Hartz IV: Gericht entscheidet erstmals über Existenzminimum

Hartz IV: Gericht entscheidet erstmals über Existenzminimum
Im Verfahren um die Hartz-IV-Sätze für etwa 1,7 Millionen Kinder will das Bundesverfassungsgericht erstmals über Inhalt und Grenzen eines menschenwürdigen Existenzminimums entscheiden.

Die Hartz-IV-Leistungen für etwa 1,7 Millionen Kinder müssen möglicherweise grundlegend neu berechnet werden. In einer Anhörung ließ das Bundesverfassungsgericht am Dienstag deutliche Zweifel daran erkennen, ob die bisher geltenden Sätze von bis zu 251 Euro den tatsächlichen Bedarf von Kindern unter 14 Jahren abdecken. In dem Verfahren will das Bundesverfassungsgericht erstmals über Inhalt und Grenzen eines "Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum" entscheiden, kündigte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier. Mit einem Urteil ist erst in einigen Monaten zu rechnen. Bisher sei in der Rechtsprechung des Gerichts weder der sachliche Gehalt des aus Menschenwürdegarantie und Sozialstaatsprinzip hergeleiteten Existenzminimums geklärt, noch dessen Konsequenzen für den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, sagte Papier.

Nahezu der komplette Erste Senat ließ deutliche Zweifel an der Berechnung der 2005 eingeführten Hartz-IV-Leistungen erkennen. Leicht ironisch sprach Papier von einer "punktgerechten Landung", die der Gesetzgeber damals beim - politisch gewollten - Betrag von 345 Euro geschafft habe: "Sind die Zahlen wirklich valide, oder hat man die gegriffen, um auf 345 Euro zu kommen?", fragte Papier an die Adresse der Bundesregierung.

Das Gericht prüft, ob die Leistungen für Kinder deren tatsächlichen Bedarf abdecken. Weil die Sätze lediglich durch einen pauschalen Abschlag auf die Hartz-IV-Beträge für Erwachsene festgelegt worden sind, halten das Bundessozialgericht und das Hessische Sozialgericht die Regeln für verfassungswidrig. Sie haben dem Karlsruher Gericht die Klagen von drei Familien aus Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen vorgelegt. Die Kläger halten die Sätze von heute 215 Euro für Kinder unter 6 Jahren (60 Prozent des Regelsatzes) und 251 Euro für Kinder unter 14 Jahren (70 Prozent) für zu niedrig. Ein Urteil wird erst in einigen Monaten erwartet.

Kredit für den Bücherkauf

"Wir stellen fest, es langt nicht", sagte Rechtsanwalt Lutz Schaefer, Bevollmächtigter des Klägers Thomas K. aus Hessen. Thomas K. selbst sagte in der Verhandlung, mit seiner dreiköpfigen Familie habe er insgesamt 700 Euro zum Leben. Davon jeden Monat etwas anzusparen für längerfristige Anschaffungen, wie von der Bundesregierung erwartet werde, sei nicht möglich. Um seiner Tochter zusätzliche Bücher für die Schule zu kaufen, hat K. nach eigenen Angaben einen Kredit aufnehmen müssen.

Die Skepsis der Karlsruher Richter reicht womöglich noch weiter. Viele ihrer Fragen richteten sich darauf, ob bereits der Regelsatz für Erwachsene - anfangs 345, heute 359 Euro - überhaupt richtig ermittelt worden sei. Grundlage dafür ist die sogenannte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), mit der das Verbraucherverhalten der unteren 20 Prozent in der Einkommensskala erfasst werden.

Zur Berechnung von Hartz IV werden auf bestimmte Posten Abschläge gemacht, zum Beispiel bei der Kleidung - weil in den erhobenen EVS-Zahlen laut Gesetzgeber auch Ausgaben für Maßkleidung und Pelze enthalten seien. Verfassungsrichter Michael Eichberger zog diese Abschläge in Zweifel: Es sei doch sehr fraglich, ob beim ärmeren Fünftel der Bevölkerung für Maßkleidung überhaupt Geld ausgegeben werde.

Ausgaben für Grundsicherung bei 40 Milliarden Euro

Die Bundesregierung verteidigte die geltenden Regeln. Die Höhe der Leistungen sei auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Methoden festgesetzt worden, sagte Sozial-Staatssekretär Detlef Scheele. Das bis 1989 geltende Warenkorbsystem habe immer wieder zu Diskussionen geführt, welche Gegenstände als existenzsichernd zu berücksichtigen seien. Das Statistikmodell der EVS orientiere sich dagegen am Verbrauchsniveau einer vergleichbaren Gruppe. Letztlich sei es ohnehin eine "normative Wertentscheidung, welcher Bedarf hilfebedürftigen Menschen zugebilligt wird". Die Gesamtausgaben aus der "Grundsicherung für Arbeitssuchende" an 7,3 Millionen Hartz-IV-Empfänger betrugen 2006 rund 40,5 Milliarden Euro.

Scheele räumte allerdings eine anfängliche Schieflage des Systems ein: Von 2005 an erhielten alle Kinder unter 14 Jahren 60 Prozent des Regelsatzes. Weil aber der Verbrauch der 6- bis 14-Jährigen höher sei, habe man den Satz kürzlich auf 70 Prozent angehoben.

Die Länder dagegen sehen bei den bisherigen Regelungen Entscheidungs- und Handlungsbedarf. Es müssten neue Berechnungswege für die Regelsätze gesucht werden, sagte Gertrud Janzer-Bertzbach von der Sozialverwaltung in Bremen.

dpa/epd