Im Istanbuler Stadtteil Üsküdar, direkt am Bosporus, warten rund 150 Menschen im Park unter schattigen Bäumen auf den Ruf des Muezzin. Er beendet im Ramadan das tägliche Fasten. Zeitungen dienen als Sitzunterlage, mitgebrachte Speisen werden auf bunten Decken aneinandergereiht, im Hintergrund das Wasser. Dann ist es soweit: Das Fasten kann gebrochen werden. Alle beginnen gemeinsam zu essen und zu trinken: ein großes fröhliches Picknick unter Gläubigen. Doch die Veranstaltung ist mehr: Zum alternativen Fastenbrechen der türkischen Bewegung "antikapitalistische Muslime" versammeln sich an manchen Abenden im Ramadan Tausende.
###mehr-artikel###Fatma Kurcan Dogan, Sprecherin der Bewegung, sieht darin einen Anklang an Abraham - den Stammvater von Juden, Christen und Muslimen. Dieser, so sagt die junge Frau, habe nicht gerne alleine bei Tisch gesessen. Allah habe ihn gelehrt, dass auch Anders- oder Ungläubige an seiner Tafel willkommen sein sollten.
Die Gruppe will eine Brücke zwischen den verschiedenen Religionen schlagen - und sie fordert mehr Toleranz. Eine Haltung, die ihnen ihn Istanbul viele Freunde macht. Zu ihrem Fastenbrechen erscheint ein Querschnitt der türkischen Gesellschaft. Auch Gewerkschafter und Mitglieder der streng laizistischen ehemaligen Regierungspartei CHP lassen es sich nicht nehmen mitzumachen.
Erstmals von sich reden machten die "antikapitalistischen Muslime", als sie ihre Teilnahme an den Demonstrationen zum 1. Mai vor zwei Jahren ankündigten. In der Türkei ist der 1. Mai mehr als nur der Tag der Arbeit: 1977 waren bei Kundgebungen am Taksimplatz 34 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. Möglicherweise war der Staat nicht unbeteiligt an der Katastrophe. Die Vorfälle konnten nie ganz aufgeklärt werden. 2011 setzten die "antikapitalistischen Muslime" ein Zeichen, indem sie erst das Totengebet für die Opfer sprachen und danach mit Gewerkschaften und Linken an den Maikundgebungen teilnahmen.
Bewegung verschafft sich immer wieder Gehör
Seither verschafft sich die religiöse Bewegung immer wieder Gehör. Unter dem Slogan "Alles Eigentum gehört Allah" fordert sie von der Regierung Rechenschaft, wo immer sie befürchtet, dass Gelder verschwendet oder nicht sinnvoll genutzt werden. Von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan fühlen sich die Mitglieder der Bewegung nicht vertreten, auch wenn er sich gerne als guten Gläubigen präsentiert.
Fatma Kurcan Dogan möchte nicht, dass der Staat sich in ihren Glauben einmischt. Ihre einzige Autorität sei Allah, sagt sie. Erdogan sieht sie in der Tradition aller türkischen Regierungschefs: "Da hat der Prügel doch nur die Hand gewechselt", winkt sie ab. Ähnlich sieht das Zeynep. Die junge Architektin sympathisiert mit den "antikapitalistischen Muslimen", seit Erdogan die Demonstranten vom Gezi-Park beschuldigt hat, eine in eine Krankenstation umgewandelte Moschee mit Schuhen betreten zu haben. "Da waren Verletzte, und die Leute haben sie verarztet. Das hat doch mit unserer Religion nichts zu tun, wenn der Ministerpräsident den Helfern auf die Füße schaut. Die Moschee ist doch nur ein Gebäude, beim Islam steht der Mensch im Mittelpunkt."
"Wurden die ganze Zeit belogen"
Bis spät in den Abend sitzen die Menschen auf ihren Zeitungen, reichen die Schüsseln mit Speisen herum und kommen ins Gespräch. "Wir wurden die ganze Zeit belogen. Von den Medien, von der Regierung. Jetzt lassen wir keinen Spalt mehr zwischen uns drängen und hören uns gegenseitig zu", sagt Zeynep. Eben ganz im Sinne Abrahams, der die drei großen Religionen verbindet - und dessen Abneigung, alleine zu essen auch nach 4.000 Jahren noch die Menschen eint.