Um 10.40 Uhr wurde die gefühlte Mehrheit bei der Synodentagung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Ulm zur mathematischen: Im ersten Durchgang zur Ratswahl bekam die hannoversche Landesbischof Margot Käßmann 103 von 145 abgegebenen Stimmen, weit mehr als jeder andere der 21 Kandidaten. Der Weg zur ersten Frau an der Spitze der EKD scheint frei. Denn dass der Ratsbewerber, der bei der ersten Abstimmungsrunde die meisten Stimmen auf sich vereint, auch am Folgetag den Vorsitz zugesprochen bekommt, ist fast schon Tradition in der EKD.
Gaben sich die seit Sonntag im Ulm versammelten Synodalen auf den Gängen mehrheitlich überzeugt, dass die 51-jährige Käßmann zur Nachfolgerin Wolfgang Hubers gewählt wird, war die Favoritin auf das Amt vor der Abstimmung noch sichtlich nervös. Immerhin hatte das Kirchenparlament in der Vergangenheit schon mehrfach favorisierte Kandidaten scheinbar grundlos durchfallen lassen. Käßmann selbst war 2003 in Trier erst im dritten Wahlgang auf die nötige Zwei-Drittel-Merheit gekommen, um in den Rat einzuziehen. Beim Ratsvorsitz musste sie damals noch dem Berliner Bischof Huber den Vortritt lassen, der mit 67 Jahren nun nicht mehr für als Spitzenrepräsentant der rund 25 Millionen Protestanten in Deutschland zur Verfügung steht.
Freudenträne aus dem Auge gewischt
Bei der Verkündung des Wahlergebnisses in Ulm war die Spannung im Saal förmlich zu spüren: Schon Minuten vorher scharten sich Kamerateams und Fotografen um die zierliche Bischöfin, die seit zehn Jahren der größten deutschen Landeskirche mit rund drei Millionen Mitgliedern vorsteht. Bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses legte Elke König vor dem Namen Käßmann noch einmal eine Spannungspause ein, bevor sie schließlich die überaus deutliche Mehrheit verkündete. Schnell wischte sich Käßmann eine Freudenträne aus dem Auge, bevor ihr Ratsmitglied und ZDF-Moderator Peter Hahne als erster um den Hals fiel. Die Synodalen gaben ihre protestantische Zurückhaltung auf, spendeten Käßmann stehend kräftigen wie langen Applaus.
Schon bei der Kandidatenvorstellung am Sonntagabend hatte der Applaus-Vergleich einen klaren Fingerzeig darauf gegeben, dass Käßmann die größten Sympathien im Kirchenparlament auf sich vereint. Während die übrigen Bewerber gerade mal im Schnitt zehn Sekunden lang Beifall gespendet bekamen, wurde Käßmanns fünfminütige Vorstellung mit satten 20 Sekunden bedacht. Überzeugend hatte die gebürtige Nordhessin, ehemalige Generalsekretärin des Kirchentags und in der internationalen Ökumene profiliert, ihre eigenen Glaubensüberzeugungen dargelegt. Die Dankbarkeit für ihre vier inzwischen erwachsenen Töchter brachte sie ebenso zum Ausdruck wie ihr Eingeständnis über das Scheitern ihrer Ehe, was ihr in konservativen Kirchenkreisen oft als Makel angelastet wurde.
Offener Umgang mit Privatleben
Schon in der sechsjährigen Amtszeit Hubers war Käßmann in der öffentlichen Wahrnehmung das zweite Gesicht des deutschen Protestantismus - auch weil sie mir ihrem Privatleben so offen umgeht und theologische Klarheit mit Zugewandtheit zu den Menschen zu verbinden versteht. Fällt ihr nun erwartungsgemäß auch der Ratsvorsitz zu, hat die EKD eine weibliche Doppelspitze: Seit Mai steht die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt der Synode als Präses vor, und sie hat bereits deutlich werden lassen, dass sie das Kirchenparlament gegenüber dem unter Huber oft übermächtig wirkenden Rat stärken will. Der Führungswechsel in der EKD könnte den deutschen Protestantismus deutlich verändern.