Die Stimmung im Münchner Konzertsaal am Gasteig war am Donnerstagabend gespannt, ja aufgeheizt. Auf dem Programm zur Saisoneröffnung 2009/2010 stand Anton Bruckners 9. Symphonie mit den Münchner Philharmonikern unter Generalmusikdirektor Christian Thielemann. Das Orchester hat bereits Platz genommen, nur der Konzertmeister fehlt noch. Und als er zu seinem Notenpult schreitet, entlädt sich die Spannung im Saal. Ein in dieser Form noch nie dagewesenes Buhkonzert ergießt sich über das Orchester, bevor noch die Instrumente gestimmt sind. Schreie gellen durch den Saal, eine aufgebrachte Frau gestikuliert heftig. Das Orchester verharrt regungslos, wartet ab.
Auch während des Stimmens der Instrumente reißen die Buhrufe nicht ab. Doch dann bricht donnernder Applaus los, als Thielemann forsch zum Pult stürmt. Er hat das Publikum auf seiner Seite, nur einige zaghafte Buhrufe dringen durch den frenetischen Applaus. Das Hin und Her um seine Vertragsverlängerung bei den Philharmonikern und seine prompte Entscheidung, München Richtung Dresden zu verlassen, ist der Gesprächsstoff im Foyer vor dem Konzert.
"München sinkt ab"
"Wir weinen", sagt das Ehepaar Partenhauser. Was da passiert ist, sei ungeheuerlich. "Wir überlegen ernsthaft, unser seit 25 Jahren bestehendes Abonnement zu kündigen", erklärt Rudolf Partenhauser. "Eine Katastrophe, München sollte sich schämen, einen so begnadeten Dirigenten gehen zu lassen", ereifert sich Gela Baude, auch sie eine treue Abohalterin. "München sinkt ab", so ihr Kommentar um die wochenlangen Querelen um Thielemanns gescheiterte Vertragsverlängerung in der bayerischen Landeshauptstadt.
Kein Blatt vor den Mund nimmt auch der langjährige CSU-Kulturstadtrat Franz Forchheimer: "Ich bin erschüttert über den Stadtrat, dass so etwas passiert ist." Die Philharmoniker würden es schwer haben, einen Chef von einem Format Thielemanns zu finden. Aus Forchheimer Sicht, der bei den Berufungen von Sergiu Celibidache und James Levine als Thielemanns Vorgänger aktiv beteiligt war, hat im Fall Thielemann der Stadtrat kläglich versagt. Die Stimmung unter den Münchner Musikliebhabern scheint hier eindeutig pro Thielemann zu sein.
Bruckner mit verhaltener Monumentalität
Und dann hebt der Maestro seinen Taktstock, das Publikum verstummt, einige Sekunden Stille. Mit höchster Konzentration erklingen die ersten Töne von Bruckners letzter Symphonie in der Originalfassung von 1894. Thielemann dirigiert auswendig, entwickelt das Hauptthema über die berühmten Terz- und Quintspannungen dieser Sinfonik zu verhaltener Monumentalität und setzt dazu die Gesanglichkeit des Satzes in extremen Kontrast. Das Orchester folgt seinem Chef mit grandioser Tonführung, reagiert selbst auf kleine Fingerspiele seines Dirigenten prompt. Im zweiten Satz wird das hämmernde Scherzo zu einer glänzenden Demonstration, wie perfekt Dirigent und Orchester den berühmten Bruckner-Klang aufbauen und zu einer fast tänzerisch leichten Kantilene wandeln können.
Der dritte Satz klingt fast wie ein Vermächtnis. "Abschied vom Leben" hat ihn Bruckner genannt. Mit seiner choralhaften Chromatik, die sich bis in Sphärenklänge verliert, scheint Thielemann den Münchnern noch einmal zu demonstrieren, was fehlen wird, wenn er nicht mehr am Pult stehen wird. Nach dem letzten Ton hält er die Spannung noch gut 30 Sekunden, Stille im großen Konzertsaal, und dann bricht Jubel aus. Und Thielemann geht zu seinem Konzertmeister und umarmt ihn heftig und innig. Eine große Geste und ein demonstratives Zeichen der Versöhnung mit seinem Orchester, über das er in den letzten Wochen auch manch herbes Wort verloren hatte. München wird Christian Thielemann vermissen.