Eine Vielzahl von Büchern und Filmen lebt von dem Klischee, dass Psychiater vor allem deshalb fachlich so brillant sind, weil sie selbst eine Macke haben; oder zumindest ihr Privatleben nicht auf die Reihe kriegen. Paul Kemp, Titelheld dieser neuen Serie von ARD und ORF, macht da keine Ausnahme: Als Mediator ist der Mann eine Koryphäe, aber weil er sich ständig Zeit für die Probleme anderer Leute nimmt, bleibt für die eigene Familie nichts mehr übrig.
Mischung aus Empathie und analytischem Blick fürs Detail
Die Rolle ist toll und Harald Krassnitzer die perfekte Besetzung, vor allem aus Sicht all jener Zuschauer, die ihn zwar als "Winzerkönig" geliebt haben, denen die Sonntagskrimis des ORF aber zu spannend sind. Davon kann in dieser Serie keine Rede sein. Auch wenn die Geschichten emotional durchaus fessel sind: Paul Kemps hellbraune Cord-Anzüge sind ein untrügliches Merkmal für die Gemütsverfassung dieses Mannes, den so leicht nichts aus der Bahn wirft. Harald Sicheritz (zuletzt "Clara Immerwahr"), Regisseur der ersten sechs Folgen, hat mit Krassnitzer schon einige recht packende "Tatort"-Folgen gedreht, aber diesmal fällt die Inszenierung nicht aus dem üblichen Rahmen der Dienstagsserien im "Ersten". Inhaltlich dagegen ist die deutsch-österreichische Koproduktion von durchaus anderem Kaliber, und das nicht allein, weil sich die Autoren Uli Brée und Klaus Pieber den Luxus leisten, in jeder Folge gleich mehrere Geschichten zu erzählen. Brée, der einige herausragende Komödien für Wolfgang Murnberger geschrieben hat ("Die Spätzünder", "Die Abstauber"), ist außerdem bekannt für seine ausgefeilten Dialoge.
Zumindest die beruflichen Erlebnisse des Titelhelden basieren auf wahren Begebenheiten: Paul Kemp wird immer dann um Hilfe gebeten, wenn es darum geht, einen Streit außergerichtlich zu schlichten oder eine Brücke zu schlagen. In der ersten Folge (13 sind es insgesamt) soll er unter anderem verhindern, dass eine Patientin eine Klinik verklagt. Dank Krassnitzers glaubwürdigem Spiel stellt man keinen Moment in Frage, dass sich der Zwist im Nu in Wohlgefallen auflöst; Kemps Erfolg basiert auf einer perfekten Mischung aus Empathie und analytischem Blick fürs Detail. Gleiches gilt für seinen zweiten Fall, der sich unmittelbar an den ersten anschließt, weil der Anästhesist betroffen ist: Er führt seit Jahren ein Doppelleben mit zwei Frauen und ist körperlich wie auch geistig völlig ausgelaugt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Auch hier findet Kemp eine ebenso verblüffende wie überzeugende Lösung. Dass sich seine eigene Frau (Katja Weizenböck) längst von ihm entfremdet und ein Verhältnis mit dem Nachbarn hat, ist ihm allerdings verborgen geblieben.
Das Gewerbe des Vermittlers ist in Österreich und der Schweiz deutlich stärker verbreitet als in Deutschland und dort sogar gesetzlich vorgesehen. Vielleicht trägt die Serie ja dazu bei, dass sich die außergerichtliche Streitschlichtung auch hierzulande stärker durchsetzt; das wäre ebenso wünschenswert wie weitere Geschichten über die Erlebnisse von Paul Kemp.