"Wir sind keine Minderheit", rufen wütende Demonstranten in Ramadi, rund 100 Kilometer westlich von Bagdad. Tausende Sunniten im Irak protestieren seit Dezember fast täglich gegen die schiitisch geführte Regierung. Besonders brisant ist die Situation in Anbar, der größten Provinz des Landes. Sie gilt als Zentrum des blutigen sunnitischen Aufstandes, der nach der Invasion der USA und anderer Länder 2003 seinen Anfang nahm.
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Am 20. März vor zehn Jahren begann der Irak-Krieg. Ramadi war neben Falludscha Schauplatz der heftigsten Kämpfe zwischen den Aufständischen und den US-Soldaten. Heute verlangen die Demonstranten in den sunnitischen Gebieten offen den Rücktritt von Ministerpräsident Nuri al-Maliki und dessen mehrheitlich schiitischer Regierung. Sie werfen ihnen vor, Sunniten systematisch zu diskriminieren und zu unterdrücken.
Ausgelöst hatte die neue Protestwelle die Festnahme von zehn Leibwächtern des bisherigen Finanzministers Rafai al-Essawi, eines Sunniten, der aus Anbar stammt. Anfang März erklärte Al-Essawi in Ramadi demonstrativ seinen Rücktritt - und wurde dafür von Tausenden sunnitischen Regierungsgegnern gefeiert. Er galt bis dato als einer der wichtigsten sunnitischen Politiker in der Regierung.
Schiitische Mehrheit
15 Monate, nachdem die letzten US-Truppen den Irak verlassen haben, droht der Konflikt zwischen den beiden muslimischen Glaubensrichtungen das Land weiter zu destabilisieren. Die neue Eskalation blutiger Gewalt könnte zum Zerfall des Iraks führen. Ein Ende der Auseinandersetzungen ist nicht in Sicht.
Den meisten Schätzungen zufolge sind die Mehrheit der 33 Millionen Iraker Schiiten - und zwar 65 Prozent der Bevölkerung, während Sunniten nur gut 30 Prozent ausmachen, die sich zudem noch aus verschiedenen Ethnien wie Arabern, Kurden oder Turkmenen zusammensetzen. Viele Sunniten bestehen aber darauf, keine Minderheit zu sein, und bezeichnen anderslautende Schätzungen als Märchen der Amerikaner.
Obwohl Schiiten und Sunniten Muslime sind, bestehen zwischen den beiden Hauptrichtungen des Islams wichtige Unterschiede. Schiiten verehren Heilige wie die Nachfolger der Familie des Propheten Mohammed. Diese Praxis steht im krassen Gegensatz zum strengen, sunnitischen Islam der Wahabiten saudi-arabischer Prägung, der solche Praktiken strikt ablehnt. Radikale Sunniten sehen Schiiten trotz der gemeinsamen religiösen Tradition als Ungläubige an. Der Konflikt im Irak hat an Schärfe noch zugenommen, seitdem der blutige Bürgerkrieg in Syrien immer mehr von Extremisten dominiert wird, die schiitische und sunnitischen Bevölkerungsteile gegeneinander aufbringen.
Amerikaner unterschätzten Rolle der Religion
Im Irak überlagern sich religiöse, ethnische, soziale und politische Konflikte, die schwer zu durchschauen sind. Vielfach wurde die Rolle der Religion unterschätzt. So hatten amerikanische Kriegsplaner angenommen, dass die Schiiten dankbar für ihre Befreiung sein würden - nachdem sie jahrzehntelang unter dem mehrheitlich sunnitischen Regime von Saddam Hussein gelitten hatten. Doch umso erstaunter war man im April 2004 - ein Jahr nach Beginn des Krieges - als sich an der großen sunnitischen Moschee von Bagdad 200.000 Menschen versammelten, um gegen die amerikanische Besatzung zu protestieren. Sunniten und Schiiten demonstrierten vereint gegen einen gemeinsamen Feind - Amerika.
Auch islamistische Terrorgruppen wie die Al-Kaida verstanden es rasch, die Proteste gegen die westliche Besatzung zu islamisieren und zu radikalisieren. Die Opposition gegen die ausländischen Truppen wurde so ein Kampf gegen die Ungläubigen. Das Vakuum, das nach Saddam Husseins Sturz entstanden war, füllten nicht wie erhofft die liberalen, westlich orientierten Kräfte, sondern islamistische Extremisten. Der Aufstieg religiös-militanter Kräfte im Zuge des Krieges hat das Land tief gespalten. Auch der Blutzoll war hoch: Als die Amerikaner im Dezember 2011 ihre letzten Soldaten abzogen, waren Hunderttausende Tote zu beklagen, womöglich mehr als eine Million. Die Schätzungen gehen weit auseinander.