbole ein, und zwar in der ganzen Breite künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten. Darstellungen des Kreuzes – und nicht nur in speziellen Andachtsräumen - gehören dazu.

Die Straßburger Richter verwiesen bei ihrem Urteil auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Kreuze verletzten das Recht von Eltern, ihre Kinder gemäß ihren eigenen Überzeugungen zu erziehen. Auf atheistische oder andersgläubige Schüler könnte das Kruzifix zudem verstörend wirken. Damit urteilten die Richter auf der Linie einer "negativen Religionsfreiheit", die 1995 das Bundesverfassungsgericht in seinem umstrittenen Kruzifix-Urteil vorgezeichnet hatte. Dieser "negativen Religionsfreiheit", die vor Störungen oder gar Verstörungen durch die Religionsausübung anderer schützen will, steht die Freiheit jener gegenüber, die auch im öffentlichen Raum ihrer Religiosität einen Ausdruck geben wollen.

Widerspruchslösung in Bayern

In Deutschland hat der bayerische Landesgesetzgeber mit der so genannten Widerspruchslösung einen Weg aufgezeigt, wie in Einzelfällen ein schonender Ausgleich zwischen den widerstreitenden Rechtspositionen gefunden werden kann. Zwar darf man nicht durch Glaubenssymbole anderer beeinträchtigt werden, doch sind Kreuz und Kruzifix Kultursymbole und Glaubenszeichen, die zum gelebten Glauben und damit zur positiven Religionsfreiheit gehören. Aus meiner Sicht trifft der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Hans Langendörfer, den zentralen Punkt, dass "Religionsfreiheit nicht Frei-sein von Religion bedeutet und die negative Religionsfreiheit nicht zu einem allgemeinen Religionsverhinderungsrecht mutieren darf".

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Man darf gespannt sein, ob auf der Basis des Straßburger Urteils in Deutschland die Debatte um die Rolle der Religion im öffentlichen Raum und vor allem in den Schulen wieder aufleben wird. Das Kopftuchurteil ebenso wie das Kruzifixurteil und in gewisser Hinsicht auch die Debatte um den konfessionellen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen und das Plädoyer für seinen Ersatz durch einen für alle verbindlichen Ethikunterricht sind symptomatisch. Sie sind Indizien dafür, das unter sich wandelnden gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen ein Konsens immer wieder neu hergestellt werden muss.

"Ideologisierter Gerichtshof"

Die italienische Bildungsministerin Mariastella Gelmini positionierte sich eindeutig: "Es wird niemandem gelingen, unsere Identität zu löschen, auch einem ideologisierten Gerichtshof nicht." Auch in Deutschland ist gegenwärtig nicht erkennbar, dass der sich weitende europäische Horizont mehrheitlich zu einem Verlust an Traditionsbewusstsein und Geschichtstiefe geführt hat.


 

Oberkirchenrat Jürgen Frank ist Leiter der Abteilung "Bildung" im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Vorsitzender der EKD-Schulstiftung.