In der Jahreslosung für 2013 heißt es: "Wir haben hier keine bleibende Stadt". Was für ein Gefühl ist es, tatsächlich in einem Dorf zu wohnen, das nicht bleiben wird?
Mathias Berndt: Es ist natürlich für die Menschen hier etwas schockierend gewesen, diese Jahreslosung zu lesen, denn wenn einem die bleibende Stadt genommen werden soll, die man sich selbst bereitet hat, dann fühlt man sich betrogen um das, was man sich erarbeitet hat.
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Können Sie beschreiben, was die Menschen in Atterwasch, Grabko und Kerkwitz mit dem Abriss ihrer Dörfer verlieren werden – über die materiellen Dinge hinaus?
Berndt: Sie werden nach meinem Wissen und nach meiner Hoffnung nichts verlieren, sondern es wäre so, wenn der neue Tagebau käme. Wir setzen alles daran, diesen neuen Tagebau zu verhindern - und damit auch die Umsiedlung und damit auch den Verlust der Heimat.
Also frage ich im Konjunktiv: Was würden sie verlieren, wenn sie umgesiedelt würden?
Berndt: Es wäre so, als wenn einem Baum die Wurzeln abgeschnitten würden. Alles, was sie an Kraftquelle, an Heimat, an Identität haben, das würde ihnen genommen werden. Und sie müssten dann wie Flüchtlinge neu woanders ihr Leben aufbauen. Meine Eltern stammten aus Breslau, waren Flüchtlinge nach dem Krieg. Sie haben den Verlust ihrer Heimat bis zu ihrem Tod nicht verwunden. Wir haben - Gott sei Dank! - keinen Krieg.
Kann man den Verlust der Dörfer nicht ersetzen in Neu-Atterwasch, Neu-Grabko und Neu-Kerkwitz?
Berndt: Ich möchte es gern vergleichen damit, dass man sagen kann: Herr Berndt, Ihre Frau, die kann man doch ersetzen, nehmen Sie sich doch 'ne andere. Natürlich – materiell gesehen geht das. Aber vom ideellen, vom seelischen Standpunkt her ist es schlicht und einfach unmöglich, die Heimat zu ersetzen.
Beobachten Sie gesundheitliche oder psychische Probleme bei den Menschen?
Berndt: Die Menschen werden entweder aggressiv gegeneinander oder auf andere, auf einen Konzern oder auf eine Regierung, die mit einem so etwas macht, oder auf einen Gott, der so etwas zulässt. Oder sie werden depressiv, was bei einer weitaus größeren Zahl der Fall ist. Sie sagen: 'Es hat ja doch alles keinen Sinn. Schon die Nazis haben mit uns gemacht, was sie wollten, und die Sozis haben's auch gemacht, und jetzt wo wir dachten wir haben die Freiheit, da machen sie mit uns ja auch, was sie wollen. Es hat alles keinen Sinn.' Die Lebensqualität sinkt ganz entscheidend und schlimm.
Inwieweit belastet der drohende Abriss der Dörfer die Dorfgemeinschaft?
Berndt: Die Dorfgemeinschaft wird belastet dadurch, dass ihnen gesagt wird: 'Alles das, was ihr habt, wird aufgewogen in Geld, und dieses Geld könnt ihr dann in einen Neubau anlegen.' Insofern wird das, was eine Dorfgemeinschaft ausmacht, dass es nämlich einen Zusammenhalt gibt und dass man sich gerade dieses Lebens freut, davon berührt.
Ist die Dorfgemeinschaft gespalten? Gibt es Menschen, die sagen: 'Okay, wir nehmen das Geld', und andere, die um jeden Preis in unseren Häusern bleiben wollen?
Berndt: Ja natürlich, diese Spaltung gibt es - wobei der Teil, die sagen: 'Cash auf die Hand', und weg wären sie, der weitaus kleinere Teil ist. Die meisten Menschen - ich würde sagen über 90 Prozent - sind sich darin einig: Wenn es ginge, würden wir alles daran setzen, dieses unser Dorf zu erhalten.
"Die Kirche im Dorf ist für die Menschen hier identitätsstiftend."
Auch zwei Kirchen würden – falls es dazu kommt - zerstört. Die in Atterwasch ist mehr als 700 Jahre alt. Was bedeutet der Abriss einer Kirche für die Gemeinde?
Berndt: Die Kirche im Dorf ist für die Menschen hier identitätsstiftend. Ob sie zur Kirche gehören, ob sie sich als Christen bekennen oder nicht, das spielt keine Rolle. Wir haben das gemerkt, als unsere Kirche restauriert wurde und wir, noch in DDR-Zeiten, das Dach neu decken mussten, wie alle Menschen - vom Parteisekretär bis zum Gemeindekirchenratsmitglied - Hand angelegt und geholfen haben. In dieser Kirche sind – wenn nicht sie selbst – dann ihre Eltern und Voreltern getraut, getauft, konfirmiert, zum ganz großen Teil auf dem Friedhof hier beerdigt worden. Diese Identität würde ihnen genommen werden. Sie ist auch nicht ersetzbar, indem man eine neue Kirche baut. Das ist so ein wichtiger Teil! Hier werden den Menschen wirklich die Wurzeln abgeschnitten.
Sie wohnen in Atterwasch und waren dort Gemeindepfarrer. Können Sie überhaupt anderen Menschen seelsorgerlich beistehen, wenn Sie selbst betroffen sind?
Berndt: Ja, ich glaube gerade dadurch. Weil ich mich in ihre Lage hineinversetzen kann. Ich kann sowohl die verstehen, die Angst haben ihre Arbeit zu verlieren, als auch die verstehen, die Angst haben Haus und Hof zu verlieren, als auch die verstehen die sich hier nicht so verwurzelt fühlen - ich bin ja auch kein eingeborener Atterwascher - die sagen: 'Cash auf die Hand und weg bin ich'.
Was tun Sie als Seelsorger konkret? Sie sind ja für diese Aufgabe freigestellt. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Berndt: Mein Arbeitsalltag bezieht sich vor allen Dingen – neben Gottesdiensten und Amtshandlungen – darauf, die Menschen zu besuchen, mit ihnen zu reden und ihnen das Gefühl zu geben: Du bist nicht von Gott und allen guten Geistern verlassen, sondern es gibt Menschen, die hier zu dir halten. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die, dass ich versuche, die Menschen in Gemeinschaft miteinander zu bringen und ihnen zu vermitteln: Es lohnt sich, miteinander an der Hoffnung festzuhalten, dass dieses Dorf, dass diese unsere Heimat, unsere Landschaft, die Schöpfung Gottes, erhalten bleibt.
"Alles kommt auf dieses Leben hier an, um in der zukünftigen Stadt auch wirklich anzukommen."
Was gibt Ihnen Hoffnung, dass der Tagebau Jänschwalde Nord noch verhindert werden kann?
Berndt: Zum einen gibt es eine grundsätzliche Hoffnung. Ich bin der Meinung, wenn Gott mich an eine Stelle stellt und dann so eine Bedrohung eintritt, dass das seine Bedeutung hat, und ich sehe die Bedeutung darin, diesen konziliaren Prozess hier zu bestärken: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Das ist die eine Seite der Hoffnung. Die andere Seite der Hoffnung ist die aktuelle Entwicklung, wo wir ja deutlich sehen, dass es eine Energiewende gibt, einen Schub hin zu den Erneuerbaren.
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Da muss man sich fragen, ob es denn wirklich zeitgemäß ist, Menschen noch umzusiedeln nach einem Gesetz, das die Nazis für die Kriegsführung so hergerichtet haben, oder ob es nicht sinnvoll ist zu sagen: Alle Möglichkeiten werden dazu genutzt, hier einen neuen Tagebau mit Umsiedlungen für ein neues Braunkohlekraftwerk zu vermeiden. Wenn ich mir die Entwicklung ansehe, gibt mir das eine ganze Menge Hoffnung zu sagen: Ein neues Braunkohlekraftwerk und ein neuer Tagebau sind nicht nötig, sondern das ist auch auf intelligentere Art mit den Möglichkeiten unserer Zeit zu schaffen. Stromerzeugung aus Braunkohle ist über 100 Jahre alt. Ein Braunkohlekraftwerk arbeitet heute mit einer Effizienz von ca. 35 Prozent, das muss man sich mal vorstellen, dass 65 Prozent einfach in die Luft verpulvert werden. Soll das denn immer so weitergehen?
Ich komme nochmal auf die Jahreslosung zurück. Der zweite Teil lautet: "… sondern die zukünftige suchen wir". Ist das ein Trost für Sie?
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Berndt: Ja, das ist ein Trost, aber er betrifft nicht speziell unsere Situation. Die zukünftige Stadt, die Gott für uns schafft und nicht wir selbst machen können, das ist die Wohnung Gottes, die suchen wir und das betrifft alle Menschen christlichen Glaubens. Gott sei Dank sind wir nicht nur auf das angewiesen, was uns vor Füßen liegt, sondern Gott hält uns einen großen Raum bereit. Aber diese zukünftige Stadt Gottes ist auch an die Immanenz, in der wir leben, gekoppelt: Alles kommt auf dieses Leben hier an, um in der zukünftigen Stadt auch wirklich anzukommen. Man muss hier in den 'vorletzten Dingen' alles Mögliche tun, um nach dem Willen Gottes zu leben, denn es ist sozusagen der Anlauf in die zukünftige Stadt.