Warum ist Licht in der dunklen Jahreszeit so wichtig?
Dagmar Hänel: Licht und Dunkelheit als Gegensatzpaar gibt es in ganz vielen Religionen und Kulturen. Licht ist ein Ur-Symbol und wird mit dem Göttlichen in Verbindung gebracht, die Dunkelheit hingegen mit Tod und dem Bösen. Wenn wir uns den Jahreslauf ansehen, erkennen wir, dass unsere Vorstellungen auch immer etwas mit Erfahrungen aus früheren Zeiten zu tun haben. In der hellen Jahreszeit, wenn die Sonne scheint und es warm ist, wächst etwas, man kann draußen sein. Ist Licht überhaupt nicht oder nicht in ausreichender Menge vorhanden, fehlen die Lebensgrundlagen des Menschen: es ist kalt, gefährlich und dunkel. Die dunkle Jahreszeit im Winter hat stets etwas Lebensfeindliches und Unwirtliches. In dieser Zeit hoffen die Menschen auf die Wiederkehr des Frühlings und des Sommers.
Welche Rolle spielen das Brauchtum und das Fest?
Hänel: Bräuche sind sehr wichtig. In allen Kulturen gibt es sie. Sie sind eine Sprache in Form von symbolischen Handlungen. Ob wir das nun Ritual oder Brauch nennen, ist im Prinzip völlig egal. In vielen Bräuchen steht Licht für Zukunftsorientierung, für die Vermittlung von Sicherheit, Wärme und für Leben. Diese wichtige Rolle wird sowohl in säkularen als auch in religiösen Bräuchen benutzt.
"Das neue Jahr beginnt damit, dass das Licht zurückkommt."
Ein säkularer Brauch ist Silvester mit großem Licht-Feuerwerk nachts um Mitternacht am Himmel. Oft wird behauptet, dass damit die Dämonen des alten Jahres ausgetrieben würden. Das ist in inzwischen klar wiederlegten mythologischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zu verorten – also einfach gesagt relativer Käse. Vielmehr ist Silvester ein Zeichen dafür, dass etwas Neues beginnt. Das neue Jahr beginnt damit, dass das Licht zurückkommt, dass es heller wird. Lichterraketen demonstrieren den Abschluss des alten Jahres.
Welches Fest, welcher Brauch erwartet uns als nächstes?
Hänel: Das ist Mariä Lichtmess am 2. Februar. In der Liturgie nennt man das Fest auch die Darstellung des Herrn. Das Licht taucht bereits im Namen von "Mariä Lichtmess" auf. Das Fest geht auf einen jüdischen Brauch zurück, der besagt, dass Frauen nach der Geburt eines männlichen Kindes vierzig Tage unrein seien. Nach diesen vierzig Tagen sollten die Frauen in den Tempel gehen, um dort sich und ihr Kind zu zeigen. In der katholischen Kirche endete früher mit Mariä Lichtmess die Weihnachtszeit: die Zeit der Geburt war vorbei, das eigentliche Leben fing jetzt erst an. Mit diesem Fest wird das göttliche Kind zum ersten Mal der Öffentlichkeit in seiner besonderen Rolle präsentiert. Beim Licht spielen Reinheitsvorstellungen eine Rolle, Kerzenprozessionen und Kerzensegnungen werden gefeiert. Lichtmess ist auch der Tag, an dem in der katholischen Kirche Kerzen gesegnet werden, die das ganze Jahr über für alle möglichen Gelegenheiten Verwendung finden, sei es im Todesfall oder auch bei Gewitter.
Wenn Sie auf die evangelische Liturgie blicken. Welche Bedeutung bekommt da das Licht im Gottesdienst?
Hänel: Im evangelischen Gottesdienst ist die Symbolik des Lichtes im Prinzip die gleiche wie auch im katholischen Gottesdienst. Das Licht steht für das Göttliche und erhält im menschlichen Leben und im Alltag eine Bedeutung. Im Evangelischen wird in manchen Gemeinden weniger Wert auf das Symbol im Allgemeinen gelegt, stattdessen liegt der Schwerpunkt auf der Predigt und dem Wort. Ich glaube, dass sich das auch im Evangelischen gerade ein bisschen ändert. Die Kerze auf dem Abendmahlstisch ist mir aus vielen evangelischen Kirchen bekannt; das ist der zentrale Ort, an dem etwas Besonderes stattfindet. Allgemein stellen wir in unserer Gesellschaft eine starke Hinwendung zu Ritualen, Bräuchen und Symbolen fest. Die Menschen scheinen diese symbolischen Ausdrucksformen zu brauchen.
Dunkelheit wirkt sich auf die menschliche Psyche aus: Welche Bewältigungsstrategien haben Menschen entwickelt, um in keine Winterdepression zu verfallen und gut durch die Dunkelheit zu kommen?
Hänel: Blickt man in die Vergangenheit, können wir sehen, dass das ganze Jahr im europäischen Raum stark von Festen und Bräuchen geprägt war. Im Winterhalbjahr wurde viel mehr gefeiert, als im Sommerhalbjahr, weil ganz einfach mehr freie Zeit vorhanden war. Das Arbeitsjahr der Landwirtschaft ging im November dem Ende entgegen und fing erst im Februar wieder an. Los ging die von schwerer Feldarbeit freie Zeit mit Sankt Martin, über die Adventszeit, Nikolaus, die Weihnachtszeit bis hin zur Fastnacht und Karneval. Oftmals wurde ausgelassen in Gemeinschaft mit Essen und Alkohol gefeiert. Die Feste waren sehr wichtig und hatten was sehr stark Lebensbejahendes und Gemeinschaftsstiftendes.
"Wir können uns die Dunkelheit von damals heute überhaupt nicht mehr vorstellen."
Wir können uns den Winter von damals heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Diese Realität von absoluter Dunkelheit und Kälte, die der Winter im ländlichen Raum noch im 19. Jahrhundert gehabt hat, ohne Lichter, außer Kerzen, die in Häusern brannten oder Feuern, die man hatte. Licht wurde überlebenswichtig. Abends versammelte man sich um das Feuer. Da wurde erzählt und geredet und die Frauen haben gesponnen oder Handarbeiten gemacht. Licht war teuer und kostbar und wurde in Gemeinschaft genossen und zelebriert. Menschen bringt das gut über eine Winterdepression hinweg, wenn sie mit anderen Menschen zusammen sind, kommunizieren und eben auch gelegentlich mal miteinander feiern.
Gibt es im Umkehrschluss im Sommer zur hellsten Jahreszeit Feste oder Bräuche, wo Dunkelheit bedeutsam wird?
Hänel: Ein Stückchen schon. Wenn wir uns typische Sommerfeste ansehen, die man privat feiert, finden diese immer am Abend und bis in die Nacht hinein statt. Wenn es dunkel wird, zünden wir Kerzen an, hängen Lampions in die Bäume. Warmes Licht lässt vieles heimelig und schön erscheinen. In einer Sommernacht kann man die Dunkelheit auch deutlich besser aushalten, weil es eben nicht ganz dunkel und auch nicht so kalt ist. Es ist wirklich ambivalent: Aber im Sommer schätzen wir die Dunkelheit und feiern besonders gerne in ihr.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 1. Februar 2013 auf evangelisch.de