Markschies: Was wir von den Urchristen lernen können

Foto: epd-bild/Norbert Neetz
Christoph Markschies nahm als einer von rund 100 Pfarrern in Wittenberg an einer Auslandspfarrkonferenz teil.
Markschies: Was wir von den Urchristen lernen können
Müssen wir uns von Dogmen des christlichen Glaubensbekenntnisses verabschieden? Geht jetzt, nach 1.700 Jahren, die "konstantinische Ära" einer reichen und staatsnahen Kirche zu Ende? Diese und andere Fragen beantwortet Christoph Markschies, Professor für Antikes Christentum, im letzten Interview unserer Serie "Wie wollen wir glauben?" zur Kirche der Zukunft. Darin verrät er, warum er mit Sahnetorten auf die Leibfeindlichkeit des Kirchenvaters Augustinus reagiert - und warum Weihnachten ein heikles Fest ist.

Herr Professor Markschies, was fasziniert Sie am antiken Christentum?

Christoph Markschies: Es gab damals in mancher Hinsicht eine uns vergleichbare Situation: In einer allgemeinen Periode von krisenhaften Erscheinungen – Migrationsbewegungen, Zusammenbruch des bisherigen Solidaritätsgefühls mit dem Staat und so weiter – tritt eine Religion auf und gibt Antworten. Und dann fasziniert mich natürlich auch, dass alles ganz anders ist: In der Antike war das Christentum die wachsende Religion, die alles verändert hat. Heute scheint es – zumindest in unseren Breitengraden – die schrumpfende Religion zu sein.

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Welche geistlichen Schätze aus der christlichen Antike sind Ihnen für Ihr eigenes Glaubensleben wichtig geworden?

Markschies: Die wunderbaren Hymnen des Ambrosius von Mailand! Zu ihnen gehört ja auch "Nun komm, der Heiden Heiland". Dann Texte des Origenes, zum Beispiel über das Gebet. Und immer wieder Augustinus! Weil er mir hilft, mit den schwarzen Seiten meiner Person so umzugehen, dass ich nicht versuche, sie weiß anzustreichen.

Dem Kirchenvater Augustinus wird heute von vielen vorgeworfen, die Leibfeindlichkeit in die Kirche eingeführt zu haben.

Markschies: Für 99,9 Prozent aller antiken Menschen verhielt es sich so, dass eine Hierarchie zwischen Körper und Geist besteht – das geht nicht auf Augustinus zurück. Augustinus hat die Torheit besessen, das an und für sich vollkommen richtig aufgebrachte Thema der Begehrlichkeit, die wir in uns spüren und die uns auch zu Dingen locken will, die wir eigentlich nicht wollen können, immer mit der Sexualität zu explizieren. Er hat dadurch tatsächlich eine unglückliche Verkopplung von "Begierde" und Sexualität zu verantworten.

Und davon müssen wir uns heute mühsam wieder freimachen.

Markschies: Wir sollten uns jedenfalls klarmachen, dass für die Sexualität wie für das Essenwollen, Besitzenwollen, Herrschenwollen – wie für alle unsere Begehrlichkeiten – gilt, dass sie ambivalent sind. Wenn ich politische Macht ausüben will, um die Bildungsverhältnisse zu verbessern, ist das etwas völlig anderes, als wenn ich Macht ausüben will, um mich persönlich zu bereichern. Man sollte nur vermeiden, diese Begehrlichkeit wie Augustinus stets und immer am Beispiel der Sexualität festzumachen. Ich erkläre meinen Studierenden das gern am Beispiel der Sahnetorten, weil da eine gesellschaftliche Konvention herrscht, dass wir doch vermeiden sollten, immer dicker zu werden.

"Die Bischöfe des 4. Jahrhunderts formulierten ihre Theologie gegen den Willen des Kaisers und sind für ihre Positionen ins Exil gegangen"

313 begann mit dem römischen Kaiser Konstantin die Zeit der privilegierten und staatsnahen Institution Kirche. Inwieweit entfernte sich das Christentum dadurch von seinen Wurzeln?

Markschies: Die Kirche des 4. Jahrhunderts war nicht staatsnah. Das ist ein Vorurteil. Die Bischöfe haben eine Trinitätstheologie durchgesetzt, die gegen den Willen der Kaiser formuliert war. Sie sind für ihre Theologie ins Exil gegangen. Und das gilt auch für die ganze nachkonstantinische Kirche. Es gibt authentisches christliches Leben in unterschiedlichen Kirchengestalten.

###mehr-artikel###Jedenfalls werden die Kirchen heute wieder ärmer. Sie müssen ihre Strukturen verschlanken. Bringt uns das den urchristlichen Wurzeln wieder näher?

Markschies: Nein. Nur weil der kirchliche Haushalt schrumpft – wie der vieler Einrichtungen, zum Beispiel auch der Universitäten – sind wir dem Urchristentum noch nicht näher. Denn keiner von uns lebt in einer abgelegenen Provinz des römischen Reiches ohne festen Wohnsitz und festen Beruf, zieht predigend umher und sucht irgendeinen Unterstützer, bei dem er schlafen kann, so wie das die urchristlichen Wandercharismatiker taten. Die antiken Christen lebten in vollkommener Rechtsunsicherheit: Bis 313 wussten sie nicht, ob der nächste Statthalter, der kam, sie verfolgen würde oder nicht.

So krass trifft das auf die heutige Christenheit natürlich nicht zu. Zumindest nicht in Mitteleuropa.

Markschies: Und deshalb sehe ich immer mit gewisser Irritation, dass es so eine Verklärung schrumpfender Haushalte gibt. Wenn Sie das Neue Testament durchsehen, ist es nicht so, dass Jesus von Nazareth Armut an sich verklärt. Das fände ich auch gegenüber Armen eher merkwürdig, wenn Reiche sozusagen "pseudoarm" würden. Die schlimme Armut von Leuten, die wirklich am Morgen nicht wissen, wie sie ihre Kinder am Abend satt bekommen, darf nicht verglichen werden damit, dass eine Kirche die Besoldung ihrer Pfarrer  linear auf Gehaltsstufe A14 runterkürzt. Das würde ich für eine Beleidigung der Armen halten.

Welche Armut meint Jesus?

Markschies: Jesus von Nazareth hat tiefe Sympathie mit den Kindern und den Kleinen. Mit geistlicher Armut meint er eine Haltung, nicht hoch von sich zu denken. Alles als Geschenk von Gott zu erwarten. Von sich zu wissen, dass man – auch wenn man sehr viel hat – doch mit leeren Händen vor Gott steht.

"Die Kirche hält sich für teures Geld Fachleute, deren Aufgabe es ist, die traditionelle theologische Sprache zu übersetzen"

Es gibt heute Theologen, die "notwendige Abschiede" fordern – Abschiede von bestimmten christlichen Bekenntnisaussagen, die der Allgemeinheit nur noch schwer verständlich seien. Welche Bedeutung können diese Entscheidungen antiker Konzilien heute noch für uns haben?

Markschies: Die antiken Theologen halten uns eine Messlatte hin, die wir tendenziell nicht unterschreiten sollten. Die evangelische Kirche hält sich für viel teures Geld Fachleute, deren Aufgabe es ist, diese traditionelle theologische Sprache zu übersetzen. Sie hält sich aber nicht für teures Geld Fachleute, die sagen: "Diese Sprache ist nicht übersetzbar und deswegen sollten ihre Inhalte über Bord geworfen werden." Das würde ich für Denkfaulheit halten.

###mehr-links###Ganz oben auf der Abschussliste der „notwendigen Verabschieder“ steht die Vorstellung, dass durch Christi Blut, durch seinen Tod am Kreuz, die Sünden der Menschen gesühnt würden.

Markschies: Natürlich ist es so, dass die Vorstellung vom Sühnetod Jesu Christi einen inzwischen verschwundenen Blut- und Opferkult voraussetzt – und die Vorstellung, dass es kultische Sühne gibt, also dass ein Bock mit den Sünden des Volkes beladen und in die Wüste geschickt werden soll. Das ist uns heute kaum mehr verständlich zu machen. Aber dafür studieren wir doch Theologie, damit wir Menschen erklären können: Man muss doch nur mal nach Dänemark, Schweden oder Israel fahren, um zu sehen, dass deutsche Schuld des 20. Jahrhunderts konkrete Gestalt haben kann!

Wieso Dänemark und Schweden?

Markschies: Weil dort Menschen sagen werden: "Eure Großväter sind in unser Land eingefallen und waren dort Besatzer." Das steht zwischen Ihnen und den Dänen! Wer der jüdischen Sühnevorstellung vorwirft, die sei für moderne Menschen nicht mehr nachvollziehbar, dem muss man einfach sagen: Setz dich mal in den Schnellzug, fahr nach Kopenhagen und sieh: Dass Schuld etwas Gegenständliches ist, was zwischen Menschen stehen kann und weggeschafft werden muss von jemandem – das ist keine archaische Vorstellung von dummen Menschen aus der Vorzeit, die einem modernen Menschen nicht zugänglich ist. Sondern das ist Lebensrealität. Nur Narren wissen nichts von eigener Schuld. Wer die Sühnetodvorstellung preisgibt, der begibt sich auch der Möglichkeit, von der Vergebung von Schuld und Sünde zu reden. Und das sollte man tunlichst vermeiden, weil das eines der zentralen Elemente des Christentums ist.

"Weihnachten ist eine Mischung aus einem emotional ganz leichten Fest und einem theologisch schwierigen Inhalt"

In wenigen Tagen ist Weihnachten. Wie können wir denn heute glauben, dass Gott Mensch geworden ist?

Markschies: Jesus von Nazareth hat gesagt, dass wir, wenn wir es mit ihm zu tun bekommen, mit Gott selbst zu tun bekommen! Wenn wir das nicht als wahnsinnigen Satz eines Irren werten, sondern als einen Satz, der stimmt, dann müssen wir umgekehrt auch sagen: Der lebendige Gott Israels ist Mensch geworden! Eigentlich ist Weihnachten eine Mischung aus einem emotional ganz leichten Fest – Tannenbaum, schöne Lieder, das rührt das Herz stark an – und einem theologisch ganz schwierigen Inhalt!

Von dem ist am Anfang des Johannesevangeliums zu lesen: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit.“

Markschies: Ja, dieser Text ist meist erst am 25. Dezember dran, wenn kaum einer in den Gottesdienst geht. Damit versucht der Evangelist zu beschreiben, was geschah, damit Jesus von Nazareth so reden konnte, wie er geredet hat. Weihnachten ist, theologisch betrachtet, nicht einfach. Weil es uns zumutet, dass mitten im Alltag unseres Lebens Gott ganz gegenwärtig sein kann. Und natürlich ist es einfacher, wenn er ganz fern ist...

Dem erwachsenen Jesus von Nazareth geht es dann vor allem um das "Reich Gottes". Was meint er mit diesem Wort?

Markschies: Dass man sich mit all seinem Wollen für das große Projekt Gottes in Dienst nehmen lässt.

Was ist dieses große Projekt Gottes?

Markschies: Dass die enge Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch und unter den Menschen, die gestört ist durch unser ständiges Wollen, selber Gott zu spielen, sich endlich wieder herstellt. Dass wir im anderen Menschen den Christus erkennen und mit ihm dementsprechend umgehen – im Angesicht der Ewigkeit. Davon sind wir häufig doch sehr weit entfernt.