Dan Brown gehört zu den erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Seine Verschwörungsbücher "Sakrileg" oder "Illuminati" haben sich millionenfach verkauft - und haben heftige Kritik hervorgerufen. Vor allem die katholische Kirche hat gegen Browns Werke protestiert. Mehrere Kardinäle kritisierten unter anderem, dass Brown in seinem Roman "Illuminati" abstruse Thesen über eine Liebesbeziehung von Jesus und Maria Magdalena aufstelle und die Kirche verunglimpfe.
Was die Kirche ärgert ist, dass die Werke Dan Browns bei vielen Lesern nicht als Romane rezipiert werden, sondern - fälschlicherweise - als Tatsachenromane. Sie sind keine reinen Thriller, sondern Erbauungsbücher die bei vielen Lesern eine Art Ersatzreligion sind. Dass dies so ist, hängt vielleicht damit zusammen, dass Kirche in weiten Teilen der Gesellschaft an Bedeutung verloren hat. Gleichzeitig suchen die Menschen nach Ersatz, und finden sie im Verschwörungsglauben. So jedenfalls drückte es der Philosoph Karl Popper in seinem Buch "Vermutungen und Widerlegungen" aus: Die Menschen hätten Gott "abgeschafft" und bräuchten nun etwas, das an seine Stelle trete. Aber: Warum liefert ausgerechnet die Verschwörungstheorie diesen Ersatz?
Hilfe in Krisenzeiten
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Verschwörungstheorien offenbar tatsächlich in der Lage sind, Menschen Halt zu geben. Das zeigt sich schon daran, dass Verschwörungstheorien vor allem in Zeiten gesellschaftlicher Krisen gehäuft auftreten. Um was für eine Krise es sich dabei handelt, spielt offenbar keine Rolle. Es können ökonomische Krisen sein, zum Beispiel eine Hungersnot, eine allgemeine Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit oder auch religiöse Krisen, wie die Entwertung der religiösen Sinnvermittlung zur Zeit der Aufklärung.
Für dieses Auftreten am Rande von Krisen gibt es zwei Gründe. Verschwörungstheorien waren immer ein Mittel, mit dem Mächtige politische Ziele verfolgt haben. Da in Zeiten von Krisen Machtfragen besondere Relevanz haben, werden Verschwörungstheorien vermehrt generiert. Ein Beispiel für eine solche Verschwörungstheorie ist der "Röhm-Putsch" von 1934. Urheber der Verschwörungstheorie war Adolf Hitler. Ernst Röhm war Führer der SA, die bis 1934 mit 3,5 Millionen Mitgliedern zu einem Machtfaktor im Dritten Reich gewachsen war. Unterstützt von Himmler, Goebbels und Göring ließ Hitler Röhm und weitere SA-Führer am 30. Juni 1934 verhaften und töten. Begründet wurden die Morde mit der Verschwörungstheorie, dass eine Gruppe "homosexueller Rabauken" den Putsch des Führers geplant habe.
Ein anderer Grund ist, dass Verschwörungstheorien, Menschen helfen, unbekannte Phänomene oder Traumata zu verarbeiten, indem sie den Menschen auf der Basis ihres bisherigen Wissens das Ereignis – die Katastrophe, die Krise – erklären. Die Verschwörungstheorie gibt den Ereignissen, die als sinnlos empfunden werden, ihren Sinn zurück. Ein Beispiel ist der mittelalterliche Hexenglauben. In den Schriften "Formicarius" (1437) von Johannes Nider (1380-1438) und "Flagellum haeriticorum fascinariorum" (1458) von Nikolaus Jaquier (gest. 1471) wurde die These vertreten, es existiere eine im Verborgenen wirkende satanistische Hexen-Sekte von Männern und Frauen. Sie sei für alles Übel verantwortlich. Philosophische Grundlagen für den Hexenglauben legten Hochscholastiker wie Petrus Lombardus, Albertus Magnus und Thomas von Aquin bereits im 12. und 13. Jahrhundert. Sie lieferten eine umfassende Theorie zum Vertrag zwischen Dämon und Mensch.
Der Hexenglaube diente der Erklärung von Phänomenen, die die Menschen anders nicht deuten konnten. Als irdischen Statthalterinnen des Teufels fiel den Hexen die Verantwortung für alle Krisen und Katastrophen (Hungersnöte, Pest) zu, die nicht mehr ohne Weiteres wie im Mittelalter aus der Perspektive eines göttlichen Heilsplans gedeutet, aber auch noch nicht wissenschaftlich-rational erklärt werden konnten.
Im 20. Jahrhundert schließlich gab es viele Verschwörungstheorien, die sich mit dem Tod Prominenter beschäftigten. Am bekanntesten sind die Theorien über die Ermordung John F. Kennedys und Robert Kennedys. Viele Theorien gibt es auch zum Tod von Marylin Monroe und Martin Luther King. In Europa führten der Mord an dem schwedischen Ministerpräsidenten Olov Palme und der Tod des ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel zu Verschwörungstheorien. Einen weiteren Höhepunkt erlebten sie nach dem Tode von Prinzessin Diana. Der plötzliche Tod eines berühmten Menschen ist prädestiniert dafür, zum Thema einer Verschwörungstheorie zu werden. Ursache ist wohl, dass der Tod eines Prominenten Krisen im Menschen hervorruft, die mit Hilfe der Verschwörungstheorie bewältigt werden.
Vorteil der Vereinfachung
Der große Vorteil der Verschwörungstheorie ist, dass sie Ereignisse auf eine simple Weise erklärt. Der Mensch hat den Wunsch, eine klare und eindeutige Antwort auf eine gegebene Situation zu bekommen. Er braucht eine Struktur, die es ihm ermöglicht, eine Situation einzuschätzen. Die Verschwörungstheorie liefert diese Struktur. Sie beantwortet die Frage nach dem "Warum", die etwa den trauernden Fan umtreibt, die Religion aber nicht so leicht beantworten kann. Dass der Tod eines geliebten Stars Gottes Plan sein soll, ist für einen Menschen schwer nachzuvollziehen. Zumal in einer Gesellschaft, in der Vernunft (Ratio) und Wissenschaftlichkeit höher geschätzt werden als Emotion und Spiritualität, der Logos stärker als der Mythos geschätzt wird; in einer Gesellschaft, in der Menschen ein Stück ihres Urvertrauens, vielleicht auch ihres Gottvertrauens, verloren haben. Wahrscheinlicher ist es, dass ein Geheimdienst alle Fäden in der Hand hält und der Tod so einen höheren Sinn bekommt.
Verschwörungstheorien beziehungsweise Verschwörungstheoretiker appellieren an den Verstand ihrer Rezipienten. Diese werden aufgefordert nachzudenken und zu erforschen, was plausibel und logisch ist, um dann bestimmte Schlüsse zu ziehen. Zugleich entzieht sich die Verschwörungstheorie einem wissenschaftlichen Diskurs und immunisiert sich von vornherein vor gegenteiligen Beweisen. Alles, was die Verschwörungstheorie widerlegt, wird geradezu als ihre Bestätigung aufgefasst. Der Verschwörungstheoretiker behauptet, die Verschwörer hätten jeden Gegenbeweis selbst produziert, also gefälscht. Der Gegenbeweis dient der Darstellung, wie mächtig die sind, die der Verschwörung verdächtigt werden. Jeder Gegenbeweis wird Teil der Verschwörungstheorie selbst. In der Verschwörungstheorie wird jedes lose Ende einer Geschichte mit dem Vorhandensein einer Verschwörung erklärt. In der Verschwörungstheorie bleibt nichts offen, alles macht Sinn.
Dabei sieht der Verschwörungstheoretiker vor dem Hintergrund der Verschwörung sogar Dinge, die andere nicht sehen. Auf dem Video, dass die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy zeigt, ist beispielsweise ein Mann zu sehen, der seinen Regenschirm öffnet. Dieses an sich harmlose Ereignis wird in manchen Verschwörungstheorien als Signal für den Schützen umgedeutet. Die Details, die der Verschwörungstheoretiker findet, können aber nur von ihm gefunden werden und nicht von denen, die nicht an die Verschwörung glauben. Das Detail entspringt der Sehnsucht der Verschwörungstheoretiker, es zu finden.
Die Details wiederum generieren dann die Verschwörung, die auch außerhalb der Zeichen lebendig bleibt. Auf diese Art und Weise baut sich der Verschwörungstheoretiker ein 1000-Teile-Puzzle aus Beweisen für die Verschwörung zusammen. Nimmt man ein Teil heraus, indem man einen angeblichen Beweis widerlegt, bleibt das Bild des Puzzles, die Verschwörung, dennoch sichtbar. Die Beliebigkeit dieser Beweisketten zeigt unter anderem der Fall des 11. Septembers 2001. (11.09.2001). Die Quersumme dieses Datums (11+9+2+0+0+1) sei die 23, die berühmte Zahl der Illuminaten, hieß es in einigen Internetforen. Tatsächlich müsste die Quersumme des Datums aber mit 1+1+9+2+1 berechnet werden. Das ergibt 14 und hat mit Illuminaten nichts zu tun.
Angebliche Logik
Nach Außen präsentiert sich die Verschwörungstheorie also stets als auf Logik und Verstand basierend. Ihren Erfolg verdankt sie aber letztlich der Tatsache, dass sie den Menschen auf einer emotionalen Ebene erreicht. Die Verschwörungstheorie ist zwar nicht unbedingt Ersatzreligion, aber sie ist ein Ersatzmythos. Mit dem Mythos versteht man die Welt, das heißt das Chaotische hat eine Ordnung gefunden und drückt sich in Bildern aus. Mythen dienen der Bewältigung der Angst vor einer übermächtigen Welt und versuchen, die Welt zu erklären. Mythen sind das, was als Fundament einer bestimmten Weltauffassung nicht in Frage gestellt wird. Zudem begegnen uns Mythen in Form von Erzählungen – ganz so wie die Verschwörungstheorie.
Der Mensch ist ein Geschichtenerzähler. Der Philosoph und Psychoanalytiker Paul Ricœr hat die Bedeutung der Erzählung für die Geschichtsschreibung betont. Der große Vorteil der Erzählung sei, dass sie zum Verstehen bestimmter historischer Ereignisse beitrage. Mit Hilfe des Plots, der Handlung der Geschichtserzählung, gelinge es dem Rezipienten, die geschichtliche Bedeutung verschiedener Ereignisse zu erkennen.
In Verschwörungstheorien schlüpft der Verschwörungstheoretiker in die Rolle des Helden der Aufklärung. Er kämpft gegen die Pläne der Verschwörer, indem er ihre Pläne aufdeckt und so vereitelt. Der Held ist der Gute, der für Freiheit und Demokratie kämpft, während die Verschwörer gegen diese Werte verstoßen. Viele Verschwörungstheorien weisen auch Gemeinsamkeiten mit so genannten Metaerzählungen auf. In diesen werden Vergangenheit, Gegenwart und unmittelbare Zukunft in einem einheitlichen Rahmen miteinander in Bezug gesetzt. Auch Verschwörungstheorien stellen derartige totalisierende und vereinheitlichende Erzählungen dar, weil sie große zeitliche Brücken schlagen und historische Ereignisse etwa mit dem Vorhandensein eines Geheimbundes wie den Illuminaten erklären, oder weil sie zeitgleiche Ereignisse miteinander verknüpfen, die zunächst in keiner Verbindung zu stehen scheinen.
Verschwörung im Film
Dass Verschwörungstheorien Erzählungen sind, stellt auch der Kulturwissenschaftler Frederik Jameson fest. Er zeigt, dass das Verschwörungsmotiv in zahlreichen Filmen verwendet wird. Cay Hehner verweist auf die Verwendung des Verschwörungsmotivs in der Literatur. Das Muster dieser Erzählungen ist simpel. Es gibt den Helden – bei nicht-fiktionalen Verschwörungserzählungen sind es die Verschwörungstheoretiker selbst. Er weiß um die Verschwörung, seine Aufgabe ist es, die Verschwörung öffentlich zu machen und die Pläne der Verschwörer zu durchkreuzen. Dabei steckt er in einem Dilemma. Niemand glaubt ihm zunächst. Dieses Motiv erzeugt Spannung. Schafft es der Held, die Verschwörer zu entlarven?
Der Held macht sich nun daran, Beweise für die Verschwörung zu finden, damit ihm geglaubt wird. Dabei muss er sich gegen die übermächtigen Verschwörer durchsetzen, die falsche Informationen verbreiten und sich dem Helden skrupellos in den Weg stellen. Sie repräsentieren das Böse. Der Held stellt sich als David dem Kampf gegen Goliath. Am Ende gelingt es dem Helden die Verschwörung zu beweisen. Gut und Böse sind deutlich voreinander abgetrennt. Auch hier findet sich wieder die Vereinfachung. Graustufen fehlen in Verschwörungstheorien.
Die Rolle der Wissenschaft
Eine große Rolle spielen in Verschwörungstheorien auch Wissenschaften und Wissenschaftler, was wiederum damit zutun hat, dass sie sich auf angebliche Logik berufen. Dass die Hauptperson in den Dan-Brown-Romanen, Robert Langdon, ein Wissenschaftler ist, ist kein Zufall. Und es hat wieder mit dem Prinzip der Vereinfachung zutun. In einer zunehmend komplexen Gesellschaft hat der Wissenschaftler, als Experte für ein bestimmtes Gebiet, Macht, weil er stellvertretend für uns die Komplexität der Umwelt auf ein erträgliches Maß reduziert. Die Expertenmacht wird dadurch begünstigt, dass das Wissen sich immer weiter spezialisiert, und der Einzelne vom Wissen als Ganzes entfremdet wird. Wissenschaft und Experten haben per se einen hohen Glaubwürdigkeitsfaktor.
Dies färbt auf Verschwörungstheorien ab, die sich auf Wissenschaft und Experten berufen. Auch die Politik macht sich die Expertenmacht zunutzen, indem sie bestimmte Entscheidungen an Expertenkommissionen weiterreicht und sich durch die Glaubwürdigkeit der Experten eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung erhofft. Oft verweisen Politiker bei ihren Entscheidungen auf wissenschaftliche Studien.
Unterschied zur Kirche
Auch wenn die Verschwörungstheorie wie die Religion Menschen in schwierigen Phasen Halt gibt, treten diese in der konkreten Situation der Krise nicht direkt in Konkurrenz. Die Verschwörungstheorie ist eher ein Ausdruck dafür, dass vielen Menschen schon vor der Krise Glauben und Spiritualität abhanden gekommen sind. Wer Verschwörungstheorien bekämpfen will, steht dabei mit rein logischen Argumenten schnell auf verlorenem Posten, weil er die Emotionalität der Verschwörungserzählungen und ihre Bedeutung als Ersatzmythen nicht verstanden hat.
Das Wirkmuster der Bücher Dan Browns ist aus verschiedenen Gründen - wie gezeigt - so mächtig, dass seine Romane den Lesern eine Deutung der Welt und liefern, die geglaubt wird. Die Überzeugungen, die dadurch geweckt werden, sind für die Kirche aber alles andere als schmeichelhaft. Paradox bliebt aber, dass die Leser die Romane vor allem deshalb glauben, weil sie schon vorher ihre spirituelle Bindung an die Kirche verloren haben und jetzt in der chaotischen Welt Halt an anderer Stelle suchen: Der Verschwörungstheorie. Sie ist Konkurrent der Kirche, sie ist aber erst aus der Schwäche der Kirche heraus entstanden und lässt sich nicht auf rational-intellektueller Ebene wieder aus der Welt schaffen.
Die Chance der Religion
Verschwörungstheorien sind auch Ausdruck der modernen, scheinbar aufgeklärten Welt. Ein Rückgang von Verschwörungstheorien wäre wohl nur auch eine stärkere Rückbesinnung auf die spirituellen Bedürfnisse des Menschen zu erreichen. Hier liegt die Chance der Religion. Sie liefert Erklärung durch Spiritualität und setzt Ereignisse in einen großen Zusammenhang, der auch das Unerklärliche auf seine Weise erklärt. Dabei verzichtet die Religion – und das macht sie für viele Menschen aktuell weniger attraktiv – allerdings auf logische Folgerungen.
Der Halt, den sie gibt, ist dadurch jedoch wahrhaftiger. Sie konstruiert keine Wahrheit, sie lügt nicht, sondern sie greift zurück auf eine Urwahrheit über deren Vorhandensein in jedem Menschen eine Art Restwissen vorhanden ist. Dieses Wissen zu wecken, ist - vielleicht - der Schlüssel zur Entzauberung der Verschwörungstheorie.
Wer erzählend erfahren möchte, wie die Verschw& uml;rungstheorie zwar Erklärung liefert und Halt bietet, dabei aber beliebig und wenig wahrhaftig ist, der sollte den Roman "Das Foucaltsche Pendel" von Umberto Eco lesen. Er schlägt die Verschwörungstheorie mit ihren eigenen Waffen. In der Form der Erzählung, die beim Menschen wie gezeigt große Wirkung entfaltet, beweist er, wie sich historische Tatsachen zu wilden Verschwörungstheorien zusammenfantasieren lassen. Wer dieses Buch gelesen hat, für den sind Dan-Brown-Romane keine Ersatzreligion mehr.
Der Autor Henrik Schmitz ist auf Twitter unter @henrikschmitz erreichbar.