Ein zweites Mal Opfer

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Ein zweites Mal Opfer
Sexuelle Gewalt: Wenn Täter und Gesellschaft Schuld umkehren
Zu kurzer Rock, zu viel geflirtet: In unserer Gesellschaft werden Betroffene von sexuellem Missbrauch nicht selten zu Tätern erklärt. Psychologen sprechen bei diesem Phänomen von Opferschelte.
22.03.2014
epd
Insa van den Berg

"Du bist eben eine attraktive Frau", hörte Anna Janson (Name geändert), als sie ihrer Familie von den Vergewaltigungen erzählte. Und: "Willst du etwa mich beschuldigen?" So polterte ihr Vater lautstark. Dabei hatte die junge Frau gar nicht ausgesprochen, dass er es war, der sie als vierjähriges Mädchen missbrauchte. "Alle im Raum wussten es, ohne dass ich das noch sagen musste", erinnert sich die 28-Jährige. Dennoch reichte die allgemeine Aussage, Opfer geworden zu sein - um zum Täter zu werden, zum Zerstörer des Familienfriedens.

###mehr-artikel###"Durch das Aussprechen eines Tabus macht das Opfer sich in den Augen des Täters schuldig", erklärt der Leipziger Psychotherapeut und Traumaexperte Ralf Vogt das Phänomen, das er und seine Kollegen Opferschelte nennen. Die Opfer trügen selbst die Verantwortung für die Geschehnisse, werde dann argumentiert, um sich von der eigenen Schuld reinzuwaschen.

"Ich habe nicht angezeigt, weil?"

Laut einer neuen EU-Studie ist in Europa eine von 20 Frauen vergewaltigt worden, oftmals im familiären Umfeld. Nur jede vierte von ihnen meldete die Straftat der Polizei. Warum? Opferschutzverbände verweisen auf Angst vor dem Täter, dem Prozess oder Scham vor Freunden und Familie.

Wie viele von ihnen der Schuldumkehr ausgesetzt werden, darüber gibt es keine konkreten Zahlen. Schätzungen zufolge jedoch wird jedem siebten Opfer nicht geglaubt. In 14 Prozent der Fälle sei den Betroffenen die Verantwortung für die Tat zugeschoben worden, lautete 2012 das Ergebnis einer Umfrage im Rahmen der Social-Media-Kampagne "Ich habe nicht angezeigt, weil?"

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"Durch die Schuldzuweisung werden die Betroffenen zum zweiten Mal Opfer", sagt der Psychiater Georg Schomerus von der Universität Greifswald, der zur Stigmatisierung psychisch Kranker forscht. Deshalb hielten viele ihre Erfahrungen geheim, mit dem Risiko, ein starkes Trauma zu entwickeln - das indes durch eine frühzeitige Behandlung abgemildert werden könne.

500 Kilometer vom Elternhaus entfernt

Seit zehn Jahren lebt Anna Janson 500 sichere Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt. Seit fünf Jahren geht sie zu einem Therapeuten. Die Drohungen und Verleumdungen ihres Vaters - "Du willst es doch auch" - haben ihrem Selbstwertgefühl geschadet. Durch die Therapie fand sie schließlich die Kraft, sich emotional von ihrer Familie und deren Vorwürfen zu distanzieren.

Für ihre Eltern gilt sie als schwierig. Zu Familienfesten wird sie nicht mehr eingeladen. Anna habe ihren Familienangehörigen verboten, dass sie voneinander hören oder sich sehen. "Ich habe darum gebeten, statt anzurufen, Briefe zu schreiben", sagt die junge Frau.

Täter verteidigen alte Machtsysteme

"Von den Tätern wird auch hinter dem Rücken der Betroffenen Stimmung gemacht über deren angebliche Hysterie oder das unangepasste Verhalten", weiß Traumatherapeut Vogt. Dadurch sollen - auch nach außen - alte Machtsysteme erhalten werden. 

###mehr-links###Schweigen will Anna Janson nicht mehr. In ihrem Freundeskreis findet sie Gelegenheit, sich anzuvertrauen. Nicht immer traf sie dabei auf so viel Verständnis wie in ihrer neuen Ersatzfamilie. "Als ich meinem vorigen, langjährigen Partner von der Aufarbeitung meiner Vergangenheit erzählte, fragte er, "wie ich mich bloß erdreiste, meinen netten Eltern das anzutun". Die Fassade hatte ihn geblendet. 

"Die Gesellschaft ist nicht reif für alle Wahrheiten", meint Ralf Vogt vom Trauma-Institut Leipzig. Außenstehende zweifelten am Wahrheitsgehalt mancher Offenbarung, weil sie durch die Grenzen des menschlich Vorstellbaren nicht fassen könnten, was passiert ist. "Wenn dann einer stottert, einen roten Kopf bekommt, dann meinen viele, er lügt oder übertreibt."